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Reise in eine irakische ‘Taliban-Republik’

Diyala - eine Region, in der die Milizionäre unangefochten herrschen

Von Patrick Cockburn - The Independent / ZNet 26.09.2006

Überall in den ländlichen Provinzen des Irak herrscht Bürgerkrieg. Die Diyala-Provinz steht inzwischen überwiegend unter der Kontrolle sunnitischer Aufständischer. Führer vor Ort glauben, dass die Aufständischen kurz davor sind, eine “Taliban-Republik” zu errichten.

Die Offiziellen in dieser strategisch wichtigen Provinz - mit Sunniten, Schiiten und einer kurdischen Minderheit -, sind sich über die Vorgänge durchaus im Klaren. Oberstleutnant Ahmed Ahmed Nuri Hassan ist Kommandeur der hiesigen Bundespolizei. Er wirkt müde. Er sagt: “Jetzt haben wir einen ethnischen Bürgerkrieg, und der wird mit jedem Tag schlimmer”.

Im Moment sieht es nach einem Sieg der Sunnis aus.

In den letzten drei Jahren ist die Gewalt eskaliert. Für Journalisten wurde es mit der Zeit zu gefährlich zu recherchieren, was in den irakischen Provinzen außerhalb Bagdads vor sich geht. Die UNO gab letzte Woche die Opferzahlen für Bagdad (Juli und August) heraus: 5.106 tote Zivilisten. In den Provinzen rund um die Hauptstadt seien 1.493 Zivilisten getötet worden.

Die Aufständischen haben die Straßen von der Hauptstadt Richtung Westen und Norden abgeriegelt. Während ich durch die Provinzen dieses weitläufigen, kriegszerissenen Landes fahre, halte ich mich geflissentlich an die relativ ruhige “Zunge” Kurdengebiet. Sie reicht von den ruralen Regionen bis fast nach Bagdad hinein. Dennoch ist mir klar, ich darf mir keinen Fehler beim Kartenlesen erlauben.

Wir fahren mehrere Stunden neben dem Diyala-Fluss her. Der Strom entspringt in den iranischen Zagrosbergen und wirkt wie eine Miniversion des Nil. Zu sehen ist ein lebendiger grüner Streifen Vegetation, der durch die sandfarbene Halbwüste verläuft. Kurz bevor die Straße den Distrikt As-Sadiyah erreicht - wo die Aufständischen sehr aktiv sind -, biegen wir abrupt nach Osten ab.

Was hätte passieren können, wären wir weiter auf der Hauptstraße geblieben, wird uns bewusst, als wir Oberstleutnant Hassans Hauptquartier erreichen. In einer Ecke des Hofes liegt das weißblaue Wrack eines Polizeiautos - von einer Bombe zerrissen. “Fünf Polizisten starben, als das Fahrzeug an einer Kreuzung in As-Sadiyah hochgejagt wurde. Das war vor zwei Monaten”, so ein Polizist. “Nur ihr Kommandeur hat überlebt, ihm mussten beide Beine amputiert werden”.

In der Provinz Diyala kann man das schmerzhafte Auseinanderbrechen des Irak vor Ort besichtigen. Nach allem, was uns Polizei und Regierungsbeamte erzählen, dürfte die Zahl der Opfer außerhalb Bagdads weit höher liegen, als bislang berichtet. Ibrahim Hassan Bajalan ist Vorsitzender des Provinzrats. Erst gestern hat er in Baquba einen Granatwerferanschlag überlebt. Bajalan sagt, er gehe von “durchschnittlich 100 Getöteten in Diyala pro Woche” aus.

Bei den aktuellen Opfern handelt es sich um drei Zivilisten, die von unbekannten Attentätern erschossen wurden. Während die Killer in ihrem Auto durch die Straßen Baqubas davon preschten, blieben die Hinterbliebenen der Getöteten in ihrer Trauer zurück. Sie fielen auf ihre Knie, warfen verzweifelt die Arme in die Höhe.

Viele Getötete verschwinden einfach auf Nimmerwiedersehen. Sie werden in den Diyala-Fluss geworfen oder in Dattelpalmenhainen und Obstgärten verscharrt. Die Gründe für die Morde bleiben ominös. Die Menschen hier sind vorsichtig und vermeiden es, die sunnitischen Aufständischen wütend zu machen. Diese kontrollieren mittlerweile weite Teile der Provinz. Sie wenden strenges islamisches Recht an. “In der Provinzhauptstadt Baquba haben sie sogar den Verkauf von Zigaretten verboten”, so Bajalan. “Ich muss die Zigaretten für die Ratsmitglieder, die rauchen, von auswärts mitbringen”.

In einem Haus in Khanaqin - einer Kurdenenklave im Nordosten der Provinz Diyala - treffe ich Nazar Ali Mirza, eine bekümmerte Frau in mittleren Jahren. Sie erzählt mir von ihrer - zu späten - Flucht aus Muqdadiyah, der Kleinstadt, in der sie geboren wurde. Muqdadiyah wird von Sunniten dominiert. Die Ereignisse erwischten sie kalt, als Todesschwadronen begannen, die Kurden und Schiiten in Mirzas Nachbarschaft anzugreifen. Im März wollte ihr ältester Sohn, Khalil Mohammed Ahmed, ein Taxifahrer, nur eine Waschmaschine abholen - und kehrte nie zurück. Die Mutter geht davon aus, dass er tot ist, aber sein Körper wurde nicht gefunden.

“Die Kurden und Schiiten wurden aus dem Distrikt vertrieben”, sagt sie. “Männer mit schwarzen Masken kamen und sagten, sie würden meine Söhne töten, falls ich nicht ausziehe - selbst wenn sie in den Himmel fliehen sollten”. Einer ihrer Söhne - er war Polizist -, ist seit einer Bombenexplosion für immer behindert.

Frau Mirza gehört mit ihrer Familie zu jenen 300.000 Irakern, die man seit Jahresbeginn aus ihren Häusern vertrieben hat. Überall im Land sind Minderheiten auf der Flucht, sie fürchten um ihr Leben. “Keiner wartet mehr ab, um herauszufinden, ob eine Drohung ernst gemeint ist”, so Mamosta Mohsin, Vorsitzender der ‘Patriotischen Union von Kurdistan’ in Khanaqin. Die Union regiert die Stadt faktisch. “Selbst wenn hinter einer Drohung nur zwei Kinder stecken, rennen die Leute schon”. Doch meistens ist die Gefahr real. In den Akten von Oberstleutnant Hassan finden sich die Namen der neuen Flüchtlinge. Das meiste sind Kurden aus Bagdad, aus Ramadi, Baquba oder dem übrigen Land.

Hassan reicht uns ein Papier, aus dem die anschwellende Zahl der Flüchtlingsfamilien - von 29 im Januar auf 318 im Juni - hervorgeht. Im August waren es immer noch 239 Familien.

Weder die Schiiten noch die Sunniten seien sonderlich gut organisiert, so Oberstleutnant Hassan: “Es ist nicht wie im Libanon. Die meisten Morde werden von Stammesmilizen oder ortsansässigen Milizen begangen”. Nicht die Stärke der Aufständischen sei das Problem, vielmehr die Schwäche der Regierungskräfte. In Diyala befindet sich eine Division des irakischen Militärs, 7000 Soldaten. “Aber das sind alles Schiiten, die verhaften nur Sunniten”.

Herr Bajalan bestätigt die Schwäche der Armee in Diyala. Die meisten Soldaten hingen an den Checkpoints fest. Seiner Schätzung nach kommt auf 50 Quadratkilometer Provinzfläche je ein Soldat. “Und die Soldaten sind schlecht bewaffnet”.

“Sie haben nur Kalaschnikows, die Terroristen haben Raketenwerfer und schwere Maschinengewehre. Wenn sie angreifen, töten sie zwischen 10 und 15 Polizisten oder Armeeangehörige”.

Nahe Baquba liegt eine US-Militärbasis. Um Hilfe gebeten, bieten die Amerikaner Unterstützung an. “Das nützt aber wenig gegen die Guerilla”, so Bajalan. “Wenn die Amerikaner kommen, sind die schon längst wieder zu Hause”.

Aus Bagdad heißt es, man habe letzte Woche rund um Baquba wichtige Erfolge erzielt. So seien unter anderem die Führer zweier sunnitischer Rebellengruppen gefangengenommen worden. Hier in Diyala ist davon nichts zu hören. Ohne Ausnahme gehen hier alle davon aus: Der Bürgerkrieg wird sich weiter intensivieren.

Copyright für 2006 bei Independent News and Media Limited

Quelle: ZNet Deutschland vom 02.10.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: A Journey into the ‘Taliban Republic’ Where the Militias Rule Unchallenged .

Veröffentlicht am

11. Oktober 2006

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