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Die zweite Schuld

Der Fall Pfaff und die Einschläferung des Gewissens: Verteidigungsministerium und Bundeswehrführung haben sich für Totschweigen und Aussitzen entschieden

Von Jürgen Rose

Am 7. Dezember 2005 hatte Harold Pinter anlässlich seiner Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis der Welt den Spiegel vorgehalten, als er über die Kunst, die Wahrheit und die Politik sprach. Er kam dabei auch auf das Motiv, das Politiker veranlasst, ihr Publikum in Unmündigkeit zu halten, “weil die Mehrheit der Politiker, nach den uns vorliegenden Beweisen, an der Wahrheit kein Interesse hat, sondern nur an der Macht und am Erhalt dieser Macht. Damit diese Macht erhalten bleibt, ist es unabdingbar, dass die Menschen unwissend bleiben, dass sie in Unkenntnis der Wahrheit leben, sogar der Wahrheit ihres eigenen Lebens.”

Hierzulande wird dieser Befund nicht zuletzt durch infame Praktiken bestätigt, mit denen politische und militärische Entscheidungsträger ein höchstrichterliches Urteil totzuschweigen suchen, das ihre Kreise nicht unerheblich zu stören droht. Gemeint ist die Entscheidung des zweiten Wehrdienstsenats am Bundesverwaltungsgericht Leipzig vom 22. Juni 2005. Immerhin war an diesem Tag Major Florian Pfaff, ein Stabsoffizier der Bundeswehr, von einem der schwerwiegendsten Vorwürfe freigesprochen worden, die gegen einen Soldaten erhoben werden können: dem der Gehorsamsverweigerung. Mehr noch: Die Bundesverwaltungsrichter erteilten der rot-grünen Regierung wegen der deutschen Unterstützungsleistungen für die US-Aggression gegen den Irak im Jahr 2003 eine scharfe Rüge - gegen diese Maßnahmen sprächen, so die höchstrichterliche Entscheidung, “gravierende völkerrechtliche Bedenken”.

Ministerielle Sprachregelungen

Selbst wenn man den geschilderten Sachverhalt lediglich als Einzelfall bewertet, hätte er Anlass sein müssen für eine intensive, wenn nicht stürmische Debatte in der Bundeswehr. Die Richter hatten ihren Freispruch entscheidend damit begründet, dass die grundgesetzlich absolut geschützte Freiheit des Gewissens Vorrang habe gegenüber der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte. Und das selbst im Verteidigungsfall. Denn: “Das Grundgesetz normiert … eine Bindung der Streitkräfte an die Grundrechte, nicht jedoch eine Bindung der Grundrechte an die Entscheidungen und Bedarfslagen der Streitkräfte.” Als wäre dies nicht schon brisant genug, knüpfte das Bundesverwaltungsgericht außerdem die soldatische Gehorsamspflicht an die Voraussetzung, dass die von den politischen Entscheidungsträgern erteilten Einsatzaufträge völkerrechtskonform sein müssten. Bereits in dem Moment, da ein Bundeswehreinsatz völkerrechtlich auch nur umstritten sei, eröffne sich ein Freiraum für die individuelle Gewissensentscheidung des Soldaten.

Auf den Punkt gebracht heißt das: Das Primat der Politik gilt nur innerhalb der Grenzen von Recht und Gesetz - jenseits davon herrscht das Primat des Gewissens! Eine derartige Konklusion hätte die Bundeswehr eigentlich elektrisieren müssen - geradezu ein Gebot der geheiligten Inneren Führung.

Auch ganz praktische Erwägungen legen die umfassende Information der Soldaten über das Leipziger Urteil und dessen gründliche Erörterung nahe. Sie betreffen primär Verpflichtungen, die von der Bundesrepublik Deutschland mit der “NATO Response Force” wie den “EU Battle Groups” - weltweit operierenden Interventionskräften - eingegangen wurden. Gemäß den gültigen Einsatzdoktrinen soll zwar stets ein Mandat des UN-Sicherheitsrates eingeholt werden, bevor diese Verbände in Marsch gesetzt werden, wie dies vom Völkerrecht ausdrücklich verlangt wird. Sollte freilich ein derartiges Mandat ausbleiben, behalten sich NATO und EU vor, gegebenenfalls eigenmächtig zu handeln.

In einem solchen Fall entfaltet das Leipziger Urteil seine ganze Brisanz, denn jeder Bundeswehrsoldat, der als Angehöriger der genannten Formationen in einen völkerrechtlich zweifelhaften Militäreinsatz befohlen wird und dies mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann, darf den Gehorsam verweigern. Er muss lediglich seinen Gewissenskonflikt rational nachvollziehbar darlegen und begründen, während seine Vorgesetzten verpflichtet sind, ihm eine das Gewissen schonende Handlungsalternative anzubieten. Konsequenz: die Einsatzbereitschaft der Interventionskorps von NATO und EU wird künftig von den allfälligen Gewissenskonflikten der beteiligten deutschen Soldaten abhängen. Gleiches gilt, sollte Bundeswehrangehörigen befohlen werden, völkerrechtlich umstrittene oder geächtete Waffen und Munition einzusetzen. Atomwaffen etwa, die im Rahmen der “nuklearen Teilhabe” auf dem Fliegerhorst Büchel in der Eifel lagern. Auch Flugzeugbomben, Artillerieraketen mit Streumunition, Brandwaffen (Napalm, weißer Phosphor) und Minen zählen dazu. Mit Sicherheit prekär wäre auch der Befehl an einen Jagdpiloten der Bundesluftwaffe, gemäß dem Luftsicherheitsgesetz ein Zivilflugzeug abzuschießen. Das bis dato verfassungsrechtlich umstrittene Gesetz wird derzeit vom Bundesverfassungsgericht geprüft.

Ungeachtet solcher Unwägbarkeiten herrscht in der gesamten Bundeswehr ohrenbetäubendes Schweigen hinsichtlich der Causa Pfaff. Totschweigen, Aussitzen und den Soldaten Pfaff selbst mundtot machen, scheint die Devise. Dafür gibt es gleich mehrere Indizien. So liegt bis heute keine offizielle Stellungnahme aus dem Berliner Bendlerblock zu dem Leipziger Urteil und seinen möglichen Folgen vor. Auf entsprechende Nachfrage wird regelmäßig darauf verwiesen, eine “Argumentations- und Entscheidungshilfe für Kommandeure und Dienststellenleiter” werde noch erarbeitet. Die soll zu einem korrekten “Umgang mit Soldaten und Soldatinnen, die aus Gewissensgründen Befehle nicht befolgen wollen” verhelfen. Ansonsten wird das Urteil in seiner Bedeutung heruntergespielt. Nach Auffassung des Verteidigungsministeriums ist es “durch die besonderen Umstände des Einzelfalls bestimmt”. Auch sei der Richterspruch in entscheidenden Punkten fehlerhaft, da er das “verfassungsrechtlich geschützte Gut der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte” negiere. Dieser Vorwurf erweist sich bei genauer Lektüre der Urteilsbegründung als an den Haaren herbeigezogen. Dennoch greift die denunziatorische ministerielle Sprachregelung mittlerweile im Kreise der Rechtsberater und militärischen Führungsverantwortlichen um sich.

Selbst der Vorsitzende des BundeswehrVerbandes, Oberst Bernhard Gertz, beteiligt sich vorbehaltlos an derartiger Stimmungsmache. Bereits unmittelbar nach der mündlichen Urteilsverkündung gab der Volljurist zum Besten, man müsse hinsichtlich der Gewissensfreiheit für Soldaten “unterscheiden zwischen Wehrpflichtigen und Zeit- sowie Berufssoldaten”, für den Berufssoldaten gälte “eine deutlich stärkere Pflichtenbindung”. Prompt überschreibt er einen namentlich gezeichneten Artikel in seinem Verbandsorgan mit Gehorsamsverweigerung aus Gewissensgründen? und setzt ein dickes Fragezeichen.

Auch die Militärseelsorge ist taub

Gleichzeitig sieht sich Major Pfaff innerhalb der Bundeswehr mit einem Auftrittsverbot belegt - unter anderem verhängt vom Zentrum für Innere Führung, als dort ein Seminar zum Thema Soldat und Ethik stattfand. Pfaff wollte hier über seinen Fall informieren, war aber nicht erwünscht. Auch sein Angebot, bei anderen wichtigen Ausbildungseinrichtungen der Streitkräfte aufzutreten - an den Bundeswehruniversitäten, der Führungsakademie, den Offizierschulen von Heer, Luftwaffe und Marine sowie der Akademie für Information und Kommunikation - wurde entweder übergangen oder unter fadenscheinigen Vorwänden zurückgewiesen. Selbst die Militärseelsorge stellte sich taub.

Dem Autor erging es nicht anders, nachdem er im Wehrbereichskommando IV in München, bei dem er tätig ist, eine entsprechende Unterrichtung innerhalb der vorgeschriebenen Politischen Bildung vorgeschlagen hatte - ein weiterer Beleg dafür, dass die Bundeswehrführung einen kritischen Diskurs über die Legitimität von Einsätzen, über die Gewissensfreiheit der Soldaten und die Grenzen von Befehl und Gehorsam unbedingt unterbinden will. Sie unterläuft damit die zentrale Forderung der Leipziger Richter nach einer “möglichst objektiven Unterrichtung aller Beteiligten über die maßgebliche Rechtslage”. Denn - so das Bundesverwaltungsgericht - “die Bundeswehr muss sich solchen Anfragen stellen, die aus dem Gewissen eines Soldaten kommen, und sollte eine derartige Persönlichkeit, die unter den ethischen Problemen ihres Dienstes leidet, ermutigen, das, was sie innerlich bedrückt, offen, gegebenenfalls auch ungeschützt zu artikulieren.” Darüber hinaus missachtet die Führung der Bundeswehr mit ihrem Handeln die im § 33 des Soldatengesetzes fixierte Norm, gemäß der “die Soldaten staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Unterricht zu erhalten haben und über ihre staatsbürgerlichen und völkerrechtlichen Pflichten und Rechte im Frieden und im Kriege zu unterrichten sind.”

Wie das Leipziger Urteil tot geschwiegen wird, lässt sich auch dem Intranet der Bundeswehr entnehmen, in dem ansonsten jede Nichtigkeit akribisch archiviert ist - zur Causa Pfaff kein einziges Wort. Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes in Sachen Wehrgerechtigkeit vom Januar 2005 wird dort in epischer Breite gewürdigt, war es doch zugunsten des Verteidigungsministers ausgefallen. Mehr als auffällig ist auch ein Bericht im Intranet der Bundeswehr, betitelt Gesamttagung der Rechtspflege der Bundeswehr, zu der sich Angehörige des Bundesverteidigungsministeriums vom 17. bis 20. Oktober 2005 in der Luftwaffenkaserne Wahn versammelt hatten, um “aktuelle Probleme der Juristerei zu erörtern”. Denn, so die bahnbrechende Erkenntnis des Berichterstatters: “Ist ein Soldat in einer Krisensituation unsicher, da er nicht seine Rechte und Pflichten kennt, so zögert er und wird verwundbar. Rechtskenntnisse sind heute unverzichtbar für den entschiedenen Einsatz und so wichtig wie noch nie zuvor.” Schenkt man dem Bericht Glauben, so “begannen schon beim Betreten des Konferenzgebäudes die Diskussionen über grundsätzliche Fragen der Rechtslehren. Truppendienstrichter, Wehrdisziplinaranwälte, Rechtslehrer und Rechtsberater leisteten sich tiefgreifende Debatten und stellten in ihren Erörterungen grundsätzliche Fragen …” Erstaunlicherweise scheint ein Thema während dieses so vitalen Treffens unbeachtet geblieben zu sein - das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Gehorsamsverweigerung des Majors Pfaff.

Angesichts dieser Desinformationspolitik kann es nicht überraschen, wenn aus dem Bendlerblock zur Causa Pfaff lakonisch verlautet: “Nach derzeitiger Erkenntnis sind durch das Urteil keine negativen Auswirkungen auf die Einsatzbereitschaft der Truppe zu erwarten.” Da kaum ein Bundeswehrsoldat das Leipziger Urteil überhaupt kennt, steht dies in der Tat nicht zu befürchten.

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 04 vom 27.01.2006. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Jürgen Rose und Verlag.

Veröffentlicht am

30. Januar 2006

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