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Was steht Samira bei ihrer Rückkehr bevor?

Von Uri Avnery, 15.10.2005

Vor ein paar Tagen traf ich bei einer Konferenz in Europa eine reizende junge Frau. Intelligent, gebildet, in mehreren Sprachen versiert und sehr attraktiv. Nach ein paar Stunden Shopping sah sie so elegant aus wie ein nach der letzten Mode gekleidetes Model. Sie ist Schiitin und kam direkt aus Bagdad, wohin sie nun zurückgekehrt ist. Nennen wir sie Samira.

Was mich am meisten an Samira beeindruckt hat, war ihr totaler Pessimismus. “Die Situation ist schlecht”, sagte sie, “und was auch immer geschehen mag, es wird noch schlimmer werden.”

Für eine junge berufstätige Frau sind die Aussichten tatsächlich trostlos. Die schiitische Gemeinschaft ist im Griff der Ayatollahs, die dabei sind, eine unbeugsame Haltung gegenüber Frauen durchzusetzen. Vielleicht nicht so streng wie im Afghanistan der Taliban oder in Khomeinis Iran, aber streng genug, um es einer Frau unmöglich zu machen, sich nach ihrem Wunsch zu kleiden oder zu arbeiten, was sie will. Samira verbirgt schon heute vor ihren Nachbarn in einem wohlhabenden Stadtteil von Bagdad ihren Beruf - aus Angst, die Aufmerksamkeit einer der zahlreichen bewaffneten Milizgruppen auf sich zu ziehen.

Wie ist das Leben ohne regelmäßigen Strom und Wasser bei 40 Grad C Temperaturen, wenn man von Generatoren und Improvisation abhängig ist, in einem ständigen Angstzustand, während Panzer durch die Straßen rollen? “Es ist sehr, sehr schlecht”, sagte sie, “und es wird nicht besser.”

Die Aussichten für den Irak? Da gibt es mehrere Möglichkeiten - und alle sind schlecht. Vielleicht ein Auseinanderbrechen des Staates; vielleicht ein Bürgerkrieg; sicherlich ein wachsender blutiger Aufstand. Überhaupt keine Chance für ein neues prosperierendes, demokratisches multikulturelles Land.

Irak sieht aus wie ein zerbrochenes Spielzeug, das von einem eigenwilligen, dummen Kind auseinander genommen wurde.

Ich habe es ein paar Monate lang vermieden, über den Irak zu schreiben, trotz der Tatsache, dass ich die Ereignisse dort mit unbeirrbarer Faszination verfolge, weil es fast unmöglich ist, darüber zu schreiben, ohne zu sagen: “Genau das sagte ich voraus!”

Die Welt (und besonders Israel) ist voller Politiker, Generäle, Journalisten, Akademiker, Geheimdienstler und solcher, die ausnahmslos mit allem, was sie vorausgesagt hatten, falsch lagen (abgesehen von wenigen Ausnahmen - wie eine nicht funktionierende Uhr, die nur zwei mal am Tag die richtige Uhrzeit anzeigt). Doch seltsam genug, sie bleiben populär, die Fehler werden vergeben und vergessen, selbst wenn sie verheerende Ergebnisse haben, wie es Generälen und Politikern geschieht.

Lange Erfahrung lehrte mich, dass dies durchaus eine Sache ist, die einen rasend machen könnte. Die Öffentlichkeit kann Kommentatoren vergeben, die bewiesenermaßen falsche Aussagen machten - sie wird aber niemals denen vergeben, die recht hatten.

Also lasst uns diesen Satz vermeiden. Lasst uns nur auf einiges hinweisen, das ich vor dem Krieg sagte und das sich nicht als ganz falsch erwies.

Zwei Tatsachen verdienen im Augenblick besondere Beachtung:

Erstens: das wirkliche Ziel des Krieges im Irak war die Stationierung einer permanenten amerikanischen Garnison, die von einem lokalen Quislingregime unterstützt wird, um die weiten Ölfelder des Irak selbst festzuhalten und indirekt auch die Ölreserven der benachbarten Länder wie Saudi-Arabien, der Golfstaaten und im Becken des Kaspischen Meeres. Es gab keine “Massenzerstörungswaffen”, “keine Absetzung eines blutdürstigen Tyrannen”, “keine Verbreitung der Demokratie”, keine “Achse des Bösen”.

Zweitens: das Hauptergebnis des Krieges wird das Auseinanderfallen des Landes in drei sich feindlich gesinnte Komponenten sein: die sunnitischen Araber, die Schiiten und die Kurden. Ob dieses Auseinanderbrechen des irakischen Staates als “lose Föderation” oder anders verschleiert wird, ist irrelevant.

Es war klar, dass die Kurden sich mit nicht weniger zufrieden geben würden als mit einer de facto Unabhängigkeit, um ihre Einkünfte aus dem Öl für sich behalten zu können. Es war auch klar, dass dies tiefste Befürchtungen in der Türkei, dem Iran und Syrien wecken würde; denn in allen Ländern gibt es eine kurdische Bevölkerung, die von der möglichen Errichtung eines großen, vereinigten Kurdistans träumt.

Es war auch klar, dass der irakische schiitische Staat von religiösen Klerikern angeführt werden würde, von denen die meisten im Iran gelebt hatten und die das islamische Gesetz, die Scharia, einführen würden. Diese Kleriker, die nicht unbedingt Handlanger von Teheran sein müssen, werden aber sicher in diese Richtung tendieren. Sie werden natürlich versuchen, die großen Ölreserven der Region für sich auszunutzen.

Man muss kein Prophet biblischen Ausmaßes sein, um vorauszusehen, dass die arabischen Sunniten mit dieser Niederlage nicht einverstanden sein werden. In solch einer “Föderation” werden sie jeder Macht und aller Öleinkommen beraubt sein, von den Höhen ihrer Macht in einen Abgrund der Ohnmacht geworfen sein. Dies führt zu einem “Aufstand”, der nicht zerschlagen werden kann, weil er vor einem unlösbaren Problem steht. Weder die kurdischen noch die schiitischen Führer sind von der Art, die um eines nie geliebten Iraks willen, mit dem sie sich auch nie identifizierten, einige ihrer langersehnten Vorteile preisgeben würden.

All dies hätte leicht vorausgesehen werden können, wenn die einzige Supermacht der Welt nicht von einem drittrangigen Politiker geführt worden wäre; wenn die Politik nicht von Neo-Konservativen gestaltet worden wäre, die von einer fanatischen Obsession geblendet gewesen wäre; wenn Tony Blair, der es hätte besser wissen müssen, nicht ein unverbesserlicher Opportunist gewesen wäre; wenn die israelische Regierung nicht gewünscht hätte, der Bush-Regierung zu dienen und die Araber zu schlagen.

Millionen von anständigen, unschuldigen Irakis aller Gemeinschaften, wie meine neue Freundin Samira, werden den Preis zahlen müssen.

Quelle: www.uri-avnery.de vom 16.10.2005. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Veröffentlicht am

17. Oktober 2005

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