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Helden der Diffusion

Sprachlos: In den Aufständen in Frankreich offenbart sich eine Krise der Repräsentation

Von Raul Zelik

B. wird ohne ersichtlichen Anlass auf der Straße festgenommen. Einer der Polizisten rempelt die Mutter des Verhafteten, eine 60jährige Frau. B. selbst wird mehrmals ins Gesicht geschlagen. Die Beamten bringen den jungen Mann auf eine Wache, ketten ihn dort an einen Heizkörper und treten auf ihn ein. Einer der Polizisten stellt sich so auf B.s Nacken, dass B. seine Angreifer nicht erkennen kann. B. hat die ganze Zeit Angst, dass ihm durch den Druck des Stiefels das Genick gebrochen wird. An der systematischen Erniedrigung, die sich durchaus als Folter bezeichnen lässt, beteiligen sich acht Polizisten. Schließlich wird B. freigelassen.

Er kann sich an die Zeitdauer der Misshandlungen danach nicht erinnern. Unter Schock sperrt er sich vier Tage lang zu Hause ein und spricht mit niemandem. Erst auf Drängen von Freunden bringt er den Fall zur Anzeige, worauf die Polizisten ein Gegenverfahren wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt einleiten. Gegen die Beamten wird das Verfahren bald eingestellt, gegen B. kommt es zu einem Prozess, in dem er freigesprochen wird. Nachdem ein Medienprojekt einen Film über seinen Fall gedreht hat, verhaften ihn die Polizisten bei der Uraufführung des Videos erneut und verschleppen ihn auf die Wache.

Diese Geschichte hat sich nicht in französischen Banlieues, sondern 2004 in Wuppertal ereignet. Sie ist kein Einzelfall. B., der zu meinem engeren Freundeskreis gehört, hat mit Polizeiwillkür zahllose Erfahrungen gemacht. Monatelang hat man ihn, einen Deutschen mit schwarzer Haut, fast täglich auf seinem Arbeitsweg aus dem Bus geholt und nach Drogen durchsucht. Der Polizeipräsident der Stadt hatte zuvor erklärt, die Wuppertaler Drogendealer seien fast alle Schwarze. B.’s Hass ist grenzenlos.

Es ist nicht eindeutig zu sagen, was die französischen Jugendlichen bewegt, die trotz Ausnahmezustands und militärischer Besetzung ihrer Viertel immer noch jede Nacht Autos, Firmen und staatliche Einrichtungen anzünden. Es gibt kein Programm, keine gemeinsame Stimme, keine eindeutige Forderung. Wahrscheinlich kann man nicht einmal von einer Revolte sprechen. Es sind zahllose, singuläre Aufstände, die alle ihre eigene Motivation besitzen. Doch jeder, der eine Ahnung davon hat, was es bedeutet, in Europa Einwanderer aus einer ehemaligen Kolonie zu sein, spürt, dass es eine Klammer gibt: die Gewalt der Polizei.

Den Bewohnern der Banlieues muss niemand erklären, was Walter Benjamin meinte, als er schrieb, das “Schmachvolle einer solchen Behörde … liegt darin, dass in ihr die Trennung von rechtsetzender und rechterhaltender Gewalt aufgehoben ist”. Die Polizei, die über die Einhaltung der Rechtsordnung wachen soll, setzt im Konkreten immer wieder von neuem fest, wie diese Rechtsordnung genau aussieht. Jeder, der einmal auf einer Demonstration war oder zu vermeintlich gefährlichen Unterschichten gehört, weiß deshalb, dass das Auftreten dieser “schmachvollen Behörde” mit Willkür, Erniedrigung und blankem Sadismus einhergeht. Für viele Einwanderer bedeutet das täglichen Terror.

Man muss das so platt und aggressiv festhalten, weil über die Revolten in den Banlieues in den letzten Wochen so viele wohlfeile Diskurse produziert worden sind. Dabei ist längst nicht nur der rassistische Mainstream zu kritisieren, der die brennenden Autos mit der “gescheiterten Integration von Ausländern” (schlimmer noch: Muslimen) erklären will und damit neue soziale Apartheid herstellt. Auch kritische Autoren haben Redehoheit beansprucht und damit eine eigenartige Schieflage verursacht. Dietmar Dath, kapitalismuskritisch geschulter Schriftsteller und Redakteur der FAZ, hat die Unruhen mit dem Herausfallen ganzer Bevölkerungsteile aus der real existierenden Marktökonomie erklärt, Adrian Kreye, US-Feuilletonkorrespondent der Süddeutschen, hat das Ganze kulturell gedeutet und auf HipHop und die Ghetto-Aufstände in den USA verwiesen, während Bernard Schmid, der für verschiedene linke Medien aus Frankreich berichtet, die Abwesenheit politischer Ziele bei den Jugendlichen bemängelte.

All diese Interpretationen sind nicht falsch, sie haben jedoch einen entscheidenden Haken: Sie sind Teil des Problems. Sie legen fest, worum es geht, und bekräftigen damit jenes herrschaftliche Verhältnis, das die einen zu Mitgliedern der Gesellschaft, die anderen zu sprachlosen Massen macht.

Die Revolten der Banlieues haben sicherlich mit sozialem Ausschluss und dem Hass der Vorstadtbewohner (längst nicht nur der Jugendlichen) auf die Polizei und deren obersten Dienstherrn Nicolas Sarkozy zu tun. Gleichzeitig jedoch sind sie Ausdruck einer Krise der Repräsentation. Es gibt niemanden, der beanspruchen kann, diese Jugendlichen zu vertreten. Keine linke Organisation, keine muslimische Gemeinde, keine neue antirassistische Jugendbewegung, ja selbst Aktivisten des “Mouvement des Immigrants et des Banlieues” (Bewegung der Einwanderer und Banlieues) haben beim Migrationskongress in Köln berichtet, dass ihre Organisation diese Jugendliche nicht erreicht. Die Stimmen der Autoanzünder sind singulär, ihre Beweggründe vielfältig.

Aber sind sie deshalb unpolitisch? Allerorten hat man die Ausbrüche dieser Tage kritisiert. Manche Autoren haben Verständnis für die Frustration der Jugendlichen geäußert, andere haben von Horden testosterongestörter, zerstörungswütender Männer gesprochen. Aber eigentlich alle waren sich einig, dass das Verhalten der Randalierenden dumm, ziellos oder zumindest unpolitisch war. Warum eigentlich? Warum ist es politischer, in einer sozialen Bewegung oder einer linken Organisation aktiv zu werden, wenn das zivilgesellschaftliche Mitspielen in den Verhältnissen doch offensichtlich kaum etwas an diesen zu ändern vermag? Ob in Paris Sozialisten oder Gaullisten regieren, mag einen gewissen Einfluss auf das Ausmaß von Polizeiwillkür und die Zahl der Sozialarbeiterstellen haben. An der grundlegenden Situation ändert es nichts. Und schließlich: Wieso spielen Machismus und Männlichkeitswahn in Gruppen randalierender Jugendlicher eine größere Rolle als in einer politischen Landschaft, über deren “Alphatiere” zuletzt ausführlich debattiert wurde?

Grundlegendere Veränderungen haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder mit Ausbrüchen des Zorns zu tun gehabt. In Argentinien schrieen die Leute 2001: “Sie sollen alle abhauen” - nicht gerade eine hochkonzeptionelle Forderung. Die Brüche in Venezuela wurden erst von den Plünderungsorgien 1989 ermöglicht, denen viele Linke fassungslos, zum Teil mit offener Ablehnung gegenüberstanden. Und Nanni Balestrini hat in seinem Roman Wir wollen alles die neue italienische Arbeiterschaft Anfang der 1960er Jahre vor allem als eine Jugend beschrieben, die mit Gewerkschaften und Kommunisten nichts am Hut hatte und sich ausschließlich in Gewaltakten auszudrücken verstand: Straßenschlachten, die Zerstörung von Produktionsanlagen.

Destruktion ist nicht schöpferisch, und für viele Autobesitzer aus der Banlieue mag der Verlust des Wagens eine Tragödie sein. Aber trotzdem ist die Zerstörung längst nicht so blöd wie behauptet. Was bleibt den Rebellierenden schon anderes? Die Bewohner der Vorstädte können gegen Rassismus, Polizeiwillkür oder soziale Apartheid nicht streiken. Wenn sie demonstrieren, interessiert das niemanden - abgesehen davon, dass für Mobilisierungen Medienmacht und Organisationsstrukturen fehlen. Denjenigen, die aus allen Mechanismen der Repräsentation ausgeschlossen sind, bleibt nur die Zerstörung.

Zudem steckt in ihren Taten durchaus so etwas wie kollektive Intelligenz. In Anbetracht der polizeilichen Allmacht ist das diffuse, zerstreute Vorgehen eine Taktik, wie sie von einem planenden Zentrum nicht besser vorgegeben werden könnte. Auch dass die Unruhen nach Ausrufung der (ursprünglich zur Aufrechterhaltung der Kolonialherrschaft in Algerien) erlassenen Notstandsregelung weitergehen, kann kaum als Ausdruck von Dummheit interpretiert werden. Wenn der Anlass der Revolten der faktische Ausnahmezustand in Form von Polizeiwillkür war (zwei Jugendliche starben bei der Verfolgung durch Beamte), dann ist es folgerichtig und politisch, dass die Revolten nach der Verhängung des offiziellen Ausnahmezustands weitergehen. Die jugendlichen “Horden”, die bei Interviews betonen, dass Sarkozy weg müsse, weil er ein rassistischer Scharfmacher sei, beweisen mehr politischen Sachverstand als ein erheblicher Teil der Wählerschaft, die sich von den Medienauftritten des Innenministers (Spitzname “Supermann”) immer wieder beeindruckt zeigt.

Niemand weiß, wo das, was jetzt in Frankreich passiert, hinführen wird. Die Jugendlichen der Banlieue sind kein neues revolutionäres Subjekt, keine Helden. Aber sie handeln auch nicht dümmer oder unpolitischer als die über die verschärfte kapitalistische Gangart klagenden Gewerkschafter und Feuilleton-Redakteure. Es wäre keine Überraschung, wenn ihre Revolten am Ende die Inwertsetzung, die Ökonomisierung des Lebens stärker bremsten als der gehegte Protest von Gewerkschaften und kritischen Autoren. Manchmal sind Krisen Vorboten von Katastrophen, manchmal aber auch manifestiert sich ihnen eine kollektives Wissen, das nicht aussprechen kann, was es will, und genau damit eine Entwicklung ermöglicht, die mit Emanzipation mehr zu tun hat, als die politische Aufklärung und Organisation von Massen durch eine bereits wissende Linke.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 46 vom 18.11.2005.

Veröffentlicht am

18. November 2005

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