Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Supernanny von der Leyen und die neue Unterschichtsdebatte

Von Andrea Noll - ZNet Kommentar 23.10.2006

"Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung", Artikel 6, Grundgesetz

"Bundesfamilienministerin von der Leyen hat den Aufbau eines ‘Frühwarnsystems’ gegen Kindesmißhandlungen angekündigt: ‘Der Staat muß sich auch besonders um die Kinder kümmern, die auf der Schattenseite des Lebens geboren werden’ (…) Mehrere tragische Fälle von gequälten und verwahrlosten Kindern haben bundesweit in den vergangenen Monaten für Aufsehen gesorgt (…) Die Idee des Frühwarnsystems sei es, daß professionelle Familienhelferinnen und Familienhelfer (…) in Problemfamilien gingen, um vorbeugend und kontinuierlich über mehrere Jahren hinweg Hilfsangebote zu unterbreiten, erklärte die Ministerin. Viele konventionelle Beratungsstellen seien dagegen in der Regel darauf angewiesen, dass die Eltern von sich aus kämen, was diese aber von sich aus oftmals nicht täten". Ein Heimatschutzgesetz der besonderen Art steht uns ins Haus www.welt.de/data/2005/12/30/824526.html ..

Es waren einmal zwei Brüder auf der "Schattenseite des Lebens". Geboren in eine Familie, die Frau von der Leyen als "Problemfamilie" bezeichnen würde: Eltern alkoholkrank, die Kinder vernachlässigt. Das Jugendamt zögerte nicht lange und schritt ein. Die Brüder Alois und Alexander wurden den Eltern entzogen und kamen zu jugendamtlich qualifizierten Pflegeeltern - sie Kinderkrankenschwester, er angehender Walddorfpädagoge. Die Pflegefamilie hatte drei eigene Kinder und ein weiteres Pflegekind namens Andreas, dazu mehrere so genannte ‘Tageskinder’. Das Jugendamt Waiblingen war begeistert von ihrer "Musterfamilie", die einen, so das Jugendamt später, "sehr geordneten, sehr harmonischen Eindruck machte". Die Familie lebte in sehr geordneter, sehr harmonischer Vorstadtumgebung, in einem zweistöckigen Haus in den Weinhängen der sehr geordneten, harmonischen Gemeinde Beutelsbach bei Stuttgart. Es gab einen geordneten, harmonischen Garten, die Kinder hatten jede Menge Spielzeug, durften reiten, Ausflüge machen. Die Pflegekinder waren stets sauber und korrekt gekleidet. Frau von der Leyen hätte ihre helle Freude gehabt. Das "Frühwarnsystem" hatte funktioniert, zwei Kinderseelen waren den Klauen einer fiesen, versoffenen Unterschichtsfamilie entrissen.

Zwei Jahre später, im November 1997. Rettungssanitäter werden in das kleine Häuschen in Weinstadt-Beutelsbach gerufen. Pflegekind Alexander liegt in den letzten Zügen. Sein Gesicht ist greisenhaft, der Körper zum Skelett abgemagert. Mit 5 Jahren wiegt er 7,2 Kilo - soviel wie ein 6 Monate altes Baby. Er ist nicht mehr zu retten. Auch die beiden anderen Pflegekinder sind dem Hungertod nahe. Der 8jährige Andreas wiegt 11,8 Kilo und ist so groß wie ein 4jähriger. 6 Jahre später wird ihm das Stuttgarter Landgericht ein Schmerzensgeld von 25 000 Euro zusprechen ( ‘Fast verhungertes Pflegekind soll Schmerzensgeld bekommen’ ).

War Andreas Grundschullehrern nie aufgefallen, wie abgemagert das Kind ist, wie es sich nach jedem Krümel bückt? Warum legten Kinderärzte und Nachbarn die Hände in den Schoß? Die Pflegeeltern hätten das Verhungern ihrer Pflegekinder geschickt getarnt, rechtfertigen sich später Zeugen vor Gericht. Die verhungernden Kinder hätten stets dicke Pullis getragen. Niemandem kamen Zweifel an der Musterfamilie - vor allem nicht dem zuständigen Jugendamt, das die Kinder den Eltern entzogen und in Obhut genommen hatte. Weil ein System mit sich selbst Blindekuh spielte, musste ein Kind sterben. Die eigenen Kinder der "Musterfamilie" waren übrigens gut genährt. Woran es den Pflegekindern mangelte, war elterliche Liebe. Vielleicht hätten sie diese bei ihren leiblichen Eltern - mit ein wenig staatlicher Unterstützung - finden können? Stattdessen wurden die Kinder entzogen. Nach dem Fall Alexander kamen weitere Fälle von Kindesmisshandlung in Pflegefamilien ans Licht.

Das neue Elterngeld - ein Leckerli für Reiche

Wird man demnächst Neugeborenen in deutschen Kreißsälen ein Preisschild um den Hals hängen: "Ich bin ein 300-Euro-Baby", ich ein "1000-Euro-Baby", ich das Porschemodell "1800"? Manche Kinder scheinen dem Staat jedenfalls mehr wert zu sein als andere. Das neue ‘Elterngeld’, das ab 2007 das bisherige ‘Erziehungsgeld’ ablöst, ist eines der Lieblingsprojekte von Familienministerin von der Leyen. Vorgesehen ist eine rund einjährige Babypause für Mütter - unter sachter Einbeziehung der Väter. Während dieser Zeit wird die Mutter monatlich mit 67% ihres Gehalts der letzten zwölf Monate bezuschusst. Selbst für gut versorgte, vermögende Paare wird die - mehrwertsteuer- und sozialabgabengebeutelte - Allgemeinheit aufkommen müssen. Kürzen wird der Staat bei einkommensschwachen Müttern. Deren bisheriges "Erziehungsgeld" wird von zwei Jahre auf ein Jahr reduziert und mit anderen "Transferleistungen" verrechnet. Das heißt, unterm Strich wird arbeitslosen Müttern oder Minijobberinnen kaum etwas von ihrem ‘Elterngeld’ bleiben. Die reiche Nachbarin hingegen wird ihren Luxuskinderwagen vergnügt durchs Schlaraffenland schieben - auf Kosten der Allgemeinheit. ‘Elterngeld’ ist eine neue Form der Sozialhilfe für Reiche - eine Subventionierung von Paaren, für die Geld ohnehin keine Rolle bei der Familienplanung spielt. SPD-Sozialexperte Lauterbach spricht in diesem Zusammenhang von einer "Kommerzialisierung der Elternschaft". Die Große Koalition stellt das Sozialstaatsprinzip auf den Kopf - nicht mehr einkommensschwache Familien sollen gesellschaftliche Solidarität erfahren, sondern reiche. Wer hat, dem wird gegeben. Es ist das amerikanische Prinzip der Steuergeschenke und Subventionen an die "Haves" und der grausamen Sparorgien gegen die "Have nots".

Die Liebe der einfachen Leute

1983 war das Jahr, in dem Maggie Thatcher zum zweitenmal die Wahlen in Großbritannien gewann. Thatcherismus - das war gleichbedeutend mit dem Abbau des britischen Sozialstaats, der Entmachtung der Gewerkschaften und einer neoliberalen Privatisierungswelle, nach dem Vorbild der Regierung Reagan in Amerika. "Reaganomics" stand für Steuersenkungen für Reiche, Kürzung der öffentlichen Ausgaben, Privatisierungen und hohe Rüstungsausgaben. In Großbritannien waren die Folgen noch mehr Massenarbeitslosigkeit und Armut. Die Jugend rebellierte im Punk und in Straßenkämpfen - ‘Anarchy in the UK’. 1983 war auch das Jahr, in dem der junge britische Soul-Sänger Paul Young eine Liebeserklärung an die britische Unterschichtsfamilie sang: ‘Love Of The Common People’Paul Young: ‘Love Of The Common People’ (The Winstons-Cover, 1983).. Kein Geld für Kleidung, Schuhe eine Busfahrkarte, kein Geld für Essen - man lebt von Lebensmittelgutscheinen - und von der Decke tropft das Regenwasser in die Milch, doch man lebt…

"… the love of the common people,
smiles from the heart of a family man.
Daddy’s gonna buy you a dream to cling to,
Mama’s gonna love you just as much as she can,
and she can."

"Living on free food tickets,
water in the milk from a hole in the roof
where the rain came through.
What can you do?
Tears from your little sister,
crying ‘cause she doesn’t have a dress without a patch
for the party to go.
But you see she’ll get by."

Armes Deutschland - aus Stroh Gold spinnen

Wenn die deutsche Regierung von finanzschwachen Eltern fordert, der Verantwortung für ihre Kinder "gerecht zu werden", klingt das wie die Forderung des Königs im Märchen ‘Rumpelstilzchen’ an die arme Müllerstochter, aus Stroh Gold zu spinnen. ". Zeitgeistlich heuchelt DIE ZEIT mit: "Die Herausforderung besteht darin, die schicksalhafte Verbindung zwischen den Problemen der Erwachsenen und dem Leid ihrer Kinder zu kappen"‘Seelenlos, gnadenlos’ von Susanne Mayer, DIE ZEIT Nr. 43, S.1.. Auf Unterstützung durch den Staat können arme Familien in Deutschland schon lange nicht mehr rechnen. Deutschland gilt als das Land mit der geringsten Bildungsgerechtigkeit in Westeuropa. In Deutschland gehen 84% aller Akademikerkinder auf die Hochschule, aus den Familien ungelernter Arbeiter sind es gerade mal 11%. Mit Einführung der Studiengebühren wird sich dieser Trend - politisch gewollt und gefördert - verstärken. Wenn die Regierung Merkel daher von Investition in Bildung redet - als Allzweckwaffe zur Armutsbekämpfung - klingt das wie purer Hohn. Schulen vergammeln, es fehlen Lehrer. Auch die ehrgeizigen Kinderbetreuungsprogramme von Merkels Familienministerin von der Leyen bleiben Makulatur, solange Ländern und Kommunen das Geld zu deren Umsetzung fehlt.

Frau von der Leyen ist bereit, 10 Millionen Euro für ihren Dschihad gegen Kindesverwahrlosung auszugeben - Geld, das Familien in Deutschland fehlt, vor allem solchen, in denen ein oder beide Elternteile arbeitslos sind. Die PDS, Familienorganisationen, Kirchen und Wohlfahrtsverbände hatten frühzeitig vor einer Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe zu Hartz IV gewarnt: Dies werde eine halbe Million Kinder zusätzlich unter die Armutsgrenze drücken - was die Regierung Schröder/Fischer damals vehement bestritt. Wie sich herausstellt, waren die Warnungen noch untertrieben. Der Armutsforscher Prof. Butterwegge spricht heute von 2,5 Millionen Kindern in Armut. "Die Armut hat sich in Deutschland in den letzten 5 Jahren mehr als verdoppelt", so Butterwegge. Erinnern wir uns an die "Schweinderl"-Debatte - als der damalige SPD-Wirtschaftsminister Wolfgang Clement nicht nur die Sparschweine sondern gleich die ganzen Sparbücher der Kinder von Hartz-IV-Empfängern plündern wollte. Wenn die SPD heute Krokodilstränen über die neue Kinderarmut vergießt, ist dies pure Heuchelei. Die Verarmung eines Teils der Gesellschaft war vorsätzlich und keine unvorhersehbare Nebenwirkung der Hartz-IV-Gesetzgebung - ebenso die vielbejammerte "Unterschicht", die von einer neuen TNS-Studie (im Auftrag der SPD nahen Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin) sozio-archäologisch ausgegraben wird. Die Schaffung eines neuen Prekariats ist jene Großbaustelle, auf der deutsche Regierungen seit Kohl unermüdlich ackern. Ziel ist die Schaffung eines disponiblen Arbeitskräftereservoirs, das der Wirtschaft als Druckmittel zur Entmachtung der Gewerkschaften dienen kann. Es geht um nichts anderes als die gründliche, unwiderrufliche Deregulierung des Arbeitsmarktes, um Lohndumping und die Schleifung der deutschen/europäischen Arbeitsgesetzgebung. Labournet, auf deren Seite sich die TNS-Studie findet www.fes.de/inhalt/Dokumente/061017_Gesellschaft_im_Reformprozess_komplett.pdf ., spricht von der "Entdeckung der Unterschicht durch deren Verursacher".

"Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" Artikel 1, Grundgesetz

DIE ZEIT stellt ‘Die Schuldfrage’‘Die Schuldfrage’ von Uwe Jean Heuser, DIE ZEIT Nr. 43, S. 27.: "Die deutschen Topmanager steigern ihre Bezüge um mehr als zehn Prozent, das Land zählt mehr Vermögensmilliardäre als je zuvor - und am unteren Ende wächst die Armut (…) Spitzenverdiener konnten in den zehn Jahren bis 2004 real durchschnittlich 1,5 Prozent im Jahr zulegen, die mittleren Verdiener um 1,1, Prozent und die Niedrigverdiener um 0,2 Prozent. Rentner erzielen nicht einmal mehr den Inflationsausgleich. Kein Wunder, dass gut 17 Prozent der deutschen Haushalte weniger als 60 Prozent des Netto -Durchschnitteinkommens erhalten - so viele wie in zwanzig Jahren nicht. (…) In keinem Industrieland sind die Chancen der Kinder armer Eltern schlechter als im vereinigten Deutschland (..) All das zeigt: Die Bundesrepublik ist über Jahrzehnte in ein Armutsproblem geschlittert…" Geschlittert? Wir wurden aufs Glatteis geführt. Zero tolerance gegenüber versagenden Familien - auf der anderen Seite unendliche Geduld der politisch Verantwortlichen gegenüber der Wirtschaft. Stichwort "freiwilliger Ausbildungspakt". Auch dieses Jahr wird die deutsche Unternehmerschaft ihrer gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht. 50.000 SchulabgängerInnen 2006 stehen noch auf der Straße - Konsequenz zero. Frau von der Leyen - wo bleibt hier das "Frühwarnsystem", wo die aufsuchenden Kontrolleure für "Problemunternehmen"?

Gerhart Hauptmanns ‘DIE WEBER’, Erster Akt: Die ausgebeuteten Leinenweber liefern ihr Tagwerk beim Fabrikanten Dreißiger ab und empfangen ihren Hungerlohn. Ein achtjähriger Weberjunge bricht unter der Last zusammen. Dreißiger empört: "Fasst mal mit an, wir wollen ihn aufheben. Ein Unverstand ohnegleichen, so’n schwächliches Kind diesen langen Weg machen zu lassen. Bringen Sie mal etwas Wasser, Pfeifer!" Der Junge haucht: "Mich hungert". Der Fabrikant überhört es geflissentlich. Dreißiger: "Es war nichts von Bedeutung. Der Junge ist schon wieder ganz munter (erregt und prustend umhergehend). Es bleibt aber immer eine Gewissenlosigkeit. Das Kind ist ja nur so’n Hälmchen zum Umblasen. Es ist rein unbegreiflich, wie Menschen… wie Eltern so unvernünftig sein können. Bürden ihm zwei Schock Parchent auf, gute anderthalb Meilen Wegs. Es ist wirklich kaum zu glauben. Ich werde einfach müssen die Einrichtung treffen, dass Kindern überhaupt die Ware nicht mehr abgenommen wird". Wie sagte DIE ZEIT noch gleich: "Die Herausforderung besteht darin, die schicksalhafte Verbindung zwischen den Problemen der Erwachsenen und dem Leid ihrer Kinder zu kappen". ‘Seelenlos, gnadenlos’ von Susanne Mayer, DIE ZEIT Nr. 43, S.1.

Der Stein des Sisyphos

Stimmt, in Deutschland ereignen sich Familientragödien. Es gibt Fälle, in denen arbeitslose Familienväter und -mütter keinen Ausweg sehen und den erweiterten Selbstmord vorziehen, um ihrer Familie ein Leben in Armut zu ersparen. Und stimmt, es gibt Fälle, in denen verarmte Eltern ihre Kinder verwahrlosen lassen, weil sie nicht die Kraft aufbringen, den Stein des Sisyphos Tag für Tag den Berg hinaufzurollen. Einige verfallen dem Alkohol oder Drogen. Aber Familientragödien sind kein spezifisches Problem der Mietskasernen und Sozialgettos. Man denke nur an den Selbstmord von Bernhard Bogner vor einem Jahr. Der minderjährige Adoptivsohn des erfolgreichen Unternehmerehepaares Sonia und Willy Bogner hatte sich einsam in sein Jugendzimmer zurückgezogen und erhängt. Bernhard hatte sein Leben vorwiegend in Internaten verbracht. Ein Fall von Wohlstandsverwahrlosung?

"Die Kriminalisten behaupten, die Zahl der getöteten Kinder sei nicht gestiegen. Aus den Sozialämtern aber wird berichtet, dass sich die in Berlin gemeldeten Kindesmisshandlungen in den vergangenen zehn Jahren nahezu verdoppelt haben, von 260 auf 494 Fälle, in Thüringen stieg die Zahl der Maßnahmen zum Schutze gefährdeter Kinder im selben Zeitraum von 402 auf 990 (…) Misshandlung von Kindern gibt es in allen Schichten, aber vor allem an den Rändern der Gesellschaft, wo Arbeitslosigkeit und Depression, Armut und Hoffungslosigkeit grassieren, wo das Leben immer öfter als ein Kampf erscheint, der verloren ist - und man sich von Aufsteigern einer vergangenen Wohlstandsära als "Unterschicht" verhöhnen lassen musste" - schließt die Autorin laiensoziologisch messerscharf‘Seelenlos, gnadenlos’ von Susanne Mayer, DIE ZEIT Nr. 43, S.1.. Man halte fest: Die Zahl der getöteten Kinder habe, laut "Kriminalisten", in den letzten 10 Jahren nicht zugenommen. Was in bestimmten Regionen zunahm, war die Zahl der "gemeldeten Kindesmisshandlungen" bzw. der eingeleiteten "Maßnahmen zum Schutze gefährdeter Kinder". Das heißt, nicht die Zahl der Fälle von Kindesmisshandlung hat zugenommen, sondern das Denunziantentum und die eingeleiteten "Maßnahmen". Was wir erleben ist ein Paradigmenwechsel: Weg von sozialtherapeutischer Unterstützung, hin zu repressiven Maßnahmen - an den sozialen Verwerfungsgrenzen unserer Gesellschaft (und die Grenzer schießen scharf, anstatt zu helfen). Repression ersetzt soziale Gerechtigkeit, Kontrolle die benötigte finanzielle und soziale Unterstützung für Familien in Not.

Aus einem Interview von ZNet-Deutschland mit Noam Chomsky.‘ZNet Deutschland Interview Teil I’ mit Noam Chomsky, Timo Stollenwerk u. Michael Schiffmann www.zmag.de/artikel.php?id=1148 . Einer der Interviewer fragt den Gast aus Amerika: "In Deutschland gibt es sehr wenige Daten über die Reichen…" Chomsky: "Es gibt soziologische Studien über die Armen, aber nur sehr wenige über die Reichen. Das ist unter anderem deswegen so, weil die Reichen nicht sehr auskunftsfreudig sind. Nur Leute, die kaum Möglichkeiten haben, sich zu wehren, lassen einen zu sich ins Haus, um sich befragen zu lassen (…) Wie dem auch sei, die anthropologischen, soziologischen und psychologischen Studien sind meistens Studien über Unterdrückte. Und interessant daran ist, dass man Daten über die Verteilung des Reichtums finden kann, aber wenn man nach Dingen sucht, die mit dieser Verteilung korrelieren, wie z.B. dem Gesundheitszustand, wird es schwierig."

Könnte diese Aussage zum Thema anthropologische, soziologische und psychologische Studien nicht auch auf Statistiken über Kindesverwahrlosung und -misshandlung in Deutschland zutreffen? Auch in reichen Familien und Mittelsstandsfamilien - diesen traditionellen Neurosengärten - wird verwahrlost und körperlich und psychisch misshandelt, nur, dass in den Villenvierteln niemand den Türöffner für Frau von der Leyens Familienkontrolleure drückt.

‘Living on a dream ain’t easy
but the closer the knit the tighter the fit
and the chills stay away.
You take ‘em in stride for family pride.
You know that faith is your foundation.
And with a whole lot of love and a warm conversation -
but don’t forget to pray.
Making it strong were you belong"Paul Young: ‘Love Of The Common People’ (The Winstons-Cover, 1983).

Viele "arme Familien" sind finanzschwach aber sozial stark - wie in Paul Youngs klassenbewusstem Song. Arme Eltern müssen ihren Kindern nie extra sagen, dass sie sie lieben. Sie beweisen es Tag für Tag. Viele arme Eltern sind Alltagshelden: Die alleinerziehende Mutter, die sich das Essen vom Mund abspart, um ihren Kindern den Schullandheimaufenthalt zu ermöglichen, der Vater mit Zweit- und Drittjob, der seinen Kindern mit allen Mitteln die Armutserfahrung ersparen will. Natürlich gibt es Familien, die an ihrem Heroismus scheitern. Bertolt Brecht lässt seinen Galileo sagen: "Wehe dem Land, das Helden nötig hat". Deutschland ist eines der wirtschaftlich erfolgreichsten Länder der Welt. Deutschland gehört zur Gruppe der G8, der reichsten Industrienationen der Erde. Deutschland ist zum wiederholten Male in Folge Exportweltmeister. Und doch hat dieses reiche Land den Heroismus der ‘common people’ nötiger denn je - ein soziales Verbrechen.

Nobelpreisträger Mohammed Junus hat gezeigt, wie man materiell arme Familien empowert - indem man ihnen Geld gibt. Sein Modell der "Dorf-Banken" ist sicherlich nicht auf Westeuropa übertragbar, aber der Nobelpreis an Junus setzt ein Zeichen gegen Neoliberalismus und die Programme des Internationalen Währungsfonds (Sparpolitik der öffentlichen Hand aufkosten der Bevölkerung). In Westeuropa bzw. Deutschland ist seit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme im Osten und auf dem Balkan ein allgemeiner Trend zur Repression erkennbar. Im Falle Deutschland bedeutet das: Außenpolitisch macht sich diese Repression durch ein zunehmendes Primat des Militärischen und aggressive verteidigungspolitische Konzepte bemerkbar. Innenpolitisch werden die Bürgerrechte durch immer neue Polizei- und so genannte "Antiterrorgesetze" unterhöhlt. Auch im privaten Bereich setzt der Staat zunehmend auf Repression und Kontrolle - gelockerter Datenschutz, Telefonüberwachung, Abgleich von Behördendaten - und nun auch noch Frau von der Leyens geplantes "Frühwarnsystem". Angedacht ist sogar ein Rauchverbot für Eltern. (Wie will man das kontrollieren? Etwa durch ein ausgeklügeltes Blockwartsystem nach dem Motto: "Heinz, ich riech’ Zigarettenqualm von ’s Nachbars. Die haben doch ein Kind, ruf schnell die Polizei an!")

Das Peeping-Tom-Syndrom

Die Zivilgesellschaft unter Kontrolle zu bringen, ist Ziel der Politik. Was nicht ausdrücklich erlaubt ist, ist ausdrücklich verboten. Es gibt Städte, in denen es inzwischen schon gebührenpflichtig ist, öffentliche Abfalleimer zu durchstöbern oder in Parks Brennnesseln (als Spinatersatz) zu sammeln. Flächendeckende Videokameras an öffentlichen Orten - nach britischem Vorbild - sind innenpolitisch in Planung. Hinter dem staatlichen Paradigmenwechsel hin zu immer mehr Kontrolle und Repression steckt ein Angstsyndrom. Es ist die Angst der politischen Eliten vor einem Backlash der Zivilgesellschaft, die Angst, die Bürgerinnen und Bürger dieser Gesellschaft könnten die Ohnmacht gegen ihre schleichende Enteignung und Entmündigung überwinden und sich selbst helfen - noch schlimmer, sie könnten gegenorganisieren. Ich weiß nicht, ob die gewerkschaftlich organisierten Demonstrationen vom 21. Oktober in Berlin, Dortmund und Stuttgart ein Schritt in die richtige Richtung waren. In einem sehr ermutigenden Artikel für junge welt online schreibt Oskar Lafontaine: "DIE LINKE fordert daher das Recht auf den politischen Streik, den Generalstreik"‘Für Sozialaufbau’ von Oskar Lafontaine www.jungewelt.de/2006/10-21/001.php .. Das ist ganz sicher ein Schritt in die richtige Richtung. Darüber hinaus ist eine Vernetzung des sozialen Widerstands zwischen Gruppen und Initiativen der Zivilgesellschaft und der Linken dringend erforderlich. Und noch eins: Geben wir den Leyen-Kontrolleuren keine Macht. Spielen wir nicht den staatlichen Hilfskontrolleur, schnüffeln wir unsere Nachbarn in Not nicht aus, sondern bieten wir Hilfe an, empowern wir sie - mitbürgerlich und solidarisch. Es geht um unsere Zukunft - und um die Zukunft unserer Kinder.

 

Quelle: ZNet Deutschland   vom 23.10.2006.

Fußnoten

Veröffentlicht am

25. Oktober 2006

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