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Die Butter vom Brot

Abwicklung des Binnenmarktes: Der direkte Sozialabbau wird potenziert durch den indirekten

Von Robert Kurz

Es ist besiegelt: Der Koalitionsvertrag von Schwarz-Rot garantiert nicht nur neue Gegenreformen; er liefert auch die Richtlinien dafür, die desaströsen Resultate der bisherigen antisozialen Abwicklungspolitik von Rot-Grün mit der gleichen sozialdarwinistischen Konsequenz zu verwalten. Hartz IV hat einen Schub millionenfacher Verarmung bewirkt, gleichzeitig aber die Staatskasse durch bürokratischen Aufwand unerwartet stark belastet. Das Abschiedsgeschenk des sozialdemokratischen Superministers Clement an die unter seiner Ägide Deklassierten bestand deshalb darin, sie in einer Hetzkampagne als “Parasiten” und “Sozialbetrüger” zu denunzieren.

Die geplante Verschärfung der Vorschriften beim Arbeitslosengeld II reicht der neuen Administration allerdings nicht. Sie will die Kostenexplosion der Sozialapparate durch eine drastische Erhöhung der Mehrwertsteuer ab 2007 kompensieren. Damit werden die Weichen für den Übergang in eine neue Dimension der Krisenverwaltung gestellt: Während die Masseneinkommen weiter sinken, schnellen die Preise für einen Großteil der Gebrauchsgüter in die Höhe - der direkte Sozialabbau wird potenziert durch den indirekten.

Für die anschwellende Masse der Empfänger von bereits zusammengestrichenen Transferleistungen ist das eine existenzielle Katastrophe. Die tatsächliche Lebenshaltung von Arbeitslosen, Rentnern, alleinerziehenden Müttern, Kranken und Behinderten droht durch diese Maßnahme unter das bisherige Existenzminimum zu sinken. Der Wintermantel, das neue Paar Schuhe, der Gaststättenbesuch werden unerschwinglich. Und dabei wird es nicht bleiben. Nachdem das fiskalische Instrument einer Erhöhung der Verbrauchssteuern einmal gegriffen hat, gibt es kein Halten mehr. Soll der ermäßigte Satz von sieben Prozent Mehrwertsteuer für Lebensmittel vorerst weiter gelten, so ist auch in dieser Hinsicht ein weiteres Anziehen der Schraube absehbar.

Wer dank Hartz IV in eine Billigwohnung umziehen und sich mit ein paar hundert Euro abspeisen lassen musste, dem wird nun buchstäblich die Butter vom Brot genommen. Schwarz-Rot ist offenbar gewillt, die grassierende Verarmung einer breiten Unterschicht nach dem Vorbild Großbritanniens und der “Reformstaaten” Osteuropas in Kauf zu nehmen.

Im Wahlkampf hatte man noch versprochen, die erhöhten Verbrauchssteuern sollten zu 100 Prozent in eine Umfinanzierung fließen, um die Lohnzusatzkosten und Einkommensteuern zu vermindern. Selbst wenn es so wäre, würde dadurch nur die soziale Spaltung zwischen Noch-Beschäftigten und Transferabhängigen vertieft. Aber auch dieses zweifelhafte Versprechen wird jetzt gebrochen: Der Koalitionsvertrag sieht vor, dass die Einnahmen aus der erhöhten Mehrwertsteuer zu zwei Dritteln dafür verwendet werden, die klaffenden Haushaltslöcher zu stopfen, statt sinkende Sozialabgaben zu finanzieren. Damit wird jedoch die Reproduktion als Ganzes getroffen und die Spirale der längst vergessenen Stagflation erneut in Gang gesetzt. Sobald der Handel die erhöhten indirekten Steuern in Form von Preiserhöhungen weitergibt, kehrt das Gespenst der Inflation zurück. Gleichzeitig wird die ohnehin seit Jahren stagnierende Binnennachfrage weit über die bisherigen sozialen Einschnitte hinaus abgewürgt.

Die Osnabrücker Gesellschaft für wirtschaftliche Strukturforschung rechnet mit einem Rückgang des privaten Konsums um 30 Milliarden Euro. Das Resultat wäre der Verlust von einer halben Million Arbeitsplätzen in Handel und Industrie. Kein Wunder, dass sich schon im Vorfeld der Bundestagswahl führende Vertreter des Groß- und Einzelhandels vehement gegen eine Erhöhung der Mehrwertsteuer ausgesprochen hatten. Jetzt gehören auch sie zu den Verlierern. Schwarz-Rot gibt faktisch den Binnenmarkt auf; er wird jetzt genauso abgewickelt wie die Sozialleistungen. Eine kopflos gewordene politische Klasse exekutiert nur noch die schreienden systemischen Selbstwidersprüche des Kapitalismus.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 46 vom 18.11.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Robert Kurz und Verlag.

Veröffentlicht am

21. November 2005

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