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Das Schattenvolk

Sperrgebiet: Im Umkreis des Tschernobyl-Reaktors leben illegal Menschen - die Begegnung mit ihnen hat Marina Schubarths Leben verändert


Von Marina Achenbach

“Weißt du nicht, dass es dort ein neues Volk gibt?”, sagt Marina Schubarth, genannt Maritschka. “Es ist das Volk der Zone, in den 20 Jahren seit der Havarie im Sperrgebiet entstanden. Die Zone wurde mit dem Zirkel gezogen, im Mittelpunkt der zerstörte Reaktor, ein Radius von 30 Kilometern. Da leben Menschen, obwohl es verboten ist. Niemand will mit ihnen zu tun haben.”

Sind das etwa so seltsame Menschen wie der Stalker?, frage ich, denn unabweisbar tauchen diese Bilder aus dem Film auf, den Tarkowski Jahre vor dem Reaktorunglück gedreht hat. Maritschka beschreibt dieses Volk: Es sind Alte, die einfach nicht aus ihren Dörfern weggegangen sind. Als die Soldaten kamen, um sie zu evakuieren, haben sie ihnen gesagt: Söhnchen, ich sterbe sowieso bald, lasst mich hier, was soll ich in einem Hochhaus, da sterbe ich noch viel schneller. Und sie haben die Alten dort gelassen. Später sind sozial schwache Familien mit Sack und Pack und ihren Kindern zurückgekehrt. Kriminelle verstecken sich in der Zone, manche verkaufen zurückgelassenes verstrahltes Gut auf Märkten bis in die Türkei. Es gibt ganze Familien aus Kriegsgebieten des Kaukasus, die lieber einen langsamen Tod durch Radioaktivität sterben als einen schnellen durch Bomben und Kugeln. Die Grenzlinie durchtrennt Dörfer, da ist die eine Hälfte leer, die andere bewohnt. Alle wissen natürlich, dass sich die Radioaktivität nicht an diese Linie hält. Auch die Menschen am Rand gehören zum “Tschernobyler Volk”, der Begriff ist in die Sprache eingegangen. Ein Teil der Leute, die das AKW warten und bewachen, zählt sich selbst dazu.

Im Sperrgebiet leben sie illegal. Sie quartieren sich im eigenen oder einem leeren Haus ein. In der Polessje-Landschaft mit den Wäldern, Flüsschen, Dörfern, nördlich des großen Stausees - früher Erholungsgebiet für Kiewer, Moskauer und Minsker - können sich die Menschen leicht verbergen. Und die Gefahr vergessen: Man sieht nichts, riecht nichts. Wenn man nicht mit einem Geigerzähler herumläuft, weiß man von nichts. Niemand hat privat so ein Gerät. Wahrscheinlich würden sich die Leute dort auch hüten, es zu benutzen. Lieber verdrängen sie, als sich der Wahrheit zu stellen.

Es gibt schließlich viele Orte auf der Welt, wo Menschen unter den unmöglichsten Bedingungen leben. Sind die riesigen Slums bei Kalkutta oder Rio de Janeiro nicht ähnlich? Wer sie auflösen wollte, müsste Alternativen anbieten, Verantwortung übernehmen. Stattdessen hält man sich diese Menschen vom Leibe, die sich durchschlagen oder klaglos zu Grunde gehen. Auch in der postsowjetischen Gesellschaft, in der große Bevölkerungsgruppen verarmt sind, lässt man diesem Schattenleben im verseuchten Gebiet seinen Lauf. Die jüngste UNO-Bilanz und der Bericht der Internationalen Atomenergiebehörde erklären Verarmung, Fatalismus, selbst zerstörerischen Lebenswandel als gewichtigere Ursachen für die hohe Sterblichkeit in der Region als die Radioaktivität. Die Dinge auf diese Weise zu trennen, bedeutet ein schändliches Ausweichen vor den notwendigen Schlussfolgerungen.

Im April 1986 hatte Maritschka, die als junges Mädchen mit der Mutter in die Schweiz gekommen war, gerade angefangen, in Budapest Ballett zu studieren. In der Nacht zum 26. April wachte sie voll Schrecken auf, rüttelte ihren Freund wach, weinte, wollte irgendwohin, weg, raus. Beide liefen durch die stillen Straßen. Vögel flatterten wie aufgescheucht in der Nacht. “Drehen sie durch wie ich? Was ist nur los?”, fragte sie sich und meinte, es würde sich wie eine Atombombe anfühlen. Der Freund spottete.

Das mystische Erlebnis begleitete sie als Rätsel, bekam aber eine Bedeutung für sie, als sie in das Thema Tschernobyl hineingezogen wurde, ohne es gesucht zu haben. Nach dem Ende ihrer Ausbildung - sie hatte ihr erstes Engagement auf der Musical-Bühne des Theaters des Westens in Berlin - reiste Maritschka endlich nach Kiew. In der Aeroflot-Maschine flogen außer ihr nur noch einige Schweizer Mediziner der Internationalen Ärzteorganisation gegen den Atomtod, des IPPNW, mit, von der sie vorher nie gehört hatte. Die Ärzte wollten Kinder untersuchen und Hilfe organisieren. Am nächsten Tag begegnete sie ihnen in der Stadt wieder, es war Zufall, sie klagten, dass sie keine Dolmetscher fänden, alle hätten Angst vor Strahlung. “Da habe ich beschlossen, diese Arbeit zu machen.” Es hat ihr Leben verändert.

1990 war die Perestroika mit den sie begleitenden Auflösungserscheinungen in vollem Gange. Eine ukrainische Ärztin öffnete die Schränke in einer Klinik, darin waren nur Watte und Teebeutel deponiert. Sie weinte. Dann wurden Kinder gebracht. “Es kam ein kleiner Junge herein, er stand vor mir, seine Augen in gleicher Höhe mit meinen, er sagte: Tante, Sie sollen mich nicht belügen. Ich: Nein, das tue ich nicht, auch die Doktoren nicht. Er: Wissen Sie, zu mir kommt jede Nacht der Tod, klopft ans Fenster und sagt, komm. Ich sage nein. Aber ich weiß, ich werde bald sterben.” Maritschka versucht, den Moment zu beschreiben: “Er sagte das ohne Angst, ohne Tränen, ganz ruhig. Er war irgendwie zwischen Himmel und Erde, halb Leben, halb Tod. Dieser Junge wurde für mich zum Symbol der ganzen Katastrophe.”

Sie ging raus, um nicht vor ihm zu heulen, da stieß sie auf Mütter, die drängten sich um sie und flehten: Nehmen Sie mein Kind mit, hier wird es nicht überleben. “Ich war 24, mir schien, als wäre ich im Krieg. Es fielen zwar keine Bomben, aber Menschen wurden zerstört. Als ich nach Berlin in meinen Ballettsaal zurückkehrte, sah ich mich im Spiegel und fragte mich: Was machst du? Ich konnte diese beiden Welten nicht mehr zusammen bringen.”

Das Berliner Theater des Westens war eine Welt von Prunk und Glimmer. “Ich habe den Jungen gesehen und die Tränen, auch die Ärzte von IPPNW, die ich als große Humanisten empfinde und bis heute bewundere. Ich wollte etwas tun.” Aus ihren Fotos und Berichten hat sie eine Mappe zusammengestellt, im Theater verteilt und gesagt: Lest das mal, ich würde gern eine Benefizvorstellung für diese Kinder von Tschernobyl machen. Das gesamte Ensemble sagte ja. 7.800 DM kamen zusammen, am 16. November 1990. In dieser Zeit gründeten sich erste Tschernobyl-Vereine außerhalb der Ukraine. Nun könne sie, meinte Maritschka, das Thema wieder abgeben.


Einige Monate später kam ein Anruf von IPPNW, sie hatten einige “Liquidatoren” nach Berlin eingeladen. Liquidatoren waren meist Soldaten, 600.000 bis 800.000 aus dem ganzen Land, sie löschten Brände, evakuierten Menschen, räumten radioaktive Trümmer weg, mussten Haustiere erschießen - Kühe, die in den verlassenen Dörfern schrien, Hunde, Katzen. Vor allem sollten sie den Reaktor zudecken, auffüllen und abschirmen. Zum Teil wussten sie, wohin sie gingen, zum Teil begriffen sie die Gefahr nicht.

Drei junge Männer, die schon eigene Familien hatten, kamen nach Berlin: “Wenn diese Jungs nicht gewesen wären, gäbe es Europa vielleicht nicht mehr - wenn sie diese Arbeit nicht gemacht hätten, bei der sie ihr Leben hingegeben haben. Sie besaßen große Pillendosen, schluckten eine Tablette nach der anderen, versteckt: russische Männer, die der Frau nicht zeigen wollen, dass sie Pillen nehmen. Einer hielt sich manchmal heimlich an der Tischkante fest, seine Kollegen brachten ihn in sein Zimmer und verrieten anschließend, dass es schlecht um ihn stand. Manche haben sich - wie im Krieg, im Großen Vaterländischen Krieg - wirklich bewusst geopfert. Es hatte auch mit der sowjetischen Erziehung zu tun, diese Generation ist mit Geschichten von Heldentum aufgewachsen. In der Gefahr und Not handelten sie mutiger und selbstloser als im Alltag. Dann habe ich erfahren, wie viele von ihnen qualvoll und einsam gestorben sind.”


Maritschka fuhr in die Nähe des Reaktors und machte Fotos. Als sie die Zone wieder verließ, wurde sie auf Radioaktivität kontrolliert, die Geräte schlugen heftig an. Sie musste sofort unter die Dusche, ihre Kleidung und der Rucksack wurden gewaschen, alles untersucht. Bald danach ging ihr das Haar büschelweise aus. Unter der Haut bildete sich an vielen Stellen eine Art flacher Zysten: Das Gewebe war angegriffen. Grippen verliefen katastrophal. Der Begriff Tschernobyl-Aids kam auf, denn die Erscheinungen sind ähnlich. Maritschka geriet in Panik. Was geschieht bei einer niedrigen Kontaminierung? Depression, nervliche Beschädigung. Nie weiß man, womit es wirklich zu tun hat. Sie hat die deutsche Presse der Jahre 1986 bis 1990 nachgelesen: alles absolut widersprüchlich, zwischen schriller Warnung und Herunterspielen. Mit dem Tanzen musste sie aufhören, sie schreibt nun und führt Regie. Und weil das Thema Tschernobyl so schwer fassbar ist, so verdrängt und weggeschoben wird, haben sie und ihre Kollegin, die Schauspielerin und Regisseurin Natascha Bondar, die in den Jahren nach der Havarie in der Ukraine lebte, sich entschlossen, das Stück Tschernobyl zu entwickeln und mit ihrer erfolgreichen Theatertruppe (s. Freitag vom 6.5.2005 ) zu inszenieren. Sie erzählen dort von den verschiedenen Lebensgeschichten, die ihnen beiden bekannt und so vertraut wurden.


Und der Name des Sterns heißt Tschernobyl. Eine Produktion des Dokumentartheaters OST-Arbeiter. Text und Regie Marina Schubarth / Natalja Bondar. Uraufführung am 26. April 2006 jeden Samstag im Bunker am Blochplatz, Berlin-Gesundbrunnen, Karten 030/49910517.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 16 vom 21.04.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

Veröffentlicht am

26. April 2006

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