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Die Nachwirkungen des Schocks

Mitri Raheb, Bethlehem 27. Januar 2006

Die überwiegende Mehrheit der palästinensischen Meinungsumfragen im Vorfeld der Wahlen war trügerisch. Sie alle hatten mehr oder weniger 40% der möglichen Stimmen für die regierende Fateh, 40% für Hamas sowie rund 20% für die vier kleinen ‘unabhängigen’ bzw. ‘linken’ Parteien vorausgesagt.

Mit so einem Ergebnis hätte jeder zufrieden sein können. Fateh war sich sicher, weiterhin die führende Partei sein zu können, auch wenn sie sich in einer Koalition mit einer oder zwei der kleinen Parteien hätten einigen müssen, um eine Regierung bilden zu können.

Hamas wäre mehr als zufrieden gewesen so viel Stimmen gewonnen zu haben und weiterhin auf dem ‘faulen Stuhl’ in der Opposition bleiben zu können - und die kleinen Parteien hätten das Gefühl bekommen wichtig zu sein - sei es als Makler oder ‘Störer’ der diversen Geschäfte.

Das Ergebnis aber, mit Hamas als Gewinner der absoluten Mehrheit, war ein Schock für alle. Für Fateh war der Schock, dass sie zum ersten Mal in der Geschichte seit ihrer Gründung 1964 die Macht und die ‘Autorität’ verloren hat. Mit nur 32% der Sitze im ‘Legislative Council’ ist die Fateh nun in der zweiten Reihe, etwas, was die Partei nicht kennt. Die kleinen Parteien waren ebenso geschockt entdecken zu müssen, wie klein sie wirklich sind mit nur 7% aller Stimmen verteilt auf vier Parteien.

Hamas selbst war erstaunt über diesen überrollenden Sieg und war vor allem noch nicht vorbereitet auf das Regieren. Die Palästinensische Bevölkerung war überrascht: obgleich sie für einen Wechsel votieren wollte, hatte sie nicht mit diesem Ausgang gerechnet.

Die USA - Administration reagierte auch erstaunt, denn solch ein ‘demokratisches’ Ergebnis hatte sie nicht erwartet. Und auch Israel war gefangen vor lauter Erstaunen angesichts der Tatsache, dass seine Geheimdienste in den Vorhersagen falsch gelegen haben.

Schlussendlich, die Palästinensischen Christen zeigten sich ebenso bekümmert: sie erhielten 7 Sitze im neuen Parlament, 6 davon sind ihnen vorbehalten entsprechend der Mindestquote die ihnen gemäß des ‘Präsidenten Erlasses’ zustehen.

Alle gewählten sechs Christen waren bzw. sind Abgeordnete der Fateh Partei. Die einzige ‘andere’ Christin, Dr. Hanan Ashrawi, wurde durch die Liste ‘Dritter Weg’ hinein gewählt. Sie war auf dem zweiten Platz der Liste placiert, welche nebenbei erwähnt, die einzigste Liste war, die einen ‘sicheren’ Platz für Christen reserviert hatte.

Für die Mehrheit der Palästinensischen Christen - wie auch für eine signifikant hohe Anzahl säkularer und intellektueller Muslime - ist die soziale Agenda der ‘Islamisierung’ von Hamas beängstigend: Dinge wie z.B. ein ‘Kleidercode’ oder das Verbannen von Alkohol u.ä.

Es wird einige Zeit brauchen bis die weitreichenden Stränge dieses Schocks verarbeitet sind. Dann, wenn dies verarbeitet ist, müssen wir analysieren was wirklich in unserer Gesellschaft geschehen ist. Gestern fragte mich ein Freund: ‘Du warst immer gut im Reden über die endlosen Möglichkeiten angesichts der riesigen Herausforderungen; kannst du sie nun immer noch erkennen?’ Meine Antwort war: ‘Unbedingt!’ Meine Antwort meint damit nicht, dass ich die Sorgen und Gefahren, die sich hinter der ‘Grünen Revolution’ verbergen, reduzieren möchte. Und ich will auch nicht die Möglichkeit einer Islamisierung unserer Gesellschaft herunterspielen, ebenso wie potentielle Auseinandersetzungen zwischen Hamas und Fateh bzw. die Wahrscheinlichkeit einer Isolierung Palästinas durch die Internationale Gemeinschaft. - Nun muss man aber die andere Seite der Medaille sehen:
Dies ist das erste Mal im Mittleren Osten, dass die ‘Spielregeln’ einer einzigen Partei friedlich durch demokratische Wahlen beendet wurden. Aber wir können das Rotieren politischer Macht nicht als besten Weg akzeptieren. Die Menschen haben entschieden, dass es nun ‘genug’ ist mit Fateh und ihren Spielregeln. Sie votierten für einen Wechsel. Dieser Wechsel hat nicht nur mit der Macht und dem Einfluss von Hamas zu tun, sondern auch mit einem notwendigen Prozess in unserer Gesellschaft. In Wahrheit bedeutet dieser Wechsel auch das Ende der PLO, so wie wir sie kennen, denn ihre Parteien und Strukturen haben keinerlei Bezug mehr zu den Anliegen der palästinensischen Gesellschaft.

Eine neue politische Landkarte muss nun entstehen. Dieser Prozess bringt auch unendliche Möglichkeiten mit sich. Die Identität der Fateh nach Arafat muss neu geformt werden. Die linken Parteien in Palästina müssen nun aus ihren süßen Träumen und Ideologien aufwachen, sich zusammenfinden, restrukturieren und eine neue Vision entwickeln. Hamas ist nun gezwungen ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen, um liefern zu können was sie versprachen - und um zu lernen wie eine Regierung aufzubauen ist anstatt im ‘faulen Stuhl’ der Opposition zu verharren. Die Menschen in Palästina werden sich daran gewöhnen müssen regelmäßig ihre Repräsentanten durch das Medium der demokratischen Wahlen zur Rechenschaft zu ziehen.

Schlussendlich, was ist mit uns Palästinensischen Christen? Meine Antwort darauf ist, dass wir aufgerufen sind uns nicht zu fürchten - noch panisch zu reagieren und uns nicht von der politischen Sphäre zurückziehen!

Wir sind aufgerufen, uns nicht einfach nur wie Zuschauer zu fühlen, sondern mitzuwirken und mitzugestalten bei der Suche nach einer neuen palästinensischen Identität. Wir sind aufgerufen, die alten und ineffektiven Strukturen abzulösen und in einem engagierten Prozess des Aufbaus zu ersetzen durch ein neues politisches Systems, welches modern, bedeutend und berechenbar ist.

Im Kontext der Instrumentalisierung von Religionen sind wir aufgerufen für eine neue Form von tiefer Spiritualität zu sorgen. Und im Kontext der Desorientierung ist es unsere Berufung eine Vision neuer Hoffnung und dynamischer Identität anzubieten. Dies ist nicht nur eine Herausforderung, sondern auch eine Ehre und ein Privileg daran mitwirken zu können. Es scheint, dass wir in Zeiten, wie dieser, am meisten gebraucht werden.

Rev. Dr. Mitri Raheb ist Pfarrer der evangelisch-lutherischen Weihnachtskirche in Bethlehem. Als gebürtiger Bethlehemer ist Raheb, der in Deutschland studiert hat, ein einflussreicher Mittler im arabisch-israelischen Konflikt.

Veröffentlicht am

06. Februar 2006

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