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Wir müssen handeln, um ein zweites Hiroshima - beziehungsweise noch Schlimmeres - zu verhindern

Die Explosionen in London sind eine Mahnung, wie der Teufelskreis Angriff/Reaktion eskalieren könnte

Von Noam Chomsky - The Independent / ZNet 17.08.2005

Diesen Monat begehen wir den 60. Jahrestag der Bomben auf Hiroshima und Nagasaki. Die Erinnerung birgt äußerst düstere Gedanken - aber auch die allerleidenschaftlichste Hoffnung, dass sich der Schrecken nie wiederholt.

In den vergangenen 60 Jahren ließen die Bomben von Hiroshima und Nagasaki die Vorstellungskraft der Welt erschauern - leider nicht genug, um die Entwicklung und Verbreitung von noch weit tödlicheren Massenvernichtungswaffen aufzuhalten.

Eine der damit verbundenen Ängste: Nuklearwaffen könnten früher oder später in die Hände von Terrorgruppen gelangen - eine Angst, die in der entsprechenden technischen Literatur bereits lange vor dem 11. September 2001 diskutiert wurde.

Die Explosionen vor kurzem in London und deren Opfer zeigen uns, wie der Teufelskreis Angriff/Reaktion auf unvorhersehbare Weise eskalieren könnte - vielleicht mit noch weit schrecklicheren Folgen als wir sie in Hiroshima und Nagasaki gesehen haben.

Die Supermacht, die die Welt beherrscht, nimmt sich das Recht heraus, nach Gutdünken Krieg zu führen. Ihre Doktrin heißt “antizipatorische Selbstverteidigung”, eine Doktrin, mit der alle gewünschten Eventualitäten abgedeckt sind - und alle Mittel der Zerstörung.

Die Militärausgaben der USA sind in etwa so hoch wie die der gesamten restlichen Welt. 38 nordamerikanische Unternehmen verkaufen Waffen (eines davon mit Sitz in Kanada). Sie bestreiten mehr als 60% des Weltwaffenexports (ein Export, der seit 2002 um 25% gewachsen ist).

Es gab und gibt Bemühungen, den seidenen Faden, an dem unser Überleben hängt zu verstärken. Die wichtigste Komponente ist in diesem Zusammenhang der Atomwaffensperrvertrag (NPT) - seit 1970 in Kraft. Regelmäßig, alle fünf Jahre, findet eine NPT-Überprüfungskonferenz statt - zuletzt im Mai 2005 bei den Vereinten Nationen in New York.

Aber der Atomwaffensperrvertrag steht vor dem Kollaps, hauptsächlich, weil die Atommächte ihren Verpflichtungen aus Artikel VI des Vertrags nicht nachkommen. Der Artikel sieht vor, dass die Atommächte sich - in “good faith” - um eine Abschaffung der Atomwaffen bemühen. Wenn es darum geht, sich vor den Verpflichtungen aus Artikel VI zu drücken, gehen die USA mit schlechtem Beispiel voran. Wie Mohamed ElBaradei, Chef der Internationalen Atombehörde (IAEA), feststellte: Die “zögerliche Haltung einer Partei bei Erfüllung ihrer Verpflichtungen erzeugt auch bei andern ein Zögern”.

Der frühere US-Präsident Jimmy Carter macht die USA als “Hauptschuldigen für die Erosion des NPT” verantwortlich. “Während sie behaupten, die Welt vor Proliferations-Bedrohungen im Irak, in Libyen, Iran oder Nordkorea zu schützen, weichen Amerikas Führer nicht nur von den Beschränkungen ab, die ihnen der bestehende Vertrag auferlegt, sie hegen sogar (bestätigte) Pläne, neue Waffen zu entwickeln und zu testen, wie etwa antiballistische Raketen, ‘unkerknacker’, die tief in die Erde eindringen und vielleicht auch die ein oder andere neue ‘kleine Bombe’. Sie stehen nicht zu den Schwüren der Vergangenheit und drohen nun mit dem Ersteinsatz von Atomwaffen gegen Staaten, die keine Atomwaffen besitzen”.

In den Jahren seit Hiroshima wäre der seidene Faden mehrmals beinahe gerissen. Der wohl berühmteste Fall ist die sogenannte “Kubakrise” im Oktober 1962 - “der gefährlichste Moment in der Geschichte der Menschheit”, wie der Historiker Arthur Schlesinger im Oktober 2002 auf einer Retrospektiv-Konferenz in Havanna feststellte. Schlesinger war Berater des damaligen US-Präsidenten John F. Kennedy.

“Um Haaresbreite entging die Welt dem atomaren Desaster”, erinnert sich auf derselben Konferenz Robert McNamara, Verteidigungsminister unter Kennedy. In der Mai/Juni-Ausgabe der Zeitschrift Foreign Policy wiederholt McNamara seine Mahnung und warnt erneut vor “apocalypse soon”.

Die “derzeitige US-Atomwaffenpolitik ist unmoralisch, illegal und in militärischer Hinsicht unnötig und furchtbar gefährlich”, so McNamara, sie berge “inakzeptable Risiken - sowohl für andere Nationen wie für die eigene Nation”, zum einen das Risiko eines “versehentlichen, unachtsamen Nuklearangriffs” - ein Risiko, das laut McNamara “inakzeptabel hoch” ist -, zum andern das Risiko eines nuklearen Angriffs durch Terroristen. McNamara gibt der Einschätzung des ehemaligen Verteidigungsministers unter Bill Clinton, William Perry, Recht: “Die Wahrscheinlichkeit eines Atomschlags gegen US-Ziele noch innerhalb dieses Jahrzehnts liegt bei über 50%.”

Eine ähnliche Einschätzung teilen viele bekannte Strategieanalysten. In seinem Buch ‘Nuclear Terrorism’ schreibt Graham Allison, ein Harvard-Spezialist für internationale Beziehungen, es herrsche “Konsens in der ‘national security community’”, (zu der er selber zählt), dass ein Angriff mit einer “schmutzigen Bombe” “unausweichlich” sei. Auch ein Atomwaffenangriff sei sehr wahrscheinlich - falls das spaltbare Material (als wichtigster Bestandteil zum Bau dieser Waffen) nicht gesammelt und gesichert werde.

Alllison schreibt in seinem Buch auch über die Teilerfolge, die es in diesem Bereich seit den frühen 90ern gab -, siehe die damaligen Initiativen von Senator Sam Nunn und Senator Richard Lugar. Aber seit den ersten Tagen der Bush-Administration erlitten diese Programme einen herben Rückschlag. Senator Joseph Biden drückt es so aus: Die Programme wurden durch “ideologische Idiotie” lahmgelegt.

Die Führung in Washington legte die Programme zur atomaren Nonproliferation ad acta und konzentrierte Energie und Ressourcen lieber darauf, die USA in den Krieg zu treiben - mittels eines unglaublichen Betrugs - um anschließend mit dem Management der Katastrophe beschäftigt zu sein, die sie im Irak angerichtet hatte.

Gewalt - die Anwendung derselben beziehungsweise ihre Androhung - stimuliert die Weiterverbreitung von Atomwaffen und sorgt für die Verbreitung des Jihadi-Terrors.

In der Washington Post schreibt Susan B. Glasser über den “Krieg gegen den Terror” zwei Jahre nach der Invasion. Auf höchster Ebene, so Glasser, “konzentriert man sich” jetzt bei der Bewertung des Kriegs “auf die Frage, wie man mit dem Aufstieg einer neuen Generation von Terroristen umgehen soll, die in den vergangenen beiden Jahre ihr Training im Irak erhielten.” “Top-Offizielle unserer Regierung konzentrieren sich zunehmend auf das sogenannte ‘bleed out’. Damit meint man die Rückkehr Hunderttausender Jihadisten - die im Irak ein sehr gutes Training durchliefen -, überall in ihre Heimatländer im Nahen/Mittleren Osten und Westeuropa. “Eine neue Unbekannte in einer neuen Gleichung” nennt dies ein früherer hoher Offizieller der Bush-Administration. “Denn, wenn man diese Leute nicht einmal im Irak identifizieren kann, wie will man sie erst in London oder Istanbul ausmachen?”

Der Boston Globe zitiert den amerikanische Terrorspezialisten Peter Bergen: “Der Präsident hat Recht, der Irak ist tatsächlich eine der Hauptfronten im Krieg gegen den Terrorismus, nur dass wir diese Front erst geschaffen haben”.

Chatam House - Großbritanniens wichtigste ‘Foreignaffairs’-Institution - veröffentlichte kurz nach den Bombenanschlägen von London eine Studie. Diese zieht ein Fazit, das eigentlich auf der Hand liegen sollte - von der britischen Regierung aber dennoch empört zurückgewiesen wird: “Großbritannien ist besonders gefährdet, da es der engste Verbündete der USA ist und mit bewaffneten Truppen bei der Militärkampagne zum Sturz der Taliban in Afghanistan mitgewirkt hat sowie im Irak” (und Großbritannien sei) “Beifahrer” der amerikanischen Politik. Großbritannien fährt hinter dem Fahrer auf dem Motorrad mit.

Wie wahrscheinlich ist eine Apokalypse in naher Zukunft? Niemand kann das genau sagen. Fest steht jedoch, die Gefahr ist so groß, dass kein vernünftiger Mensch bei dem Gedanken ruhig bleiben kann. Spekulationen bringen wenig, Aktion hingegen sehr viel. Ganz im Gegenteil - wir müssen dringend auf die Gefahr eines zweiten Hiroshima reagieren, vor allem hier in den USA. Washington ist führend, wenn es darum geht, den zerstörerischen Wettlauf voranzutreiben - indem es seine historisch einzigartige militärische Dominanz immer weiter ausdehnt. Auch Großbritannien spielt eine wichtige Rolle - weil es zu allem nickt, was sein engster Verbündeter anrichtet.

Anmerkungen:

Noam Chomsky ist Professor für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Autor zahlreicher Artikel und Bücher (siehe Chomsky-Archiv www.chomskyarchiv.de .

Quelle: ZNet Deutschland vom 19.08.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: We Must Act Now to Prevent Another Hiroshima — or Worse

Veröffentlicht am

20. August 2005

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