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Tschernobyl: Vertuscht, verfälscht und ignoriert

Strahlenfolgen: Das Tschernobylforum der IAEO entwarnt - denn wer Kernenergie fördern will, muss sich von ihrer Negativbilanz entlasten

Von Sebastian Pflugbeil

Die IAEO ist eine UNO-Organisation deren Ziel es ist, "den Beitrag der Atomenergie zum Frieden, zur Gesundheit und zum Wohlstand auf der ganzen Welt rascher und in größerem Ausmaß wirksam werden zu lassen" (Statut, Art. II). Tschernobyl hat die IAEO über längere Zeit gelähmt, weil sich die Schreckensmeldungen höchst negativ auf die Verfolgung dieses Ziels auswirkten. Im August 1986 nahm der damalige Generalsekretär der IAEO, Hans Blix, zu Tschernobyl Stellung: "Angesichts der Wichtigkeit der Kernenergie" , erklärte er damals, "könnte die Welt einen Unfall vom Ausmaß Tschernobyl pro Jahr ertragen."

Erst Jahre nach der Katastrophe begann die IAEO mit eigenen Arbeiten in Zusammenhang mit Tschernobyl. Im Frühjahr 1991 wurden die Ergebnisse veröffentlicht. Die IAEO folgte den skandalösen verharmlosenden Erklärungen sowjetischer Funktionäre mit Kernsätzen wie: "Die untersuchten Kinder waren generell gesund." Und: "Die Daten zeigten seit dem Unfall keinen bemerkenswerten Anstieg von Leukämie und Schilddrüsenkrebs." Im Herbst 1990 hörten wir in Berlin den Bericht einer Minsker Ärztin, die warnend auf einen bereits im Herbst 1990 etwa 30-fachen Anstieg von Schilddrüsenkrebs bei Kindern in Belarus hinwies. Einer der leitenden Wissenschaftler des Tschernobylprojektes hatte noch bessere Informationen - auf seinem Schreibtisch in den USA lagen bereits die Gewebeproben von Kindern, die an Schilddrüsenkrebs operiert worden waren. Wir können heute sagen, dass das Tschernobylprojekt der IAEO nicht nur irrte, sondern die Daten bewusst verfälschte.

Die Haltung der Sowjetunion und der IAEA wurde unterstützt durch etliche Wissenschaftler aus Ost und West, die nicht nur die Unwahrheit sagten, sondern mit ihren Fehleinschätzungen verhinderten, dass frühzeitig zielgerichtet geholfen wurde. Der Münchner Strahlenbiologe Albrecht Kellerer schrieb in einem Bericht an das Rote Kreuz: "Die erhöhten Erkrankungsraten werden von der Bevölkerung und vom Großteil der Ärzteschaft der Strahlenexposition zugerechnet. Eine kritische Beurteilung der Situation jedoch führt zu dem Schluss, dass es sich um Erhöhungen handelt, die durch drei verschiedene Ursachen zustande kommen: 1. veränderte und eingeschränkte Lebens- und Ernährungsbedingungen, 2. gravierende Angstzustände und 3. häufigere und intensivere ärztliche Untersuchungen und vollständigere Berichte über Erkrankungen in den kontaminierten Gebieten." Ich erinnere mich noch gut daran, wie einem Chefarzt in Gomel die Zornesröte ins Gesicht stieg, als ich ihn vor vielen Jahren um seine Meinung zu diesem Bericht bat.

Vor wenigen Monaten legten die relevanten UN-Organisationen unter Führung der IAEO - das so genannte Tschernobylforum - einen Bericht vor, der bescheinigte, dass es nach Tschernobyl weniger als 50 Tote gegeben habe und künftig höchstens 4.000 weitere Krebstote zu erwarten seien. Die Akte Tschernobyl könne nun geschlossen werden, glücklicherweise gäbe es keinen Grund zur Beunruhigung, erklärte Michael Repacholi, der ranghöchste Beamte der WHO für Strahlenfragen.

Damit stellt das Tschernobylforum eine direkte Fortführung der zynischen Einschätzungen des Tschernobylprojektes dar. Die genannten Zahlen 50 und 4.000 wurden weltweit durch die Medien verbreitet, obwohl in den vorgelegten Berichten deutlich höhere Angaben zu den künftig zu erwartenden zusätzlichen Todesfällen gemacht wurden. Die IAEO und die WHO sind nicht davor zurückgeschreckt, die selbst ermittelten Daten der Öffentlichkeit in verfälschter Form zu präsentieren. Wiederum gab es Unterstützung aus den Reihen von Strahlenfachleuten, die in der einen oder anderen Form unter Bedingungen arbeiten, in denen es zu Strahlenexpositionen kommt. Der Fachverband Strahlenschutz gesteht wie das Tschernobylforum zu, dass Menschen durch die erhöhte Radioaktivität an Schilddrüsenkrebs erkrankt seien, geht dann aber noch über das Tschernobylforum hinaus mit der Behauptung: "Erhöhte Häufigkeiten anderer Krebsarten oder Leukämien wurden nicht festgestellt."

Dagegen wiesen Wissenschaftler und Ärzte aus der Ukraine, Belarus, Russland, Großbritannien und Deutschland Anfang April auf einem Kongress der Gesellschaft für Strahlenschutz in Berlin anhand zahlreicher Berichte nach, dass die Bewertung der Tschernobylfolgen durch die UN-Organisationen nicht der Wirklichkeit entspricht. Es gibt erhöhte Krebs- und Leukämieraten bei den Liquidatoren, von denen nach Einschätzung des Münchener Strahlenbiologen Edmund Lengfelder 50.000 bis 100.000 gestorben sind. Die stellvertretende Katatstrophenschutzministerin der Ukraine, Tatjana Amsova, reagierte erbost auf die Angaben des Tschernobylforums und erklärte, dass alleine in der Ukraine mehr als 17.000 Familien eine Rente bekämen, weil der Vater nach seinem Einsatz als Liquidator verstorben ist. Aus der Kiewer Neurochirurgie wurde berichtet, dass sich die Zahl der Hirntumore bei Kindern im ersten Lebensjahr etwa verzehnfacht hat. Neue Arbeiten berichten von einer Verdoppelung von Brustkrebs, der zudem bereits in der Altersgruppe 30 bis 35 Jahre einen Gipfel aufweist - deutlich früher als in unbelasteten Gebieten.

Das Tschernobylforum verschweigt völlig, dass nach Angaben des beteiligten Wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen für die Wirkung Atomarer Strahlen (UNSCEAR) in Europa deutlich höhere Gesundheitsschäden zu erwarten sind, als in den direkt durch Tschernobyl betroffenen Regionen Ukraine, Belarus und Westrussland. In Berlin vorgetragene Forschungsergebnisse zu Veränderungen der Sterblichkeit von Kindern in der ersten Lebenswoche (Perinatalsterblichkeit) in vielen europäischen Staaten, zu Fehlbildungen und Trisomie 21 in Deutschland nach Tschernobyl werden beiseitegeschoben, obwohl mehrere tausend Kinder davon betroffen sind. Haben wir in Deutschland irgend etwas gelernt, wenn wir ernsthaft über Laufzeitverlängerungen von Kernkraftwerken nachdenken und darum feilschen, ob der Bundestag sich zum 20. Jahrestag der Katastrophe äußert oder nicht?

Sebastian Pflugbeil ist Strahlenphysiker und Präsident der Gesellschaft für Strahlenschutz e.V. Er ist Mitautor des von IPPNW vorgelegten Berichts Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl (2006).

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 16 vom 21.04.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

 Sebastian Pflugbeil gehört zu den Erstunterzeichnern der Erklärung "Für eine grundlegende Wende in der Energiepolitik" von Lebenshaus und Versöhnungsbund zum 20. Jahrestag der Tschernobyl-Katastrophe.

 

Veröffentlicht am

25. April 2006

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