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US-Intervention in Venezuela und Lateinamerika

Von Noam Chomsky - Venezuelanalysis / ZNet 13.10.2006

Am 6. Oktober fand am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston eine öffentliche Veranstaltung zum 30. Jahrestag des Bombenanschlags auf ein kubanisches Flugzeug (Flug 455) statt, bei dem 1976 73 Passagiere ihr Leben verloren. Anlässlich dieses Ereignisses fand eine Diskussion mit dem politischen Aktivisten/Analysten Noam Chomsky, dem französischen Gelehrten und Kuba-Spezialisten Salim Lamrani sowie dem Präsidenten der National Lawyer’s Guild, Michael Avery, statt. Thema: die amerikanische Außenpolitik gegenüber Kuba und Lateinamerika, der Fall Luis Posada Carriles und die ‘Cuban Five’.

Im Folgenden Chomskys Antwort auf eine Frage aus dem Publikum:

Frager:

Seit der aktuellen kubanisch-venezolanisch-bolivianischen Integration bzw. Kooperation, schenken die USA diesen Ländern offensichtlich mehr Beachtung. In Venezuela agierende Geheimdienstagenten - welche Agenda könnten diese verfolgen? Wie sehen Sie die Möglichkeit einer Militärintervention der US-Regierung in Venezuela und Bolivien - Bitte um Analyse.

Noam Chomsky:

Guter Punkt. Wie wir wissen, haben die USA bereits einmal einen Militärcoup unterstützt. Durch diesen wurde Präsident Chavez kurzfristig gestürzt. Als Chavez nach kurzer Zeit wiedereingesetzt wurde - und auch angesichts der sehr wütenden Reaktionen aus Lateinamerika - mussten die USA nachgeben. Fast überall in Lateinamerika war die Reaktion sehr wütend. Dort wird Demokratie ernster genommen als bei uns.

Sofort nach dem gewaltsamen Umsturzversuch gegen die venezolanische Regierung verlegten sich die USA auf die Subversion und unterstützten Anti-Chavez-Gruppen. In der Presse heißt man das Unterstützung für pro-demokratische Gruppen gegen Präsident Chavez, so bezeichnen sie das.

Man beachte: Per definitionem gilt es als "demokratisch", gegen den Präsidenten zu sein. Dabei scheint völlig irrelevant, dass laut bester Umfragen (in Lateinamerika existieren sehr gute Umfrage-Agenturen, die quer über den Kontinent regelmäßige Befragungen zu solchen Themen durchführen) die Unterstützung für die Demokratie in ganz Lateinamerika schwindet - das heißt, nicht die Unterstützung für Demokratie an sich, sondern für demokratische Regierungen. Dies aus gutem Grund, denn die Regierungen hängen mit jenen neoliberalen Programmen zusammen, die die Demokratie unterminieren - Programme des Internationalen Währungsfonds bzw. des (amerikanischen) Schatzamtes. Daher geht die Unterstützung für die Regierungen zurück. Es gibt Ausnahmen, eine davon ist Venezuela.

Seit 1998, seit der Wahl von Chavez, hat die Unterstützung für die gewählte Regierung rasant zugenommen. Heute genießt sie in Lateinamerika die mit Abstand größte Unterstützung. Chavez ging aus mehreren Wahlen - sie wurden als fair und frei anerkannt -, und mehreren Referenden siegreich hervor. Dennoch sei er ein Diktator, ein Tinpot-Diktator. Als Beweis gilt die Tatsache, dass unser ‘dear leader’ dies sagte. Wir sind freiwillige Nordkoreaner, wir glauben, was unser geliebter Führer sagt. Aus diesem Grund gilt er (Chavez) als Diktator, und wenn man versucht, ihn zu stürzen, ist das, per Definition, prodemokratisch. Man muss schon sehr genau hinschauen, um (in der Presse) Ausnahmen zu finden - oder auch nur eine Kommentierung. Das Gleiche gilt für die anderen erwähnten Beispiele.

Fragen wir uns, wenn beispielsweise der Iran gerade einen Militärcoup zum Sturz der Regierung der Vereinigten Staaten unterstützt hätte, wie würden wir reagieren? Sie hätten von ihrem Vorhaben ablassen müssen, jedoch gleich darauf "pro-demokratische" Gruppen in den USA unterstützt, die gegen die Regierung sind. Würden wir denen vielleicht Eiscreme und Candy reichen?

Im angeblich so diktatorischen Venezuela lässt man sie (diese Gruppen) gewähren. Selbst die Zeitungen, die damals den Coup unterstützten, funktionieren weiter. Ich könnte die Aufzählung fortsetzen. Nun, was wird wahrscheinlich geschehen?

Die beiden wichtigsten US-Waffen zur Kontrolle Lateinamerikas waren über lange Zeit zum einen wirtschaftliche Kontrolle, zum andern militärische Gewalt. Beides kam kontinuierlich zum Einsatz, und beides verliert an Wirksamkeit - ein sehr ernstes Problem für die Planer in Amerika.

Ökonomie: Zum ersten Mal in seiner Geschichte - seit der Kolonisation durch die Spanier - beginnt Lateinamerika sich zu vereinen. Lateinamerika bewegt sich bis zu einem gewissen Grad auf die Unabhängigkeit zu, ja sogar auf Integration. In deren gesamter Geschichte waren sich die Länder Lateinamerikas sehr entfremdet. Hinzu kommt eine enorme Kluft zwischen den Superreichen und den vielen sehr, sehr Armen. Wenn wir über diese Länder sprechen, reden wir im Grunde über Reicheneliten. Diese Eliten der Reichen sind auf Europa und Nordamerika hinorientiert - nicht auf die eigenen Bürger oder auf ihresgleichen. Das Kapital flüchtet nach Zürich, London oder New York. Man hat seinen Zweitwohnsitz an der Riviera, die Kinder studieren in Cambridge - in der Art. So war es bislang, es gab sehr wenig Interaktion, aber das ändert sich gerade.

Erstens gibt es heute große Volksbewegungen, siehe Bolivien. Dort fanden demokratische Wahlen statt, von denen wir hier nicht einmal träumen können. Damit meine ich, würde irgendeine Zeitung hierzulande ehrlich darüber berichten und die bolivianischen Wahlen mit den unseren vergleichen, wir müssten uns schämen. Ich möchte das nicht weiter ausführen, mit ein wenig Nachdenken kommen Sie sehr schnell darauf: massenhafte Volksbeteiligung, die Leute wissen, was sie wählen, sie entscheiden sich für einen aus ihren Reihen und orientieren sich an den eigenen, zentralen Themen usw.. Bei uns wäre so etwas undenkbar, unsere Wahlen finden auf dem Niveau von TV-Zahnpastawerbung statt - buchstäblich.

Überall gibt es Massenvolksbewegungen. Zum erstenmal findet eine gewisse Integration statt, sie hat ihren Anfang genommen.

Die Waffe Militär wird schwächer. Der letzte Versuch der USA - 2002 in Venezuela - musste rasch abgeblasen werden. Die Art von Regierungen, die die USA heute - gezwungenermaßen - unterstützen, ist genau die Art, die sie vor nicht allzu langer Zeit noch versucht hätten zu stürzen. Der Grund heißt Veränderung.

Auch die ökonomische Waffe ist enorm geschwächt. Jetzt werfen sie den IWF hinaus. IWF gleich US-Schatzamt. Wissen Sie, Argentinien war das Vorzeigemodell des Internationalen Währungsfonds und hat alle Regeln befolgt usw.. Folge - ein katastrophaler Wirtschafts-Crash. Die Argentinier haben es geschafft, da rauszukommen, aber nur, weil sie radikal gegen die Regeln des IWF verstießen. Derzeit sind sie dabei, "den IWF von uns abzuschütteln", wie es der argentinische Präsident ausgedrückt hat. Sie zahlen ihre Schulden mithilfe Venezuelas zurück. Venezuela hat viele der argentinischen Schulden abgelöst. Das Gleiche passiert gerade in Brasilien und wird auch in Bolivien passieren.

Die ökonomischen Maßnahmen schwächeln generell, und auch die militärischen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Kein Zweifel, in den USA ruft dies tiefe Besorgnis hervor. Allerdings sollten wir nicht glauben, dass die USA ihre militärischen Anstrengungen aufgeben werden, ganz im Gegenteil, die Zahl des US-Personals - Militärpersonal - in Lateinamerika ist heute wahrscheinlich auf dem Höchststand. Auch die Zahl lateinamerikanischer Offiziere, die von Amerika ausgebildet werden, nimmt massiv zu. Und zum erstenmal liegt die US-Militärhilfe höher als alle ökonomischen und sozialen Hilfen durch wichtige staatliche US-Agenturen zusammen (was während des Kalten Kriegs nie der Fall war). Da verschiebt sich etwas. Und überall in der Region gibt es weitere US-Luftbasen.

Behalten Sie Ecuador im Auge. Dort finden in rund einer Woche Wahlen statt. Wahrscheinlich wird (Rafael) Correa als Sieger hervorgehen - eine interessante Person. Kürzlich wurde er gefragt, was er mit der großen Manta-Airbase in Ecuador machen wolle. Seine Antwort: Wir werden sie weiter dulden, falls die USA bereit sind, eine ecuadorianische Luftbasis in Miami zu dulden.

Diese Dinge gehen derzeit vor sich. Und zum erstenmal wird der Ruf nach einer indianischen Nation laut. Die indigene Bevölkerung - in manchen Ländern, wie Bolivien, die Mehrheit -, betritt zum erstenmal seit 500 Jahren die politische Arena und wählt ihre eigenen Kandidaten. Das sind große Veränderungen, aber die USA werden sicher nicht klein beigeben.

(Die Aufgabenstellung) des militärischen Trainings hat sich verschoben. Offiziell im Fokus sind heute Streetgangs und der so genannte "radikale Populismus". Nun, Sie wissen selbst, was mit radikalem Populismus gemeint ist - Priester, die Bauern organisieren und jeder, der aus der Reihe tanzt. Yeah, das ist ernst. Was werden die tun?

Regierungen haben Sicherheitsinteressen, so wird das genannt, es gilt, die nationale Sicherheit zu schützen. Sollten einige von Ihnen schon einmal in freigegebenen (Geheim-)Dokumenten gelesen haben, dann wissen Sie, was ich meine. Ich habe viel Zeit damit verbracht. Stimmt, Regierungen schützen sich vor dem Feind, vor dem primären Feind. Der primäre Feind ist die eigene Bevölkerung. Das gilt für alle mir bekannten Regierungen. Lesen Sie die freigegebenen Akten, und Sie werden feststellen, dass diese meist die Regierung vor der eigenen Bevölkerung schützen. Mit Sicherheitsinteressen irgendwelcher Art hat das nicht viel zu tun - was in anderem Sinne unter ‘Sicherheitsinteressen’ zu verstehen ist. So läuft das. Wir wissen nicht, was sie planen, weil sie uns ja davor schützen müssen zu wissen, was die Regierung gerade plant. Daher sind wir auf Spekulationen angewiesen.

Wollen Sie meine Spekulation hören - basierend nicht auf Information sondern auf der Überlegung, was ich tun würde, säße ich selbst im Pentagon-Planungsbüro und sollte mir überlegen, wie man die Regierung in Bolivien, Venezuela oder Iran stürzt? Die Idee, die einem als Erstes kommt - daher nehme ich an, dass auch die daran arbeiten -, ist, sezessionistische Bewegungen zu unterstützen. Schauen Sie sich die Geografien an, schauen Sie sich die Orte an, wo das Öl herkommt usw. - es scheint vorstellbar.

In Venezuela kommt das Öl aus der Provinz Zulia - von dort kommt auch der Kandidat der Opposition. Zulia liegt direkt an der kolumbianischen Grenze (Kolumbien ist einer der wenigen Staaten (Lateinamerikas) mit einer festen US-Militärpräsenz). Zulia ist eine reiche Provinz und ziemlich anti-Chavez. Ausgerechnet hier liegt das meiste Öl. Es gibt Gerüchte über eine Unabhängigkeitsbewegung in Zulia. Falls sie die Sache zum laufen bringen, könnten die USA dort intervenieren, um (die Bewegung) gegen den "Diktator" zu verteidigen. Soviel zu Venezuela.

In Bolivien liegen die meisten Gasressourcen im Flachland, in der Ebene des Ostens - einer Region, die überwiegend europäisch geprägt ist und nicht indianisch. Es ist eine reiche Region, nahe Paraguay (noch ein Land mit US-Militärbasen), die Region ist gegen die Regierung. Hier wäre somit dasselbe Projekt vorstellbar - sezessionistische Bewegungen.

Zum Iran - dem großen Deal, wenn man sich die Sache betrachtet, denn das Öl der Region (die größten Hydrocarbonatvorkommen der Welt) liegen direkt um den Golf herum: In den Schiitenregionen des Irak, in den schiitischen Regionen von Saudi-Arabien und in einer arabischen (und nichtpersischen) Region des Iran, nämlich Khuzestan. Zufällig ist Khuzestan eine arabische Region - in unmittelbarer Nähe zum Golf. In Europa kursieren Gerüchte über eine Ahwazi-Befreiungsbewegung in dieser Region (gestreut durch die CIA, vermutlich). Vorstellbar wäre - ich weiß nicht, ob tatsächlich machbar, doch ich vermute, solche Ideen kommen auch den Pentagon-Planern in den Sinn -, dass man eine so genannte Befreiungsbewegung der Golfregion sponsern könnte und dann einmarschieren, um diese zu verteidigen. Sie (die USA) haben 150.000 Soldaten im Irak. Wäre den Versuch wert - und anschließend bombt man den Rest des Landes in die Steinzeit zurück. Wäre durchaus denkbar, ich meine, es würde mich schon wundern, wenn nicht herumgespielt würde mit Ideen dieser Art.

Transkribiert für Venezuelanalysis.com von Michael Fox

 

Quelle: ZNet Deutschland vom 16.10.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: U.S. Intervention in Venezuela and in Latin America .

 

Veröffentlicht am

19. Oktober 2006

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