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Die Knochen der Eltern

Psychologie des Terrors: In Argentinien suchen noch immer Kinder von Verschwundenen nach ihrer wahren Identität

Von Julia Knobloch

Vor 30 Jahren gelangten in Argentinien nach einem Putsch die Militärs an die Macht. Unter dem Deckmantel der nationalen Sicherheit begann eine Zeit des Staatsterrors. Über 30.000 Menschen gelten seither als verschwunden. Deren Kinder wurden teilweise mit einer neuen Identität ausgestattet und fremden Familien übergeben. Etwa 500 Jungen und Mädchen wurden auf diese Weise adoptiert. Die meisten von ihnen haben bis heute nicht erfahren, wer ihre wirklichen Eltern sind.

Im Kongress von Buenos Aires blickt Manuel Gonçalvez dem Mörder seines Vaters ins Gesicht. Der Abgeordnete Luis Patti war in den Jahren der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 Polizeioffizier und galt als brutaler Folterer. Nach Aussagen von Zeitzeugen soll er seinerzeit auch für den Tod von Manuels Vater verantwortlich gewesen sein. Ungeachtet der laufenden Ermittlungen gegen ihn errang Patti bei der jüngsten Parlamentswahl ein Mandat für das Abgeordnetenhaus, das an diesem Tag darüber zu befinden hat, ob er vereidigt wird oder nicht.

Vor dem Gebäude kocht die Stimmung, Polizei marschiert auf, Trommelwirbel erschüttert die Avenida Rivadavia. Flugzettel segeln durch die Luft, der Verkehr ist blockiert. Manuel Gonçalvez stürmt mit seinem Freund Horacio Pietragalla kurz vor Eröffnung der Sitzung in den Plenarsaal, um auf der Balustrade ein Transparent zu entfalten. "Völkermörder Patti" steht in roter Farbe auf dem Laken, beide drängen nach vorn, begleitet von Beifall und von Buh-Rufen der Abgeordneten unter ihnen. Vor laufenden Fernsehkameras entladen sich Mut und Verzweiflung. "Mörder", "Folterer" rufen sie in Richtung des Ex-Polizisten, der drunten im Saal zwischen vergoldeten Säulen sitzt - als Manuel in Tränen ausbricht, nimmt ihn Horacio wortlos in den Arm.

Manuel Gonçalvez und Horacio Pietragalla sind Kinder von "desaparecidos" - Söhne von Argentiniern, die in den bleiernen Jahren der Obristen um den damaligen Präsident-General Jorge Videla verhaftet wurden, um danach nie wieder aufzutauchen. Bis heute fehlt von etwa 30.000 Menschen jede Spur. Aber es reichte den Militärs nicht, Zehntausende verschwinden zu lassen, es sollte auch jede Erinnerung an die Opfer ausgelöscht werden: Also entführte man die Kinder. Von über 500 Jungen und Mädchen, deren Eltern die Junta vermutlich umbringen ließ, wurden die Geburtsurkunden gefälscht, um die Kinder zur Adoption durch die Familien von Offizieren, Staatsbeamten, Industriellen oder sonst wie Auserwählten mit einer neuen Identität auszustatten.

Seit 28 Jahren nun schon suchen die Abuelas de Plaza de Mayo (die Großmütter auf der Plaza de Mayo) nach ihren Enkeln - bisher mit nur mäßigem Erfolg, denn trotz einer inzwischen umfangreichen Datenbank konnten nur 82 der seinerzeit durch die Zwangsadoption versteckten Kinder gefunden werden.

Der Nächste ist für mich

Manuel Gonçalvez erfuhr die Wahrheit über seine wirkliche Identität vor zehn Jahren, Horacio Pietragalla erst im April 2003. Am Abend nach ihrem Protest im Kongress sitzt er in einer verrauchten Tango-Bar und erzählt seine Geschichte.

Als er im März vor 30 Jahren in Buenos Aires auf die Welt kommt, ist sein Vater schon fünf Monate tot - erschossen von der Antikommunistischen Allianz Argentiniens (Triple A), einer femeartigen ultrarechten Todesschwadron, die sich des Wohlwollens der Armee sicher sein kann. Der Soziologiestudent hat mit den Monteneros, revolutionären Linksperonisten, für ein anderes Argentinien gestritten. Seine Frau Liliana Corti, damals im vierten Monat schwanger, muss nach seinem Tod untertauchen. Ein Sohn und eine Tochter des Paares sind früh gestorben, als einziger Halt bleibt Liliana das Kind, das sie erwartet. Nach der Geburt nennt sie den Jungen Horacio, wie auch der Vater geheißen hat. Ständig wechselt sie die Tarnnamen und von einer illegalen Wohnung zur anderen. Ins Exil zu gehen lehnt die 26-Jährige ab und schwebt damit Tag für Tag in höchster Gefahr.

Während eines Montenero-Treffens im August 1976 sprengen plötzlich Soldaten die Tür zu Lilianas letzter Zuflucht und erschießen innerhalb von Sekunden alle Frauen und Männer, die sich dort versammelt haben. Der fünf Monate alte Horacio überlebt das Massaker in der Badewanne, in die Liliana ihren Sohn gerade noch gelegt hat. Die Militärs nehmen den Jungen mit. Ein Verwandter des kommandierenden Leutnants wartet schon. "Der nächste Junge ist für mich", zitiert Pietragalla heute die Abmachung von damals. "Irgendwann aber überkamen meine Ziehmutter schwere Skrupel, und sie wusste plötzlich nicht mehr, wohin mit mir. Sie hatte ein Mädchen gefunden, das sie lieber adoptieren wollte - so landete ich bei der Haushälterin."

Horacio wächst in der Familie Castillo auf. Doch das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, beschleicht ihn früh. Die Eltern, deren leiblicher Sohn er angeblich ist, sind klein und glatthaarig; César, wie Horacio nun gerufen wird, will gar nicht aufhören zu wachsen. Und warum gibt es nirgendwo ein Foto seiner Mutter aus der Zeit, als sie mit ihm schwanger war? César fühlt sich umgeben von einer Mauer des Schweigens und der Lügen. Erst nach langen, zermürbenden Jahren wagt er den Schritt, der sein Leben auf den Kopf stellen wird: Er kontaktiert die Nationale Kommission für das Recht auf Identität (CONADI), Schaltstelle zwischen den Großmüttern der Plaza de Mayo und dem Staat. Es dauert knapp zwei Monate, dann hält er das Ergebnis ihrer Recherchen schwarz auf weiß in der Hand.

Für die Castillos reicht ein nur kurzer Blick auf den richterlichen Erlass, um zuzugeben, was Horacio schon weiß. "Ich habe nicht begriffen, wie sie zu diesem Betrug fähig sein konnten. Warum haben sie später, als ich erwachsen war, nie mit mir über die Adoption gesprochen? Ich wäre glücklich gewesen, hätten sie mir geholfen, meine Wurzeln zu finden." Horacio Pietragalla kramt sein Portemonnaie aus dem Rucksack hervor und legt einen alten und einen neuen Ausweis auf den Holztisch der Bar. Aus dem mürrisch blickenden César Castillo ist ein anderer geworden.

Mein unbekannter Bruder

Pedro Nadal hat Ähnliches erlebt. "Der Polizist, der mich raubte, log mir bis zu seinem Tod vor, ich sei sein Sohn, meine leibliche Mutter habe mich verstoßen", erzählt der heute 30-jährige Informatiker bei einem Spaziergang durch den alten Hafen von Buenos Aires. Weil er die Geschichte seines vermeintlichen Vaters irgendwann nicht mehr glaubt, wächst Pedros Misstrauen, aber einen Gentest zögerte er hinaus. Erst ein Gesuch bei den Abuelas der Plaza de Mayo bringt den Stein ins Rollen.

Heute weiß Pedro: Seine Mutter hieß Hilda Magdalena Garcia und war 18 Jahre alt, als sie für immer verschwand. Seinen ehemaligen Namen Luis führt Pedro weiter im Pass, das alte Leben und die Jahre mit den fremden Eltern lassen sich nicht einfach abstreifen. Schuldgefühle empfindet er nicht: "Die Menschen, die mir immer versicherten, mich zu lieben, haben nur an sich, nie an mich gedacht". Nur, dass soviel Zeit vergehen musste, bevor Gewissheit bestand, bedauert er.

Seine Großeltern waren bereits verstorben, als Pedro seine "Identität zurückerhielt", wie er es nennt. Doch gab es jemanden, der ihn ein Leben lang gesucht hatte und nach 29 Jahren in die Arme schließen konnte - sein leiblicher Vater. Ein Jahr ist vergangen, seit sie sich zum ersten Mal trafen. Pedro lächelt schüchtern. "Nur wenige haben dieses Glück. Es dauert, bis man sich näher kommt - das ist nicht einfach." Der Vater lebt tausend Kilometer von Buenos Aires entfernt, die beiden sehen sich selten. Halt findet Pedro bei seiner eigenen Familie. Wenn aber der sechsjährige Sohn fragt, warum er jetzt anders heiße, weiß Pedro nicht recht, was er antworten soll.

Die Vergangenheit lastet wie ein Schatten auf der argentinischen Gesellschaft. Das Trauma der Repressionen ist nicht verwunden: Es gibt Misstrauen und die Angst, unversehens neben dem Mörder der Eltern zu stehen. Noch immer suchen viele in fremden Gesichtern nach etwas Vertrautem und warten darauf, dass der unbekannte Bruder oder die geraubte Schwester eines Tages doch auftaucht.

Für Horacio Pietragalla gibt es inzwischen einen Ort zum Trauern. Es war gerade drei Monate her, dass er die Wahrheit über seine Herkunft erfahren hatte, als Forensiker die sterblichen Überreste seines Vaters und später die seiner Mutter exhumierten. "Ich musste unbedingt ihre Knochen anfassen. Ich weiß, das klingt makaber, aber es war mir so wichtig, einmal irgendetwas von ihnen berühren zu können." Er hat die Eltern neben seinem Bruder und seiner Schwester beerdigt und ihnen damit etwas von ihrer Identität zurückgeben wollen - und wenn es nur zwei Namen auf einem Grabstein sind.

Auch der Staub ist schon Geschichte

Argentiniens Präsident Néstor Kirchner hat Aufklärung und Wiedergutmachung zur Chefsache erklärt. Die Gesetze von 1987, die den Militärs eine großzügige Amnestie gewährten, sind inzwischen aufgehoben. Kinder von Verschwundenen erhielten vom Staat symbolische Entschädigungszahlungen im Wert von umgerechnet bis zu 56.000 Euro. Kirchner hat ehemalige Widerstandskämpfer in sein neues Kabinett berufen. 30 Jahre nach dem Militärputsch sucht Argentinien nach einem Weg zu Wahrheit und Gerechtigkeit. Auch die Abgeordnetenkammer, die eine Vereidigung des einstigen Polizeioffiziers Luis Patti schließlich mit überwältigender Mehrheit ablehnte. Nur wenige Täter sind rechtskräftig verurteilt. Wie Pinochet im benachbarten Chile steht auch in Argentinien der greise Ex-Diktator Videla lediglich unter Hausarrest.

Unsichtbare Wege führen zurück, Wege der Erinnerung, der Trauer und Wut, mitten durch das energisch klare Raster der Häuserblocks von Buenos Aires. Dort entlang tasten sich die Kinder der Verschollenen durch eine Stadt, die auf keinem Plan eingezeichnet ist. Sie laufen vorbei an einem Haus, in dem ihre Eltern erschossen wurden. Sie spiegeln sich in der Scheibe des Cafés, in dem sie das letzte Mal gesehen wurden. Aber auch der Staub ist schon Geschichte.

"Um meine Eltern kennen zu lernen, musste ich mich in mir selber spiegeln. Ich habe Eigenschaften entdeckt, die nur von ihnen stammen können. Keiner hat sie mir anerzogen, keiner kann sie mir nehmen …" - Horacio Pietragalla hat sich nach drei Jahren "Vergangenheitsbewältigung", wie er sagt, auf den Weg nach Peru, Mexiko und Europa gemacht. Auf eine Reise zu sich selbst. In das Land, für das seine Eltern ihr Leben ließen, will er zurückkehren.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 14 vom 07.04.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Julia Knobloch und Verlag.


Veröffentlicht am

23. April 2006

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