Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Im falschen Land, im falschen Leben

Die Leute von Bleicherode holen eine ausgewiesene Familie mit drei Kindern aus Vietnam zurück

Von Bernhard Honnigfort

Endlich kommt das Auto, endlich der Moment, auf den sie 22 Monate gewartet haben. Auf den sie hingerackert, den sie erzwungen, für den sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt haben. Sie stehen vor dem Haus mit der Nummer 18, etwa 40 meist ältere Herrschaften, dick eingemummelt in Mäntel und Schals, dazwischen eine Handvoll Kinder. Sie stehen auf dem schmalen Bürgersteig, wippen vor Kälte hin und her. Der Wagen öffnet sich, drei vietnamesische Kinder und ihre Mutter steigen aus, eilen auf die Leute zu. Rentner Helmut Wagner greift zur Trompete, schmettert eine Fanfare. Neben ihm schießen den Leuten Tränen in die Augen. Kinder umarmen sich. “Gott sei Dank”, ruft eine Frau. “Gott sei Dank, dass ihr wieder hier seid.”

Bleicherode in Nordthüringen, 6000 Einwohner, ein abgewetztes graues Kalibergbaustädtchen mit vielen kaputten Häusern. Ein kalter Wintertag und vor der Nummer 18 in der engen Hauptstraße lauter Menschen, die selig sind vor Glück. Don und Jule und Paulchen sind wieder da. Drei Kinder, 14, 9 und 8 Jahre alt, die sich selbst so nennen, die eigentlich aber ganz anders heißen. Deren vietnamesische Namen aber niemand aussprechen kann in Bleicherode. Außerdem ist ihre Mutter da.

22 Monate ist es her: Am 1. Februar 2004 stoppen abends Kleinbusse vor dem Haus Nummer 18 der Familie Le Da. Die Ausländerbehörde rückt an. Vater, Mutter und den Kindern bleibt wenig Zeit zum Packen. 1993 war die Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen, 2004 die Duldung. Die Eltern, die nicht arbeiten durften, hatten es dennoch getan. Der Vater handelte mit Zigaretten und geriet auf die schiefe Bahn. Schluss, Ausweisung.

Es geht ganz schnell an jenem Abend. Die Familie packt das Nötigste, die Kinder können sich nicht einmal von ihren Freunden verabschieden. Es fließen Tränen. 17 Jahre lebten die Eltern in Deutschland, die Kinder kamen in Thüringen zur Welt, sprechen kaum vietnamesisch. Zwei Tage später hat man sie ausgewiesen, ausgeflogen in ein fremdes Land, das ihre Heimat sein soll.

Was an jenem Abend geschah, traf viele Leute in Bleicherode bis ins Mark. Es gab auch andere, die froh waren. Aber in einem Landstrich, wo ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter nur “die Fidschis” genannt und gerne als Ausländer zum Teufel gewünscht werden, organisiert sich hartnäckiger Widerstand und beeindruckender Bürgersinn.

Auf der Straße vor dem Haus steht Albert Hartmann, 71 Jahre alt, dicke Jacke, auf dem Kopf eine Baseballmütze. Früher Bergmann, 28 Jahre unter Tage. Er kannte die vietnamesische Familie nicht. Nur so vom Sehen. “Die Frau hatte einen Marktstand”, sagt er. Einen Monat nach der Ausweisung war er in Vietnam. Hatte ein Paket dabei. Medikamente, Textilien, ein paar Batterien, etwas für die Kinder. “Die taten mir so Leid.”

Vor dem Haus steht Berthold Braun, 70 Jahre alt, 40 Jahre im Kalibergbau. Ein kleiner Mann, graue Jacke, Hut tief ins Gesicht gedrückt. Ein Leben voll harter Arbeit, man sieht es ihm an. “Das sprach sich ganz schnell rum damals”, sagt er. “Ich kannte die Leute gar nicht.” Seit jenem Tag stand er neben 60 bis 70 anderen dienstagabends zwischen sechs und halb sieben als Mahnwache vor dem Haus. Mehr als 50 mal. “Ich bin auch einmal vertrieben worden”, sagt er. “Nach dem Krieg, lange her, aus dem Warthegau. Ich weiß, wie man sich fühlt.”

Felix Fiedler steht vor dem Haus. Jahrgang 29, Dachdeckermeister, blaue Joppe, blaue Schiffermütze. Seine Urenkelin Patricia war Jules beste Freundin. Sein Urenkel Pascal ging mit Don zur Schule. “Das hat geschmerzt damals”, sagt er.

Fiedler und andere haben das kleine Haus renoviert und für die Heimkehrer schön gemacht. Entrümpelt, Schutt abgefahren, neue Elektrik eingezogen, neue Kohleöfen, neu tapeziert, Türen gestrichen und Fenster. “Ich weiß, wie es ist, wenn man einen Menschen verliert”, sagt der alte Dachdeckermeister. “Ich habe im Krieg meinen Freund verloren.”

Die Kinder betreten das Haus durch den kleinen Flur ins bullig warme Wohnzimmer. Auf den Fensterbänken stehen frische Blumen. “Endlich geschafft”, sagt Don, der 14-Jährige. Er wirkt älter. Er ist die Stütze der kleinen Familie. Sein Vater blieb in Vietnam, die Eltern sind getrennt. Sie kamen aus dem Krankenhaus, begleitet von Margot Kessler. Sie ist die gute Seele der Heimholungsaktion. Die 57-jährige Frau aus dem Nachbardorf Kelmstedt war bis 2004 die SPD-Europaabgeordnete der Gegend. Sie hatte nötige Verbindungen, das nötige Wissen und den Biss, sich nicht von Behörden unterkriegen zu lassen. “Das war ein Tauziehen”, stöhnt sie. “Das thüringische Innenministerium hat uns immer für dumm verkauft. Aber die haben sich verschätzt in den Bleicherodern.”

Die alten Bergleute, die Nachbarn in der Hauptstraße, die Europaabgeordnete, pensionierte Lehrerinnen, ein schlauer Rechtsanwalt, ein ehemaliger Orthopäde, eine Katechetin, die evangelische Kirchgemeinde, Journalisten der Thüringer Allgemeinen - sie alle legten sich ins Zeug. Man schrieb Bittbriefe an alle Behörden vom Landratsamt rauf zur Bundesregierung, man stand dienstags als Mahnwache vorm Haus, man berichtete andauernd in der Zeitung über den Fall. Man sammelte 26 000 Euro Spenden, reiste nach Vietnam, schrieb an die deutsche Botschaft in Hanoi. “Früher habe ich Bleicherode für eine langweilige Kleinstadt gehalten”, sagt Margot Kessler. “Aber diese Leute hier sind einfach toll.”

Am 16. November siegten die Bleicheroder. Aus der Botschaft in Hanoi kam ein Brief. Ein Mitarbeiter war bei Don und seinen Geschwistern gewesen im Dorf Sa Bac, 600 Kilometer südlich von Hanoi. Dort lebten sie, im falschen Land, im falschen Leben. Der thüringische Gymnasiast ging nicht mehr zur Schule, sondern verrichtete Feldarbeiten und hütete Kühe. Die Vietnamesen sahen sie als Ausländer und wollten nichts mit ihnen zu schaffen haben. Don weigerte sich, vietnamesisch zu sprechen, seine Geschwister fürchteten sich. Die Mutter war mit allem überfordert, der Draht zum Vater abgerissen. Die deutsche Botschaft empfahl dem zuständigen Landratsamt in Nordhausen, Mutter und Kindern die Heimkehr nach Thüringen zu erlauben.

“Und dann mussten wir das Eintrittsgeld bezahlen”, erzählt Margot Kessler. Es waren noch Rechnungen offen: 4000 Euro Flugkosten, 3500 Euro für den Einsatz der thüringischen Polizei bei der Abschiebung, 5800 Euro für den Einsatz des Bundesgrenzschutzes. “Wir hatten das Geld schnell zusammen”, sagt sie stolz.

Nun sind sie wieder da. Am Hauseingang hängt ein Tuch mit bunten Buchstaben: “Herzlich willkommen!” Der alte Bergmann Berthold Braun trägt noch ein Pappschild aus den Tagen der Mahnwachen: “Der Mensch ist kein Wegwerfartikel.” Oben am Haus ist noch das Banner, das dort lange Monate hing. Ein Bild von den drei Kindern. “Wir halten zu Euch”, steht daneben. Und: “Wir versuchen Euch zurückzuholen!”

Zwei alte Lehrerinnen werden sich um die Kinder kümmern und ihnen helfen, in der Schule Anschluss zu finden. Don geht wieder aufs Gymnasium, vorerst sogar in die achte Klasse, obwohl ihm fast zwei Jahre fehlen. Für Dons Mutter hat Margot Kessler eine einfache Arbeit in einer Großküche besorgt. “Wir müssen uns weiter um die Leute kümmern”, sagt sie.

Don sitzt im Wohnzimmer und gibt Reportern Interviews. Wo er zuhause sei, wird er gefragt. “Na, hier natürlich”, sagt der schlaksige Junge. “Hier in Bleicherode.” Vietnam? “Oh, ich hatte nicht den besten Eindruck.”

Er ist 14, ein typischer Junge in der Pubertät, dünn wie eine Bohne, aber in riesigen Turnschuhen steckend. Er wirkt unendlich müde und formuliert dabei seine Antwortsätze so ernsthaft wie ein Familienoberhaupt. Er wolle die Schule zu Ende machen, dann eine gute Arbeit finden, sagt er auf die Frage nach dem Wie weiter. Und als die kleine Journalistenschar nach Ende des Gesprächs nicht sofort das Wohnzimmer der Familie verlässt, wird der Junge ganz Hausherr: “Was ist mit Ihnen? Wollen Sie hier überwintern?”

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 13.12.2005. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung der FR.

Weblink:

Veröffentlicht am

23. Dezember 2005

Artikel ausdrucken