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Rassismus - das beste Rekrutierungsargument für Terroristen

Das Problem in Großbritannien ist nicht zuviel Multikulti sondern zuwenig

Von Naomi Klein - ZNet 19.08.2005

Hussein Osman ist einer der Männer, denen vorgeworfen wird, an den gescheiterten Bombenanschlägen vom 21. Juli in London beteiligt gewesen zu sein. Laut der Zeitung La Republica soll er den italienischen Ermittlern gesagt haben, man hätte sich durch “Filme über den Irakkrieg” für die Anschläge präpariert. “(Es waren) vor allem solche, in denen Frauen und Kinder von britischen und amerikanischen Soldaten getötet und ausgelöscht wurden … mit weinenden Witwen, Müttern und Töchtern”. Dabei gilt doch der Glaubenssatz: Der politisch korrekte Antirassismus hat Großbritannien terroranfällig gemacht. Sollten obige Aussagen von Hussein Osman zutreffen, läge ein anderes Motiv für die Terrorakte gegen England allerdings näher: Wut - Wut auf etwas, das als extremer Rassismus empfunden wird. Oder wie soll man das nennen, wenn Leute glauben, das Leben von Amerikanern und Briten sei mehr wert als das von Arabern und Muslimen (so dass man die getöteten Muslime und Araber im Irak erst gar nicht zählt)? Ein Glaube, der so weitverbreitet ist, dass er uns kaum noch auffällt.

Nicht das erste Mal, dass extreme Ungleichheit Extremismus erzeugt. Der Mann, der als intellektueller Nestor des radikalen politischen Islam gilt, hieß Sayyid Qutb, ein ägyptischer Schriftsteller. Seine ideologische Epiphanias erlebte Qutb während eines Studienaufenthalts in den USA. Der puritanische Gelehrte mag schockiert gewesen sein über die Freizügigkeit der Frauen in Colorado, weit schwerer allerdings wog die Erfahrung mit der “üblen und fanatischen Rassendiskriminierung”, so schrieb er später. Es war Zufall, dass Qutb ausgerechnet 1948 nach Amerika kam - im Jahr der israelischen Staatsgründung. Er erlebte ein Amerika, das blind schien für Tausende von Palästinensern, die durch das Zionistische Projekt zu Dauerflüchtlingen wurden. Für Qutb ging es hier nicht um Politik - vielmehr um einen Angriff auf den Kern seiner Identität: Es war klar, den Amerikanern ist das Leben von Arabern weniger wert als das von europäischen Juden.

Laut Yvonne Haddad, Professorin für Geschichte an der Georgetown University, hat diese Erfahrung Qutb “verbittert, er konnte diese Bitterkeit nie mehr abstreifen”. Nach Ägypten zurückgekehrt, schloss er sich der Moslembruderschaft an - was zur nächsten lebensentscheidenden Erfahrung für ihn werden sollte: Qutb wurde verhaftet, schwer gefoltert und in einem Show-Prozess verurteilt - wegen Verschwörung gegen die Regierung.

Qutbs politische Theorie ist in hohem Maße geprägt von der Erfahrung der Folter. Qutb kam zu dem Schluss, seine Folterer seien subhumane Ungläubige - eine Schublade, in die er auch den Staat steckte, der diese Brutalität anordnete, eine Schublade, die schließlich auf alle muslimischen Zivilisten angewendet wurde, die dem Nasser-Regime ihre passive Zustimmung gaben.

Eine Riesenkategorie des Subhumanen. Sie erlaubte es Qutbs Anhängern, die Tötung von praktisch jedem als die eines “Ungläubigen” zu legitimieren - solange das Ganze im Namen des Islam geschah. Eine politische Bewegung für einen islamischen Staat wurde so zu einer Ideologie der Gewalt - und zur ideologischen Grundlage für die spätere Al Kaida. Man könnte sagen, der islamistische Terror ist ein westliches Erzeugnis - “home-grown” - lange vor den Anschlägen vom 7. Juli (in London). Die Quintessenz all dessen: Wir haben es mit den modernen Folgen des beiläufigen Rassismus von Colorado/USA und der Konzentrationslager von Kairo zu tun.

Aber warum das alles erneut ausgraben? Ganz einfach, weil heutzutage Benzin in die Doppelflamme der Qutb-Wut, die die Welt veränderte, gegossen wird: Der muslimische, der arabische Körper wird in Folterkammern erniedrigt - überall auf der Welt. Tote Muslime und Araber spielen in den simultanen Kolonialkriegen keine Rolle. Andererseits macht es der Computer jedem von uns leicht, sich die drastischen Beweise für die Erniedrigungen und Tötungen digital vor Augen zu führen. Um es noch einmal zu sagen: Es ist diese tödliche Mischung aus Rassismus und Folter, die in den Adern jener zornigen jungen Männern brennt. Qutbs Biografie ist eine ernste Mahnung an uns heute: Nicht Multikulti-Toleranz facht den Terror an, sondern Toleranz für jene Barbarei, die in unserem Namen begangen wird.

In dieses explosiven Gemisch trat Tony Blair - entschlossen, die beiden Hauptursachen für den Terror als Kur auszugeben. Blair plant, noch mehr Leute an Staaten auszuliefern, in denen man sie wahrscheinlich foltern wird. Und er will weiter Kriege führen. Es sind Kriege, bei denen die Soldaten nicht einmal die Namen der Städte kennen, die sie dem Erdboden gleichmachen. (Ein kleines Beispiel: Der ‘Knight Rider’-Report vom 5. August zitiert einen Sergeanten der US-Marines, der versucht, seine Squad (Einheit) aufzuputschen: “Wir werden uns an diesen Tag erinnern, als den guten alten Tag, an dem ihr…. Tod und Zerstörung über - wie heißt der fucking Ort noch gleich? - brachtet”. Jemand kommt ihm zu Hilfe: “Haqlaniyah”.)

Auch in Großbritannien herrscht kein Mangel an jener “üblen und fanatischen Rassendiskriminierung”, die Qutb einst an Amerika kritisiert hat. “Natürlich kam es zu isolierten Akten von inakzeptablem rassistischem und religiösem Hass”, so Blair - bevor er seinen 12-Punkte-Plan zur Terrorbekämpfung vorstellte -, “aber es waren nur isolierte (Akte)”. Isoliert?

Allein bei der Islamic Human Rights Commission gingen nach den Bombenanschlägen von London 320 Beschwerden über rassistische Übergriffe ein. Die Monitoring Group, eine karitative Organisation, die sich um die Opfer rassistischer Gewalt kümmert, verzeichnete 83 Notrufe. Laut Scotland Yard ist die Zahl der hassmotivierten Verbrechen seit dem Vorjahreszeitraum um 600% gestiegen. Dabei war schon das Jahr 2004 kein Ruhmesblatt: “Jeder fünfte britische Wähler, der einer ethnischen Minderheit angehört, denkt aufgrund der rassistischen Intoleranz über eine Ausreise aus Großbritannien nach”, ergab eine Umfrage des Guardian im März 2004.

Diese Daten zeigen - Multikulturalismus Marke Großbritannien (oder Frankreich oder Deutschland oder Kanada…) hat mit echter Gleichheit wenig zu tun. Es ist der Pakt mit dem Teufel (Faustian bargain) - zwischen Politikern, die gewählt werden wollen und selbsternannten sogenannten ‘community leaders’. Ethnische Minderheiten werden in entlegene, staatlich subventionierte Ghettos abgedrängt, und die Zentren des öffentlichen Lebens bleiben weitgehend unbehelligt von jenen seismographischen Verwerfungen, die sich in der ethnischen Landschaft vollziehen. Nichts belegt besser, wie oberflächlich diese angebliche Toleranz in Wirklichkeit ist, als die Hast, mit der jetzt Muslime, die angeblich nicht “britisch” genug sind, zum “Abhauen” aufgefordert werden (so der konservative Abgeordnete Gerald Howarth).

Das eigentliche Problem ist nicht zuviel Multikulti, sondern zuwenig. Wäre es den unterschiedlichen Menschen, die heute am Rande der westlichen Gesellschaften gettoisiert leben (örtlich und psychologisch gettoisiert) wirklich erlaubt, in die Zentren zu ziehen, könnte dies das öffentliche Leben mit einem kraftvollen neuen Humanismus erfüllen. Profund multiethnische westliche Gesellschaften - anstatt dieses oberflächliche Multikulti - würden es Politikern längst nicht so leicht machen, ihre Unterschrift unter eine Abschiebungsverfügung zu setzen. Algerische Asylsuchende, zum Beispiel, werden in die Folter abgeschoben. Und es würde Politikern auch bei weitem nicht mehr so leicht fallen, Kriege zu führen, bei denen nur die toten Invasoren zählen. Und eine Gesellschaft, die Gleichheit als Wert und die Menschenrechte hochhält - im eigenen Land wie im Ausland - hätte noch einen Vorteil. Sie würde den Terroristen ihr wichtigste Rekrutierungsmittel aus der Hand nehmen: Rassismus.

Anmerkungen:

Dieser Artikel wurde unter wissenschaftlicher Mitarbeit von Andréa Schmidt erstellt. Erstabdruck einer Version dieses Artikels in The Nation.

Quelle: ZNet Deutschland vom 24.08.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Racism is the terrorists’ greatest recruitment tool

Veröffentlicht am

24. August 2005

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