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Wo ist der palästinensische Gandhi?

Von John Petrovato, 04.03.2006

Während einer Vorlesung an der Universität von Orgon wurde Yuval Rabin, der Sohn des verstorbenen israelischen Ministerpräsidenten Yitzhak Rabin, gefragt, ob er glaube, dass ein palästinensischer Führer auftauchen würde, der mit Israel Frieden schließt.

Rabin antwortete mit Skepsis: “Wir können nicht weitere 30 oder 40 Dekaden warten, bis ein palästinensischer Gandhi auftaucht. Er wiederholte auch das oft zitierte: “Es gibt keinen palästinensischen Gandhi” und “Palästinenser neigen nicht zu Friedfertigkeit”. Sie wenden keine Gewaltlosigkeit als Taktik für ihre Beschwerden an. Die Palästinenser versuchen, stattdessen mit Gewalt und Terror ihre Ziele zu erreichen.

Aber haben Palästinenser tatsächlich die Gewaltlosigkeit aufgegeben? Haben die Reporter in aller Welt den gewaltfreien Aufstand während der 1. Intifada wirklich vergessen? Und was ist mit der israelischen Besatzung Palästinas? Warum wird die Besatzung nicht als eine Art Gewalt angesehen (es ist strukturelle Gewalt)?

Die Palästinenser haben unendlich viele Techniken des gewaltfreien Widerstandes, einschließlich Streik, Boykott, Steuerrevolten und friedliche Demonstrationen angewandt. Während die 2. Intifada von mehr gewalttätigen Vorfällen begeleitet war, wurde auch jetzt in hohem Maße Gewaltlosigkeit angewandt. Tatsächlich vergeht keine Woche, in der Palästinenser nicht gewaltfreie Demonstrationen organisieren. Gerade in der vergangenen Woche waren z.B. wieder gewaltfreie Proteste in Bil’in, Beit Sira und Aboud, Dörfer westlich von Ramallah. Alle diese Dörfer und Dutzende andere hatten während des ganzen vergangenen Jahres regelmäßig Friedensproteste. Aber wie allen andern Protesten wurden auch diesen Protesten (gegen Landraub und Mauerbau) von israelischem Militär mit Gewalt begegnet. Das Militär feuert mit (dünnem) Gummi ummantelten Stahlkugeln, die schon ein halbes Dutzend Leute verletzt haben, feuerte Tränengas, griff tätlich an und verhaftete 15 Männer. Natürlich hören Amerikaner nie von friedlichen Demonstrationen, die brutal unterdrückt werden. Die Demonstranten werden nicht nur von Gummikugeln und Tränengas beschossen, sie werden auch mit Schlagstöcken zusammen geschlagen, auf dem Boden entlang gezogen, an die Fahrzeuge gekettet und verhaftet. Die Ignoranz der amerikanischen Öffentlichkeit über die gewaltfreien Demonstrationen und die gewalttätigen Reaktionen der israelischen Regierung muss zum großen Teil den Medien angelastet werden.

Wie und warum bleibt solche - obwohl umfangreich praktizierende - Gewaltlosigkeit unsichtbar? Zum einen fahren tatsächlich nur wenige Journalisten in die palästinensischen Gebiete. Während meines 6-Wochenaufenthaltes in der Westbank nahm ich an vielen gewaltfreien Protesten teil und begegnete nur einmal einem Journalisten aus dem “Westen” (einem kanadischen Rundfunkreporter, der eine Dokumentation über Checkpoints machte.) Auf diese Weise wird über Aktionen des israelischen Militärs während gewaltfreier Demonstrationen nur von arabisch-sprechenden Medien berichtet. Wie die Reporter im Irak bleiben die meisten Reporter in sicheren Bereichen wie Jerusalem oder Tel Aviv; sie sind darum keine direkten Augenzeugen. So bleiben ihnen nur Statements, die von israelischen Behörden gemacht werden, und Antworten von palästinensischen Vertretern.

Eine andere Erklärung, warum solche Ereignisse unsichtbar bleiben: wenn Journalisten dabei sind und Berichte machen, bringen die Medien diese ihre Geschichten höchst selten. Zum Beispiel nahm ich an einer massiven gewaltfreien Aktion teil, die vom palästinensischen Dorf Yasuf vor ein paar Jahren organisiert wurde. Mehrere Hunderte Leute aus dem Dorf organisierten einen Versuch, ein Feld abzuernten, das als ” militärische Sperrzone” betrachtet wurde. Diese “Zone” war palästinensisches Land, wo israelische Siedler Palästinenser durch Einschüchterung am Ernten hindern wollten, da diese versuchten, das Land illegal zu annektieren (um es für eigene Zwecke zu benützen). Statt die Siedler daran zu hindern, Gewalt gegen die palästinensischen Bauern anzuwenden, hinderte das Militär die Palästinenser daran, dorthin zu gehen und die Bäume abzuernten. Als Antwort auf die wachsende Frustration, während man sich mit israelischen zivilen Behörden herumstritt (die im Widerspruch zur allgemeinen Auffassung tatsächlich den größten Teil der palästinensischen Gemeinden kontrolliert), entschieden sich die Dorfbewohner, eine gewaltfreie Demonstration zu organisieren und zu diesem oben genannten Land zu gehen. Es waren mehr als 300 Leute, einschließlich Israelis und Internationale Menschenrechtsaktivisten. Die Medien wurden eingeladen und zur Überraschung des Dorfes kamen Reporter von den CBS-Nachrichten. Innerhalb weniger Minuten nach der Ankunft auf dem Feld griffen Dutzende bewaffneter Siedler an, schossen auf die Leute, schlugen sie, warfen Steine etc. Das anwesende israelische Militär beobachtete die Szene nur von ferne und tat nichts. Als die Siedler bemerkten, dass die Gewalt von Medien gefilmt wurde, wandten sie sich diesen zu. Einer der CBS-Reporterinnen wurde das Videofilmgerät aus den Händen gerissen und von einem Siedler auf den Boden geworfen und dann sie selbst auch.

Die Palästinenser, die sich dieser gewaltfreien Demonstration verpflichtet hatten, hatten schließlich Erfolg, indem sie sich ruhig auf den Boden setzten und sich weigerten, wegzugehen. Das Militär forderte am Ende die Siedler auf, sich zu entfernen.

Wurde diese Gewalt durch die bewaffneten israelischen Siedler gegen die unbewaffneten friedlichen Palästinenser von CBS berichtet? Berichteten sie von dem Engagement ganz gewöhnlicher Palästinenser, die Gewaltlosigkeit sogar gegen Siedler üben, die sie physisch angegriffen haben. Es gab in den US-Medien absolut keinen Bericht, keine Erwähnung dieses Ereignisses. Man konnte nur in der arabischen Presse und in alternativen Medien darüber etwas finden.

Während also Gewaltlosigkeit ganz allgemein praktiziert wird, hatte Rabin in einem Punkt recht: es gibt keinen einzelnen palästinensischen Gandhi, vielmehr Hunderte von palästinensischen Gandhis. Da gibt es also keine einzelne zentrale bekannte Persönlichkeit, sondern viele Befürworter der Gewaltlosigkeit. Ich gebe zwei Beispiele dieser unsichtbaren Gandhis, die ich persönlich traf: Ghassan Andoni und Sherif Omar.

Ghassan Andoni ist Arzt in Beit Sahour und Mitbegründer des palästinensischen Zentrums “Rapprochement”. Er hat nicht nur schon viel darüber geschrieben und über dieses Thema Vorträge gehalten. Er hat Bewegungen gegründet und Aktionen geleitet. Er förderte und half mit, internationale Menschenrechtsaktivisten als Zeugen in die Besetzten Gebiete zu bringen, damit sie von den Brutalitäten berichten und an gewaltlosen Aktionen teilnehmen, die von palästinensischen Gemeinschaften initiiert werden. Sein Engagement für Gewaltlosigkeit in den palästinensischen Gebieten hat dahin geführt, dass er für den Friedensnobelpreis in diesem Jahr nominiert wurde.

Sherif Omar, wie Dutzende anderer Aktivisten, ist ein Bauer, der in einem kleinen Dort der Westbank lebt. Er hat sich unermüdlich darum bemüht, die negativen Auswirkungen der Mauer auf die palästinensischen Dörfer bekannt zu machen und gewaltfreien Widerstand zu organisieren. Sein Schreiben und Organisieren und sein Engagement der Gewaltfreiheit hat ihn mit Würdenträgern und Staatsmännern aus aller Welt zusammengebracht, die von ihm mehr über den Konflikt wissen wollten. Wie viele Aktivisten hat er persönlich Land im Wert von vielen Tausend Dollar durch die Mauer verloren. Doch statt seine Zuflucht bei der Gewalt zu suchen, besteht er darauf, dass gegen solch ungerechte Politik Widerstand nur gewaltfrei sein kann. Er sagte: “Wir haben früher mit Juden in Frieden gelebt und eines Tages werden wir es wieder; Gewalt wird uns nicht an diesen Punkt führen.”

Obwohl Gewaltlosigkeit in den palästinensischen Gebieten weit verbreitet ist und inzwischen viele Konferenzen darüber abgehalten wurden, gibt es keine weit verbreitete Bewegung wie in Indien. Es gibt dafür mehrere Gründe. Als erstes war die israelische Reaktion auf gewaltlose Aktionen mit hohem Grad gewalttätiger Unterdrückung verbunden. Organisatoren dieser gewaltfreien Aktionen wurden verhaftet und jahrelang im Gefängnis fest gehalten. Auf gewaltlose Demos wurde mit Tränengas, Verhaftungen und mit Gummigeschossen reagiert, die schwere Verletzungen, ja, sogar Todesfälle zur Folge hatten. Ein Dorf, das eine gewaltfreie Aktion versucht, wird kollektiv von den israelischen Behörden durch Beschießen der Wassertanks bestraft, wie ich es selbst in Jayyus erlebt habe; man lässt die Leute nicht mehr aus dem Dorf, man verhindert sie an der Ernte ihrer Felder; dazu kommen tägliche Überfälle des israelischen Militärs auf diese Dörfer. Israel reagiert viel härter als die Briten in Indien, als sie den gewaltlosen Widerstand unterdrücken wollten. (d.h. nicht, dass die Briten gegen indische Bürger nicht auch brutal vorgegangnen sind.) Zum andern gibt es eine demographische Tatsache: Indien hatte verglichen mit der kleinen britischen Besatzungsmach eine viel größere Bevölkerung; die israelische Bevölkerung dagegen ist größer als die palästinensische. Und wenn einzelne wegen ihres gewaltfreien Widerstandes Bekanntheit erlangten, wurden sie verhaftet, ausgewiesen oder getötet. Schließlich - und dies ist vielleicht das wichtigste - sehen viele Israelis die Westbank als einen Teil vom Land Israel an. Vor langem wurde die Westbank (deren Namen so nicht auf israelischen Karten auftaucht) in Judäa und Samaria umbenannt. Es sind Gebiete die vor 2000 Jahren zum alten Israel gehörten. Indien dagegen wurde nie als Teil des britischen historischen Erbes angesehen, so wie Israel die palästinensischen Gebiete betrachtet.

Was mich bei Diskussionen über Gewalt und Gewaltlosigkeit im Zusammenhang mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt immer verwundert hat, war die Anmaßung, mit der Israel sich allein als Opfer sah und behauptete, dass es nur dann Gewalt anwende, wenn es sein muss. Aus fast allen Kommentaren wurde eine Grundtatsache ausgelassen, dass nämlich die Besatzung als solche Gewalt ist. Die Besatzung versucht, die Palästinenser zu kontrollieren, in dem sie sie in ihrer Bewegung einschränkt, ihre Wirtschaft kontrolliert, das Land für die Entwicklung der nur-jüdischen Siedlungen raubt, und indem es ihm Gesetze auferlegt. Dies alles wird mit massivem militärischen Einsatz durchgesetzt, was ständig zu Verletzungen der Menschenrechte führt, wie internationale Organisationen feststellen. Außerdem wird auf palästinensischem Land die eigene jüdische Bevölkerung (400.000 Siedler) angesiedelt, was auch gegen das Völkerrecht verstößt. … Hunderte von Menschenrechtsorganisationen haben die Verletzung der Menschenrechte dokumentiert. Z. B. der Amnesty International-Bericht: “Israel und die besetzten Gebiete - vor prüfendem Blick abgeschirmt.” In diesem dokumentiert a.i. die ständigen und systematischen Menschenrechtsverletzungen durch das israelische Militär wie außergerichtliche Todesstrafe (“gezieltes Töten”), Folter von Gefangenen/Verhafteten, absichtliches Zerstören von Häusern - manchmal mit den Bewohnern drinnen, Verweigerung von Medikamenten, Verweigerung des Zuganges zu medizinischer Versorgung an den Checkpoints, Verweigerung humanitärer Hilfe, Missbrauch palästinensischer Zivilisten als menschliche Schutzschilde während militärischer Einsätze, Verhinderung der Bildung und vieles mehr.

Ohne das Wissen über die weit verbreiteten, nicht oder kaum berichteten Gewalttätigkeiten, mit denen sich Palästinenser tagtäglich auseinander setzen müssen, ist der israelisch-palästinensische Konflikt im allgemeinen und besonders der Widerstand gegenüber dieser Politik nicht zu verstehen.

Statt über die Gewalt gegen die Palästinenser zu berichten, die unter harten Bedingungen der Besatzung leben und tausendfach den gewaltlosen Widerstand versuchten, konzentrieren sich die “westlichen” Medien auf die gewalttätigen Reaktionen von ein paar Leuten. In dem sich die meisten Medien auf die Gewalt der Palästinenser und auf die sog. “Antwort” durch Israel konzentrieren, stellen sie den Konflikt in einer Weise dar, der das eigentliche Wesen des Konfliktes falsch beschreibt. Er wird als ein Konflikt dargestellt, in dem es entweder um Religion, eine Art “ur-ethnischen Kampf” geht, der den Nahen Osten beeinträchtigt, oder - noch schlimmer - als einen “Kampf der Kulturen” (Huntington). Diese scheinbar übereinstimmende und einmütig falsche Darstellung ist indirekt an der Fortsetzung des Konfliktes mit schuld, weil man der wirklichen Ursache des Konfliktes nicht die richtige Aufmerksamkeit schenkt, nämlich der Besatzung und dem Besiedeln der palästinensischen Gebiete (durch jüdische Siedler). Die Unsichtbarkeit der gewaltfreien Aktionen und Bewegungen hilft Israel und denen im Westen, die die Idee des “Kampfes der Kulturen” verbreiten. Wenn der gewaltlose Kampf der Palästinenser sichtbar gemacht würde, würden dem westlichen Publikum die Palästinenser menschlich erscheinen. (Genau das ist nicht erwünscht - E.R.)

Leider sagten mir viele Palästinenser, dass sich ihr Engagement der Gewaltlosigkeit als ein Fehler herausgestellt habe. Sie verstünden nicht, warum westliche Medien sie bei so viel gewaltfreien Aktionen noch immer nur als Terroristen darstellen würden. Selbst ein Führer wie Abbas, der eine gerechte und friedliche Lösung sucht, hat keinen Erfolg. Aus dieser Verzweifelung und dieser Frustration heraus, als für gewöhnliche Leute während des sogenannten “Friedensprozesses” die Situation nur noch schlimmer wurde, haben viele von ihnen bei den letzten Wahlen Hamas gewählt. Indem man Gewaltlosigkeit kriminalisiert und schwer bestraft hat und mit den palästinensischen Führern, die für Frieden arbeiteten, nicht zusammen gearbeitet hat, halfen die israelischen Behörden bei der Wahl von Hamas mit.

Auf die Frage: “Warum gibt es keinen palästinensischen Gandhi?” müssen wir folgendes antworten: “Letztlich müssen wir den westlichen Medien die Schuld geben, weil sie die Ereignisse vor Ort verzerrt darstellen und nicht den richtigen Kontext für geschriebene Berichte liefern und damit die Öffentlichkeit unverantwortlich in die Irre leiten. Dies sind ernsthafte Fragen über Leben und Tod. Deshalb muss das Versäumnis der Medien, die Situation richtig darzustellen, als kriminell angesehen werden. Und statt zu fragen: “Warum gibt es keinen palästinensischen Gandhi?” sollte man über die Frage nachdenken, die von einem palästinensischen Menschenrechtler, Arjan El Fassed, gestellt wurde: “Warum gibt es keinen israelischen De Klerk?”

Übersetzt und geringfügig gekürzt: Ellen Rohlfs. Originalartikel: Where is the Palestinian Gandhi? in: International Middle East Media Center

Veröffentlicht am

16. März 2006

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