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Der Sieg als Niederlage

Kommunale Tarifabschlüsse: Verdi fehlt derzeit die Kraft, um eine Entsolidarisierung von unten aufzuhalten

Von Robert Kurz

Auf kommunaler Ebene sind die öffentlichen Arbeitgeber in Baden-Württemberg, Niedersachsen und Hamburg mit dem Versuch gescheitert, die Wochenarbeitszeit auf Oststandard und damit 40 Stunden zu bringen. Nach neun Wochen Streikbewegung kam freilich ein eher schwacher Kompromiss heraus: Die in den vergangenen Monaten zu ungünstigen Sonderkonditionen neu Eingestellten werden in den Tarifvertrag zurückgeholt und müssen eine Stunde weniger arbeiten - dafür das Gros der schon länger Beschäftigten mit bestehenden Verträgen eine halbe Stunde mehr. Die Länder dagegen bleiben hart und verweigern einen Abschluss unter 40 Stunden, in der Hoffnung, dass Verdi irgendwann oder bald die Puste ausgeht.

Schon jetzt ist absehbar, dass sich im öffentlichen Dienst ähnlich wie in den privaten Industrie- und Dienstleistungssektoren die Erosion der Flächentarife fortsetzen wird. Während die Kommunen immer mehr Bereiche in die Privatisierung mit tariflichem Wildwuchs entlassen, werden auf Länderebene Beschäftigte bei Neueinstellungen, bei Beförderungen, bei einem Stellenwechsel oder der Verlängerung befristeter Verträge weiterhin gezwungen, 40 (in Bayern sogar 42) Stunden zu arbeiten und auf Weihnachts- und Urlaubsgeld zu verzichten. Die Länder weigern sich strikt, den seit Oktober 2005 für den Bund und die Kommunen geltenden Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TvöD) zu übernehmen.

Unter dem Strich könnte sich daher der Teilsieg bei den bisherigen kommunalen Abschlüssen für die Gewerkschaft in eine Niederlage verwandeln. Der Widerstand, um sich gegen ausgehöhlte, verschlechterte Vertragskonditionen zur Wehr zu setzen, war offenbar nicht hinreichend genug. Ein kurzer, aber einschneidender und tatsächlicher Flächenstreik hätte größeren Druck ausgeübt als die über Monate sich hinschleppende Taktik der Nadelstiche. Aber dafür fehlt nicht nur Verdi zunehmend die Kraft - nach einer Erklärung dafür muss nicht lange gesucht werden: Die Erosion der Flächentarife, wie sie von oben betrieben wird, trifft sich mit einer Tendenz zur Entsolidarisierung von unten. Die Klinikärzte haben Verdi verlassen, um für sich separat mehr herauszuholen. Nicht die miserablen Gesamtbedingungen im Gesundheitswesen sind ihr Thema - es ist die Perspektive, dass eine Anästhesieärztin kaum noch mehr verdient als eine Krankenschwester. Die Interessen gehen auseinander, ihre Integration bröckelt. In der FAZ wird schon gemutmaßt, dass den Separatismen "der Pilotenvereinigung Cockpit oder der Gewerkschaft der Lokführer bald Verbände der Rechenzentren oder Werksfeuerwehren folgen könnten". Im Metallbereich und anderen Branchen haben Öffnungsklauseln die Tariflandschaft längst in Richtung firmeneigener Abschlüsse verändert. Die allgemeine postmoderne Individualisierung wird ergänzt durch die "neue Tarifwelt", die dafür sorgt, dass sich die Unterschiede im Einkommens- und Lebensniveau drastisch verschärfen.

In einer erkennbar härter werdenden Krisenökonomie gelten die aus den Zeiten der Prosperität überkommenen Solidaritätsvorstellungen und Kampfbedingungen nicht mehr. Handelsblatt-Chefredakteur Bernd Ziesemer höhnt, in den Nachhutgefechten um die 38,5-Stundenwoche im öffentlichen Dienst seien die Gewerkschaften dabei, "ihre kulturelle Hegemonie in ihren eigenen Kernschichten zu verspielen". Ihre "Deutungsmacht im gesellschaftspolitischen Diskurs" hätten sie längst eingebüßt - es fehle ihnen "jede überwölbende Strategie". Gemeint ist natürlich das Postulat, man möge sich stärker an die Krisenbedingungen und an eine staatliche Krisen- und Notstandsverwaltung anpassen.

Von einer "Resolidarisierung" kann in der Tat keine Rede sein, solange es die Gewerkschaften tunlichst vermeiden, den Zustand der Gesellschaft offensiver zu thematisieren - so lange ihre Assimilation mit einem parteiübergreifenden neoliberalen Diskurs fortschreitet und eine neue Kapitalismuskritik auf der Höhe der Zeit tabu bleibt. Es bringt nichts mehr, den Rahmen der herrschenden Ordnung blind vorauszusetzen und sich darin ein erträgliches Leben ausrechnen zu wollen. Mit dem traditionellen Konzept, die Lebensinteressen an Wachstum und gelingende Realakkumulation zu binden, ist Kampfkraft nicht wiederzugewinnen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 15 vom 14.04.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Robert Kurz und Verlag.

Veröffentlicht am

17. April 2006

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