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Verhaftet am “humanitären Tor” oder eine verabscheuungswürdige Lüge

Von Amira Hass, Haaretz, 28.12.2005

Jedes hier beschriebene Detail, jeder Fetzen Realität sollte wie ein Ganzes betrachtet werden …. Detail: Hunderte von Leuten versammeln sich jeden Morgen vor drei Stahl-Drehtüren und diese Türen drehen sich nicht, weil eine unsichtbare Person sie mit einem Knopf blockiert. Die Zahl der dahinter zusammengepferchten Leute wächst und wächst. Sie warten eine Stunde lang. Die Wut, wieder einen Tag zu spät zur Arbeit oder zur Schule zu kommen, steigert sich und fügt sich den früheren Spannungen hinzu, die durch Zorn, Bitterkeit und Hilflosigkeit zustande kamen.

Es ist jedoch nicht die Menschenmenge, das Warten und die Wut, die den Checkpoint und die Straßensperren und in diesem speziellen Fall den neuen Qalandiya-Kontrollpunkt definiert. Es ist auch nicht die Menschenmenge und die angespannte Atmosphäre des übrigen Kontrollweges, vor den Metallmessgeräten und den geschlossenen Räume, in denen die Soldaten sitzen und die Dokumente prüfen, oder die anderen Drehtüren. Oder die anderen “Details”: die Kameras, die die Soldaten sehend und gleichzeitig unsichtbar machen, die schnarrende Stimme im Lautsprecher, die Befehle auf Hebräisch gibt, die erschreckende Betonmauer über einem und um einen herum und die Verwüstung, die die israelischen Bulldozer und Planer außerhalb des Käfigs, den Israel einen Grenz-Terminal nennt, hinterlassen. Und das alles auf einem Stück Land, das einmal ein Wohnviertel war, sanfte Hügelhänge und die Jerusalem-Ramallah-Straße.

Es geht auch nicht um die 11 “Verhafteten” am Ende des Kontrollweges: neun Teenager, 18 Jahre und jünger, ein Erwachsener und ein 23-jähriger Student, die alle am Montag ein schweres Verbrechen begangen hatten. Nachdem sie lange vergeblich an der Stahldrehtür gewartet hatten, durch die sie auf den Kontrollweg kommen, um schließlich in den Unterricht und zur Arbeit zu gelangen, entschieden sie sich, über den Zaun zu springen, in der Hoffnung noch rechtzeitig zur Englischprüfung zu kommen. Der andere fürchtete, gefeuert zu werden, wenn er wieder zu spät zur Druckerei kommt, bei der er arbeitet. Aber sie wurden geschnappt. Dem Studenten wurden die Hände auf dem Rücken gefesselt. Er musste sich neben einen Wachposten setzen - innerhalb des militärischen Compound. Die andern zehn mussten sich außerhalb dieses Bereiches in den Matsch setzen, der mit jedem Tropfen Regen dicker wurde. Und die Soldaten befahlen, dass sie sich hinsetzen sollen. Sie konnten sich aber wegen des Matsches nicht hinsetzen; sie gingen in eine kniende Position. Nach einer halben Stunde schmerzten die gebeugten Knie immer mehr und die Hosen sogen sich mit Wasser voll und wurden über den Knien eng. Die Hände wurden kalt, aber die Soldaten änderten den Ton nicht: “Ich sagte euch: setzt euch! Setzt euch!”

Aber auch der Regen und die Kälte sind hier nicht nennenswert oder der Soldat, der seine Kantinenportion isst und gleichgültig die Verhafteten beobachtet oder die Telefonate, die die Schreiberin führte und die schließlich den Verhafteten nach zwei Stunden erlaubten, aufzustehen- wie mitleidsvoll! - auch nicht ihre Freilassung, einschließlich dem mit den blau gefrorenen Händen und den von Handschellen tief eingeschnittenen roten Rillen oder die Tatsache, dass der 14-Jährige weitere 20 Minuten warten musste, weil seine Dokumente nicht gefunden wurden … Die Frage, ob die Verhaftung noch länger gedauert hätte, wenn die Schreiberin nicht da gewesen wäre, ist auch marginal.

Auch die Entscheidung, das “humanitäre Tor” zu öffnen, ist von sekundärer Bedeutung. (Es ist für den Durchgang Behinderter mit Rollstuhl, für Eltern mit Kinderwagen und palästinensisches Reinigungspersonal, das von einer Vertragsfirma beschäftigt wird). Es ist morgens für Frauen und Männer von über 60. Noch ein Detail, das von dem ablenkt, was wirklich wichtig ist.

Wichtig ist nämlich, dass die Armee und die israelischen Bürger, die sich alle diese Details der Enteignung ausdenken - und die Straßensperren sind ein untrennbarer Teil dieser Enteignung - den Terminus “humanitär” in eine verabscheuungswürdige Lüge verwandelt haben.

Durch die Kontrollpunkte, Straßensperren, das Bewegungsverbot und die Verkehrsbeschränkungen, durch die Betonmauer und Stacheldrahtzäune, durch die Landenteignungen (nur aus Sicherheitsgründen, wie der Oberste Gerichtshof, der ja ein Teil der israelischen Bevölkerung ist, glauben möchte), durch das Abschneiden der Dörfer von ihrem Land und einer verbindenden Straße, durch den Bau einer Mauer in einem Wohngebiet und in den Hinterhöfen von Häusern und durch die Verwandlung der Westbank (im Militärjargon) in einen Haufen “territorialer Zellen” zwischen den sich ausdehnenden Siedlungen - haben wir Israelis eine wirtschaftliche, soziale, emotionale, Arbeits- und Umweltkrisis geschaffen und schaffen sie weiter und zwar in einem Ausmaß eines nicht endenden Tsunamis.

Und wenn wir dann eine kleine Drehtür in einem Käfig anbieten, einen Offizier, der einem alten Mann Anweisungen geben darf, eine Toilette und einen Wasserkühler - dann wird dies als “humanitär” beschrieben. In andern Worten: wir stoßen ein ganzes Volk in unmögliche Situationen, eklatant unmenschliche Situationen, um sein Land, seine Zeit und Zukunft und Freiheit der Wahl zu stehlen - und dann erscheint der Plantagenbesitzer und lockert den eisernen Griff ein bisschen und ist stolz auf sein Gefühl von Mitmenschlichkeit.

Doch eben diese wichtige Sache - die humanitäre Verachtung - ist nur ein Detail in einem vollen Sortiment von Details, in dem kein einzelnes Detail sich selbst vertritt. Isolierte Bruchstücke der Realität werden als erträglich oder auch verständlich (Sicherheit, Sicherheit) aufgefasst oder sie mögen einen auch für einen Augenblick ärgerlich machen und dann wieder abflauen. Und zwischen all den Details intensiviert sich der Kolonialismus ohne Unterbrechung oder Nachlassen, indem er noch mehr Methoden der Folter des einzelnen oder der Gemeinschaft erfindet; indem er noch mehr Mittel und Wege findet, das Völkerrecht zu verletzen und Land hinter rechtlicher Verschleierung zu rauben und zur Kollaboration wegen Vernachlässigung oder Apathie zu ermutigen.

Deutsche Übersetzung und geringfügige Kürzung: Ellen Rohlfs

Veröffentlicht am

03. Januar 2006

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