Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Manara Platz, Ramallah

Von Uri Avnery, 13.01.2007

ES WAR Mord am helllichten Tage. Soldaten einer Undercovereinheit, als Araber verkleidet, begleitet von gepanzerten Fahrzeugen, Bulldozern und Kampfhubschraubern überfielen das Zentrum von Ramallah. Ihr Ziel war es, einen Fatahmilitanten, Rabee Hamid, zu töten oder gefangen zu nehmen. Der Mann wurde verwundet, es gelang ihm aber zu fliehen.

Wie immer war der Platz voller Menschen. Der Manara-Platz ist das Herz Ramallahs, voller Leben, von Menschen zu Fuß und in ihren Fahrzeugen. Als den Leuten klar wurde, was da vor sich ging, fingen sie an, Steine auf die Soldaten zu werfen. Und diese antworteten mit einer wilden Schießerei in alle Richtungen. Vier Passanten wurden getötet, mehr als 30 verletzt.

Die routinemäßig verlogene Presseveröffentlichung der Armee meldete, dass die vier Leute bewaffnet gewesen seien. Tatsächlich? Der eine war ein Straßenverkäufer mit dem Namen Khalil Al-Bairouti, der gewöhnlich an diesem Platz heiße Getränke von einem kleinen Karren verkauft. Ein anderer war Jamal Jweelis aus Shuafat, nahe Jerusalem, der nach Ramallah gekommen war, um neue Kleider und Süßigkeiten zu einer Verlobungsfeier seines Bruders zu kaufen, die am nächsten Tag sein sollte. Als er hörte, dass sich Bulldozer auf der Straße näherten und Autos zermalmten, eilte er aus dem Laden, um seinen Wagen in Sicherheit zu bringen.

Das geschah vor neun Tagen. Eine “Routine”-Aktion wie viele andere, die in den besetzten Gebieten fast täglich passieren. Aber diesmal gab es internationalen Krach, weil genau an diesem Tag Ehud Olmert dabei war, sich mit dem ägyptischen Präsidenten Husni Mubarrak in Sharm-el-Sheik zu treffen. Der Gastgeber war zutiefst beleidigt. Verachten die Israelis ihn so sehr, dass sie in den Augen seines Volkes und der ganzen arabischen Welt so viel Schande über ihn bringen? Am Ende des Treffens drückte er in Olmerts Gegenwart in klaren Worten seine Wut darüber aus. Der stammelte nur ein paar nichts sagende Worte der Entschuldigung.

In Israel begann das übliche Spiel des “Eimer-Weiterreichens” (wörtlich: “den eigenen Hintern zu decken”). Wer war verantwortlich? Wie gewöhnlich irgendjemand ganz unten in der Befehlshierarchie. Die Leute des Ministerpräsidenten hatten den Verdacht, dass der Verteidigungsminister Amir Peretz dahinter steckte, um Olmert ein Bein zu stellen. Peretz leugnete, irgendwelche Kenntnisse im voraus davon gehabt zu haben - und reichte “den Eimer” an den Generalstabschef weiter, was darauf schließen lässt, dass er beide, Olmert und Peretz, hatte zu Fall bringen wollen. Der Kommandeur gab die Verantwortung weiter an den Generalstabschef der Mittelfront, Yair Naveh, einen Kippa tragenden General, der für seine Brutalität und seine extrem rechten Ansichten bekannt ist. Am Ende entschied man, dass es irgendein Offizier weiter unten in der Befehlskette war, der die Aktion genehmigte. Die ganze Verantwortung lag auf ihm.

Selbst wenn man all diesen Dementis glaubt - und ich tu´ das keinesfalls - so gibt die Armee ein chaotisches Bild ab, außer Kontrolle, wo jeder Offizier tun kann, was ihm passt.

ZWEI TAGE später besuchten meine Frau Rachel und ich den Platz. Es war am frühen Abend, und mit Unterbrechung nieselte es. Der Manara-Platz war wieder voller Leute. Verkehrsstaus blockierten alle sechs Straßen, die zum Platz führten.

Zacharia, der palästinensische Freund, der uns begleitete, war sichtlich besorgt. Er versuchte, uns davon zu überzeugen, so kurz nach dem Geschehen nicht dorthin zu gehen. Aber es geschah nichts.

Posters mit Arafats Antlitz hing an der Säule mitten auf dem Platz und an einigen Wänden. In einem Minimarkt gab es Fotos von Saddam Hussein. An einem der Wände konnte ein zorniges Graffito gelesen werden: “Wir brauchen eure Hilfe nicht!” (Von euch den Amerikanern? Den Europäern? Oder euch, den Hilfsorganisationen?)

Die vier Steinlöwen, die um die Säule auf dem Platz liegen, sahen für mich verloren und hilflos aus. Einer von ihnen trägt eine Armbanduhr an seinem Vorderbein. Der Designer hatte sich einen Scherz erlaubt und dem Entwurf eine Uhr hinzugefügt, und die Chinesen, die den Auftrag erhalten hatten, die Löwen aus Stein zu arbeiten, machten sie genau nach diesem Entwurf.

Schließlich gingen wir noch in ein Cafe. Während wir dort saßen, den Kaffee genossen und von Einheimischen umgeben waren, wurde es plötzlich stockdunkel. Bevor wir uns ängstigen konnten, zündeten einige Leute um uns ihre Zigarettenanzünder an oder das Handy. Nach wenigen Minuten ging das Licht wieder an.

Auf dem Weg zum Hotel in einer Seitenstraße nahmen wir ein Taxi. Der Fahrer, der uns nicht als Israelis erkannte, sprach die ganze Zeit per Handy mit seinem Bruder auf Arabisch. Seine drei letzten Worte waren: “Yallah. Lehitraot. Bye!”. Yallah: “Los!” (auf Arabisch), Lehitraot: “Bis bald!” auf Hebräisch); Bye: “Auf Widersehen” (auf Englisch).

ALS WIR unseren Freunden in Tel Aviv erzählten, dass wir im Begriff waren, zu einer Konferenz nach Ramallah zu gehen, dachten sie, wir hätten nicht mehr alle Tassen im Schrank. “Nach Ramallah? Und gerade jetzt, nachdem, was dort geschehen ist?”

Die Organisatoren dieser Konferenz, die “Professoren für israelisch-palästinensischen Frieden”, eine internationale Gruppe von Akademikern, zögerten auch. Die Konferenz war zwar schon vor mehreren Wochen festgelegt worden, aber vielleicht wäre es klug, sie um ein oder zwei Wochen zu verschieben? War es vernünftig Dutzende von Israelis nach Ramallah zu bringen, kaum 24 Stunden nach solch einem Mord?

Schließlich entschied man zu Recht, dass dies genau der richtige Zeitpunkt und Ort war, die Konferenz zur angekündigten Zeit stattfinden zu lassen. Die Vertreter von 23 palästinensischen, 22 israelischen und 15 internationalen Organisationen waren für 3 Tage in einem Hotel in Ramallah untergebracht, trafen sich dort, aßen mit einander und diskutierten über das eine Thema, das alle bewegte: Was kann man gemeinsam tun, um die Besatzung zu beenden, die täglich Schrecken verbreitet wie die Mordorgie auf dem Manara-Platz?

Es war sogar aus noch einem Grund sehr wichtig, diese Konferenz an diesem Ort stattfinden zu lassen. Seit dem Mord an Yasser Arafat waren die Verbindungen zwischen israelischen und palästinensischen Friedenskräften auf höherer Ebene dürftig geworden. Anders als Arafat denkt Mahmoud Abbas, dass diese offensichtlich nicht so wichtig sind. Das ist einer der Gründe - einer von vielen - für den Pessimismus, der Teile des Friedenslagers infiziert hat. (Übrigens hat Uri Dan, ein Vertrauter Sharons, nun alle Zweifel ausgeräumt, dass Arafat tatsächlich ermordet worden ist.)

Allein deshalb war es wichtig, dass die Konferenz stattfand. Israelis, Palästinenser und internationale Aktivisten saßen zusammen, schlugen Aktionen vor, die das gemeinsame Ziel betonten. Am zweiten Tag wurde dies noch deutlicher, als die Konferenzteilnehmer sich in mehrere Arbeitsgruppen aufteilten, wo Teilnehmer aus Tel Aviv und Hebron, Nablus und New York, Barcelona und Kfar Sava Ideen für gemeinsame Aktionen austauschten.

Es gab auch einige stürmische Debatten, doch nicht zwischen Israelis und Palästinensern, sondern über Differenzen von Meinungen, die nicht nationalen Linien folgten. Die bedeutendste war: Sollten die Hauptbemühungen Aktionen im Land oder im Ausland gewidmet werden?

Der Vertreter einer israelischen Gruppe behauptete mit Überzeugung, dass man nichts innerhalb des Landes tun könne, dass alle Bemühungen darauf konzentriert werden sollten, die internationale öffentliche Meinung zu gewinnen, auf der Linie des weltweiten Boykotts wie dem, der so erfolgreich gegen Südafrika gewesen war. Dagegen erklärte ausgerechnet ein palästinensischer Aktivist, dass es am wichtigsten wäre, die öffentliche Meinung in Israel zu beeinflussen, ist doch Israel der Besatzer. Auch ich behauptete, dass es das Wichtigste wäre, sich auf Bemühungen innerhalb Israels zu konzentrieren, selbst wenn Aktionen im Ausland auch sinnvoll sein können. Auch bin ich sehr gegen den Gedanken eines allgemeinen Boykotts gegen Israel, weil dieser u.a. die Öffentlichkeit in die Arme der Rechten treiben würde. (Ich unterstütze allerdings den Gedanken eines Boykotts gegen bestimmte Ziele, die klar mit der Besatzung identifiziert werden können, wie die Siedlungen, die Lieferanten für gewisse militärische Ausrüstung, Universitäten, die Filialen in den besetzten Gebieten haben usw.).

EINIGE TAGE später fand eine vergleichbare Konferenz in der Hauptstadt Spaniens statt. Doch gab es einen großen Unterschied zwischen diesen beiden Konferenzen - etwa so wie der zwischen dem Sonnenplatz in Madrid und dem Manara-Platz in Ramallah.

Madrid sah eine Versammlung von respektablen Persönlichkeiten, Mitgliedern der Knesset (einschließlich Unterstützern der Regierung, die für das Blutvergießen in Ramallah verantwortlich sind, unter ihnen ein Vertreter der neo-faschistischen Partei),

zusammen mit Vertretern der palästinensischen Behörde und ihrer Kollegen aus arabischen und anderen Ländern. In Ramallah kamen die Veteranen der Kämpfer für den Frieden zusammen, Leute die ein Dutzend Mal gemeinsam in einer Wolke von Tränengas und Gummigeschossen gestanden sind. Eine Gruppe von Palästinensern und Israelis erschienen

am ersten Tag gemeinsam zu spät, da sie gerade direkt von einer Demonstration in Bilin kamen, wo die Armee an diesem Tag eine Wasserkanone, Tränengas und auch Gummigeschosse eingesetzt hatte.

Die Gäste in Madrid waren mit dem Flugzeug gekommen. Für die Gäste in Ramallah war es viel schwieriger, an ihr Ziel zu kommen. Die Israelis mussten sich mühsam durch die Kontrollpunkte winden, was auf dem Rückweg noch schwieriger war. Israelis - abgesehen von Siedlern - brechen das Gesetz, wenn sie in die besetzten Gebiete reisen. Aber für die Palästinenser war es noch zehn Mal schwieriger, nach Ramallah zu kommen. Ein Gast aus Nablus erzählte uns, dass er nachts um 2 Uhr das Haus verlassen habe, um beizeiten um 11 Uhr die Konferenz zu erreichen. Der Gast aus Tubas, nahe Nablus, verbrachte acht Stunden auf der Straße und an den Kontrollpunkten - viel länger als man für einen Flug von Tel Aviv nach Madrid benötigt.

Über die Madridkonferenz wurde täglich ausführlich in den israelischen Medien berichtet. Die Konferenz in Ramallah wurde nicht mit einem Wort in israelischen Zeitungen, im Fernsehen oder Radio erwähnt - abgesehen von einem Satz in der Klatschkolumne von Maariv, die besagte, Uri Avnery lebe vorübergehend in Ramallah.

DIE MADRID-Konferenz war hauptsächlich als Beweis relevant, dass israelische und palästinensische Politiker nach allem, was geschehen ist, doch zusammensitzen können. Welche Bedeutung hatte das Treffen in Ramallah?

In der Vergangenheit hatte ich an einigen ähnlichen Konferenzen teilgenommen, die keine Früchte trugen. Auch diesmal sind die Hindernisse enorm. Aber mehr denn je ist klar, dass es notwendig ist, gegen die Besatzung anzukämpfen, und dass die Aktion gemeinsam, konsequent und gut durchdacht ausgeführt werden muss.

In fünf Monaten wird die Besatzung 40 Jahre alt - vielleicht das längste militärische Besatzungsregime in der Welt überhaupt. Bei der Konferenz gab es eine allgemeine Übereinkunft, dass alle Kräfte in einer großen öffentlichen Kampagne konzentriert werden müssen, um dieses schändliche Datum zu markieren, die Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeiten der Besatzung zu lenken, auf den Schaden, den diese nicht nur den Palästinensern, sondern auch den Israelis zufügt, um die Grüne Linie wieder ins Bewusstsein der Menschen zurückzubringen, gegen die Straßensperren und die Annexionsmauer und für die Entlassung der Gefangenen auf beiden Seiten. Zu diesem Zweck entschied die Konferenz, “eine israelisch-palästinensisch-internationale Koalition zur Beendigung der Besatzung” zu gründen.

Die Fortsetzung wird von der Willenskraft, dem Mut und dem Engagement aller Friedenskräfte abhängen und ihrer Fähigkeit, auch über Straßensperren, Mauern und Zäune hinweg zusammenzuarbeiten, deren Ziel es u.a. ist, genau solch eine Zusammenarbeit zu verhindern.

Die Zeit drängt. Vielleicht trägt deswegen einer der Löwen auf dem Manara-Platz eine Uhr.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert

Weblinks:

Veröffentlicht am

14. Januar 2007

Artikel ausdrucken