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Die Drei-Euro-Schande

Mindestlohn-Debatte: Es geht keineswegs um eine Existenzsicherung allein

Von Robert Kurz

Fast fünf Millionen Menschen arbeiten in Deutschland zu Löhnen unter 7,50 Euro pro Stunde. Der dramatische Lohnverfall droht, sich bis ins Bodenlose fortzusetzen. In bestimmten Branchen bekommt man schon Beschäftigte für drei Euro pro Stunde - immer mehr Löhne liegen also weit unter dem Existenzminimum. Die Forderung nach Mindestlöhnen erscheint nur folgerichtig. Allerdings wird das Problem im so genannten politischen Diskurs verwässert, weil ein großer Niedriglohnsektor auf möglichst tiefem Niveau gewollt ist.

So hat der SPD-Fraktionsvize Ludwig Stiegler den Vorschlag eines zweistufigen Systems von Mindestlöhnen angekündigt, das auf branchenspezifischen tariflichen Einzelregelungen beruht, die dann für allgemein verbindlich erklärt werden sollen. Nur für bestimmte Segmente des Arbeitsmarktes, bei denen es gar keine Flächentarifverträge mehr gibt, ist ein gesetzlicher Mindestlohn vorgesehen. Ein solches Stückwerk, das eigentlich nur als Tranquilizer gedacht sein kann, verknüpft den Mindestlohn mit dem fortschreitenden Zerfall des Tarifsystems. Das bedeutet, eine solche Regelung würde darauf hinauslaufen, höchst unterschiedliche Mindestlöhne an der Grenze des Existenzminimums oder darunter zu schaffen.

Auf der selben Linie liegt die Absicht einer begrenzten Ausdehnung des Entsendegesetzes, das - hauptsächlich in der Bauwirtschaft - tariflich ausgehandelte Mindestlöhne auch für nicht in Deutschland ansässige Firmen (vorzugsweise aus Osteuropa) verbindlich macht. Diese Regelung wird nun zusätzlich für die Branche der Gebäudereiniger erwogen. Sie richtet sich offiziell gegen die lohndrückenden Konsequenzen der EU-Dienstleistungsrichtlinie. Aber auch dabei werden unterschiedliche Mindestlöhne an branchenspezifische Tarife gebunden, die schon Bestandteil des Lohnverfalls und dem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind. Überdies wäre eine derartige Regelung kaum zu kontrollieren. Insofern laufen in Verbindung mit den Kombilohn-Modellen die Vorschläge der großen Koalition allesamt darauf hinaus, das allgemeine Lohnniveau weiter zu drücken. Bei den Kombilöhnen ist ohnehin der “Drehtür”-Effekt absehbar, dass die Firmen bislang noch regulär Beschäftigte entlassen, um sie durch andere Beschäftigte mit staatlich bezuschussten Elendslöhnen zu ersetzen.

Das Verlangen des DGB nach einem allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von zunächst 7,50 Euro weist gewiss in die richtige Richtung, bleibt aber unglaubwürdig, solange DGB-Gewerkschaften selber Tarife unter diesem Mindestsatz abschließen, so mit der Zeitarbeitsbranche (sieben Euro) und mit der Agro-Industrie (6,35 Euro in Bayern und 4,52 Euro in Thüringen).

In einigen Branchen gibt es längst gar keine Tarifverträge mehr, in anderen sind sie durch darunter liegende Betriebsvereinbarungen ausgehöhlt. In dieser defensiven Position droht die DGB-Forderung als bloßer Appell an die politische Klasse ins Leere zu gehen, weil ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn im Einvernehmen mit der staatlichen Krisenverwaltung nicht mehr zu machen ist; schon gar nicht in ausreichender Höhe.

Ein solches Projekt ergibt überhaupt nur dann einen Sinn, wenn er auf das “historische und moralische Element” (Marx) von unhintergehbaren Lebensansprüchen ausgerichtet ist. Existenzsicherung in einem solchen Sinne muss das einzige Kriterium sein - nicht “Beschäftigung” um jeden Preis. Das geht nur, wenn der Kampf gegen die weitere Absenkung der ALG-II-Bezüge einbezogen wird. Diese Bezüge müssten über das jetzige Elendsniveau hinaus erhöht werden und besonders eine uneingeschränkte Übernahme der Mietkosten beinhalten. In Verbindung mit einer weiteren Absenkung von ALG II dagegen wird für den Mindestlohn - ähnlich wie in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten - das Kriterium der Existenzsicherung nicht zu halten sein. Schließlich, und auch das wird oft vorsätzlich übersehen, muss der gesetzliche Mindestlohn tatsächlichen Allgemeinheitscharakter haben, also ausnahmslos alle Beschäftigungsverhältnisse (inklusive so genannter Praktika) erfassen; nur so ist seine Einhaltung auch relativ leicht kontrollierbar.

Im Unterschied zu beschränkten Mindestlohn-Vorschlägen im Kontext des Entsendegesetzes, die nur bestimmte Branchen vor osteuropäischer Billigkonkurrenz schützen sollen, läuft eine solche gesetzliche Allgemeinheit nicht auf Nationalismus und Staatshörigkeit hinaus (wie es Felix Klopotek jüngst in Konkret behauptet hat). Eine Gültigkeit für alle Beschäftigungsverhältnisse schließt auch nichtdeutsche Lohnarbeiter ein, sie wird sich nur mit harten Bandagen gegen die staatliche Krisenverwaltung durchsetzen lassen. Es geht um einen Existenzkampf gegen die kapitalistische Krisenlogik, der auch in kultureller Hinsicht seine Horizonte hat.

Quelle: Freitag - Die Ost-West-Wochenzeitung 39 vom 29.09.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Robert Kurz und des Verlags.

Veröffentlicht am

04. Oktober 2006

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