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Interview zu Israel, Libanon und Palästina

Von Noam Chomsky - ZNet 12.08.2006

Kaveh Afrasiabi: Würden Sie dem Argument zustimmen, die israelische Militäroffensive im Libanon sei “rechtlich und moralisch gerechtfertigt”?

Noam Chomsky: Die Invasion an sich stellt schon einen ernsten Bruch des internationalen Rechts dar, in deren Verlauf ist es zu massiven Kriegsverbrechen gekommen. Es gibt also keine rechtliche Rechtfertigung.

Die “moralische Rechtfertigung” soll die Gefangennahme bzw. Tötung (israelischer) Soldaten bei einem Überfall jenseits der Grenze sein, das sei ein unerhörtes Verbrechen. Wir wissen genau, Israel, Amerika und andere westliche Regierungen sowie der Mainstream der im Westen geäußerten Meinungen, nehmen kein Wort davon ernst. Deren Toleranz gegenüber den von Amerika gedeckten israelischen Verbrechen im Libanon beweist dies ja seit vielen Jahren zur Genüge - Verbrechen wie vier Invasionen, die aktuelle nicht mitgerechnet, eine 22jährige Besatzung, die im Gegensatz zu Anordnungen des UN-Sicherheitsrats stand sowie regelmäßige Entführungen und Tötungen. Ich stelle nur eine einzige Frage, die eigentlich jedes Journal beantworten sollte: Wann hat Nasrallah seine Führungsrolle beansprucht? Antwort: Als die Regierung Rabin ihre Verbrechen im Libanon ausufern ließ und Sheikh Abbas Mussawi, seine Frau und sein Kind mittels Raketen aus einem amerikanischen Helikopter tötete. Daraufhin wurde Nasrallah zu dessen Nachfolger bestimmt. Dies ist nur eines von unzähligen Beispielen. Es gibt gute Gründe, warum 70% der Libanesen im Februar die Gefangennahme israelischer Soldaten forderten, um sie gegen Gefangene auszutauschen.

Die aktuelle Welle der Gewalt unterstreicht diese Folgerung auf sehr dramatische Weise. Sie begann am 25. Juni, mit der Gefangennahme von Corporal Gilad Shalit, heißt es. Jede im Westen publizierte “Rückschau” nennt dies als auslösendes Ereignis. Doch tags zuvor hatten israelische Truppen in Gaza zwei Zivilisten entführt - einen Arzt und dessen Bruder. Sie wurden dem israelischen Gefängnissystem zugeführt - wie unzählige andere Palästinenser. Viele werden ohne Anklage festgehalten, also folglich entführt. Die Entführung von Zivilisten ist ein weitaus schlimmeres Verbrechen als die Entführung von Soldaten. Die Reaktion des Westens war bezeichnend. Es gab einige beiläufige Kommentare, ansonsten Schweigen. Die wichtigsten Medien fanden die Sache nicht einmal der Erwähnung wert. Allein diese Tatsache zeigt in brutaler Klarheit, dass eine moralische Rechtfertigung für die massive Eskalation der Angriffe auf Gaza und die Zerstörung des Libanon nicht existiert. Die Empörungsshow des Westens über das Kidnapping ist zynischer Betrug.

Kaveh Afrasiabi: Von Israels Recht auf Selbstverteidigung ist jetzt viel die Rede - gegen Feinde, die den israelischen Rückzug aus Gaza ausgenützt hätten. Diese hätten das jüngste Kapitel im israelisch-arabischen Konflikt ausgelöst. Stimmen Sie zu?

Noam Chomsky: Natürlich hat Israel ein Recht auf Selbstverteidigung. Aber kein Staat hat das Recht, besetztes Gebiet zu “verteidigen”. Als der Weltgerichtshof die israelische “Trennungsmauer” verurteilte, erklärte sogar ein US-Richter - Judge Buergenthal - alle Teile der Mauer, die gebaut wurden, um die israelischen Siedlungen zu schützen, stellten “ipso facto einen Verstoß gegen internationales humanitäres Recht” dar, denn die Siedlungen selbst ja seien illegal.

Der Rückzug von ein paar tausend illegalen Siedlern aus Gaza wurde öffentlich als Expansionsplan für die Westbank angekündigt. Inzwischen hat Premierminister Ehud Olmert das Ganze, mit Unterstützung aus Washington, formalisiert - als Programm zur Annexion wertvollen besetzten Territoriums und von Schlüsselressourcen (vor allem Wasser) sowie zur Kantonisierung des verbliebenen Gebiets, das praktisch in sich zerteilt werden soll und abgetrennt vom traurigen Rest dessen, was man den Palästinensern von Jerusalem noch übrig lässt. Sie alle werden eingesperrt, damit Israel das Jordantal übernehmen kann. Gaza wird ein Gefängnis bleiben, das von Israel nach Belieben angegriffen wird.

Auch die USA und Israel sehen Gaza und die Westbank als Einheit. Aus diesem Grund hält Israel auch an der Besetzung Gazas fest. Es kann sich nicht auf Selbstverteidigung berufen, weil es sich ja um Territorium handelt, das in einem der beiden Teile von Palästina liegt, die Israel besetzt hält. Israel und die USA sind es, die radikal gegen internationales Recht verstoßen. Jetzt versuchen sie, ihre langjährigen Pläne zur Eliminierung der nationalen Rechte der Palästinenser endgültig umzusetzen.

Kaveh Afrasiabi: Die USA haben sich gesträubt, einen sofortigen Waffenstillstand (für den Libanon) zu fordern - mit dem Argument, dies würde die Rückkehr zum vorherigen Zustand (status quo ante) bedeuten. Stattdessen werden wir Zeuge einer teilweisen Wiederbesetzung des Libanon - “back to the past”. Infolge des Konflikts beginnt der Libanon sehr schnell, in politischem Chaos zu versinken. Hat die amerikanische Politik Recht?

Noam Chomsky: Aus Sicht derer, die sicherstellen wollen, dass Israel die Region beherrscht und niemand diese Herrschaft anficht, während Israel damit fortfährt, Palästina zu zerstören. Israel ist mittlerweile quasi zu einer ausländischen Militärbasis und zu einem Hightech-Center der USA geworden. Ein für sie positiver Begleitumstand ist unter anderem, falls die USA und Israel beschließen, Iran anzugreifen, wird jegliches Abschreckungspotential im Libanon ausgeschaltet sein.

Vielleicht hegen sie auch die Hoffnung, ein Klientenregime im Libanon installieren zu können - von der Art, wie es Ariel Scharon nach seiner Invasion 1982 zu installieren versuchte. Scharon hat damals weite Teile Libanons zerstört und zwischen 15 000 und 20 000 Menschen getötet.

Kaveh Afrasiabi: Wie wird die “zweizackige” Krise - im Libanon und in den besetzten Gebieten - kurzfristig bzw. langfristig enden?

Noam Chomsky: Da lässt sich wenig vorhersagen, es gibt zu viele Unwägbarkeiten. Eine Konsequenz wird höchstwahrscheinlich sein, dass der Terror im Stile des Dschihad noch um einiges zunehmen wird - durch die Welle des Zorns und des Hasses gegen Amerika, Israel und Großbritannien, die die arabische und muslimische Welt überschwemmt. Das haben die USA und Israel sicher vorausgeahnt. Eine andere Folge wird sein, dass Nasrallah - ob er nun überlebt oder getötet wird -, zu einem noch wichtigeren Symbol des Widerstands gegen die amerikanisch-israelische Aggression wird. Schon jetzt genießt die Hisbollah allein im Libanon eine phänomenale Zustimmungsrate von 87%. Der Widerstand der Hisbollah hat die öffentliche Debatte derart angeheizt, dass selbst älteste und engste Verbündete der USA sich zu Aussagen genötigt sehen wie “falls die Friedensoption durch israelische Arroganz eine Abfuhr erfährt, bleibt nur die Kriegsoption, und niemand kann sagen, welche Folgen das für die Region haben wird, inklusive Kriegen und Konflikten, von denen niemand verschont bleiben wird, auch jene nicht, deren militärische Macht sie momentan in Versuchung führt, mit dem Feuer zu spielen”. Diese Aussage stammt vom saudi-arabischen König Abdullah, der sich hüten wird, die USA direkt anzugreifen.

Kaveh Afrasiabi: Welche Schritte empfehlen Sie zur Beendigung der aktuellen Feindseligkeiten beziehungsweise um einen dauerhaften Frieden zu etablieren?

Noam Chomsky: Die grundlegenden Schritte sind klar: Waffenstillstand und Gefangenenaustausch sowie Rückzug der Besatzungstruppen, Fortsetzung des “nationalen Dialogs” im Libanons, zudem muss der - sehr breite internationale Konsensus - bezüglich einer Zweistaatenlösung für Israel/Palästina akzeptiert werden. Die Zweistaatenlösung wird von den USA und Israel seit nunmehr 30 Jahren unilateral blockiert. Natürlich gäbe es - wie stets - noch einiges mehr, aber das sind die wesentlichen Punkte.

Quelle: ZNet Deutschland vom 15.08.2006. Übersetzt von: Andrea Noll. Originalartikel: On Israel, Lebanon and Palestine .

Veröffentlicht am

17. August 2006

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