Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Bolivien knapp am Bürgerkrieg vorbei

Der Kampf um die Rechte der indigenen Bevölkerung und um die Naturressourcen geht weiter

Von Jason Tockman - ZNet 11.06.2005

Am späten Donnerstagabend konnte der drohende Bürgerkrieg in Bolivien mit knapper Not abgewendet werden: Die Kongressführer erfüllten eine zentrale Forderung der landesweiten Sozialbewegungen, indem sie nach Carlos Mesas Rücktritt keinen Anspruch auf das vakante Präsidentenamt erhoben. Die Indio-Aktivisten, die die Straßen blockierten, Hungerstreikende und die Kolonnen der Marschierer hatten gemeinsam mit den (meisten) Bürgermeistern der größten Städte des Landes an die Kongressführer appelliert, den Weg frei zu machen für eine Interimspräsidentschaft des Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, Eduardo Rodriguez Veltzé sowie für Neuwahlen.

Vier Wochen lang hatten Indio-Aktivisten, Mineros, Arbeiter, Studenten und Bauern nahezu Tag für Tag demonstriert und das Land weitgehend lahmgelegt. Alle Wege in die Hauptstadt La Paz waren blockiert. In der Innenstadt zündeten Mineros Dynamit, als bewaffnete Trupps Tränengas einsetzten, um die Demonstranten vom Regierungspalast fernzuhalten. Im ganzen Land gab es, laut Polizei, 138 Straßenblockaden - Stand Donnerstag - und es gab den ersten Toten: Carlos Coro Mayta (52), Vorsitzender einer Minenkooperative.

Allein in La Paz waren es 100 000 Demonstranten. Sie forderten die Wiederverstaatlichung natürlicher Ressourcen und eine neue Verfassung. Diese soll in einem Prozess des nationalen Dialogs entstehen.

“Wir wollen, dass unser Gas bzw. unser Öl verstaatlicht wird, damit unsere Kinder es eines Tages besitzen”, so die Forderung des jungen Indioführers Japth Mamani Yanolico auf einer Massendemo am Dienstag. Yanolico stammt aus der Provinz Omasuyos, nicht weit vom Titicacasee. “Und wir wollen eine verfassungsgebende Versammlung”.

Viele Demonstranten stammen von der Hochgebirgsebene - dem sogenannten Altiplano. Etliche leben in der Stadt El Alto, die sich über der Hauptstadt La Paz erhebt - ein Slum mit 500 000 Einwohnern, in dem man radikal denkt. Die Demonstranten beschuldigen ihre nationalen Führer des Ausverkaufs der nationalen Öl- und Gasreserven. Der Reichtum gehe an internationale Konzerne. Und die Demonstranten zeigen auch mit dem Finger auf den Internationalen Währungsfonds - der Bolivien seit 1985 drängt, Wirtschaftsreformen zu Lasten der Armen im Land durchzuführen.

Im Rahmen der Proteste versammelten sich in La Paz 25 traditionelle Indio-Honoratioren aus dem ganzen Land zu einem Hungerstreik, der heute in seinen vierundzwanzigsten Tag geht. Auf einer Behelfsliege ruhend erklärt Santo Anagua, vom Nationalen Rat der Ayllus und Markas aus Quillasuyu, mit schwacher Stimme, die Mehrheit der Bolivianer sei nicht länger gewillt, den gegenwärtigen Kurs des Landes mitzutragen.

“Während der 180 Jahre dieser Republik war uns Partizipation versagt”, so Anagua. “Während dieser Zeit wurden wir im Land misshandelt. Es herrscht Armut und Diskriminierung, und nun hat die Zivilgesellschaft der indigenen Bevölkerung also entschieden, dass es nicht so weitergehen kann.”

Sacha Llorenti, Präsidentin der wichtigsten bolivianischen Menschenrechtsorganisation Permanent Assembly on Human Rights, beschreibt Bolivien als ein Land in einer tiefgreifenden Strukturkrise.

“Es ist eine politische Krise”, so Llorenti, “derzeit sind die Bürgerinteressen nicht durch die Regierung repräsentiert…. und (es ist) eine Wirtschaftskrise, denn die Politik der Strukturanpassung und der Privatisierungsprozess sind keine Lösung für die durch Armut, Diskriminierung und soziale Ausgrenzung gekennzeichnete Situation der Bolivianer, und (es ist) auch eine soziale Krise, denn heute sind die Bolivianer in sozialer Hinsicht wesentlich verwundbarer als noch vor 10 Jahren”.

Boliviens instabile Wirtschaftslage - aufgrund der Marktreformen - hat in der Vergangenheit immer wieder zu Demonstrationen geführt, gegen die Privatisierung von Wasser und Erdgas und gegen die soziale Ausgrenzung der indigenen Bevölkerungsmehrheit. 2003 eskalierten die Unruhen in einem Blutbad, bei dem 80 Demonstranten starben. Daraufhin trat Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada von seinem Amt zurück. Lozada ist der Vorgänger des bisherigen Präsidenten Mesa. In der jetzigen Krise hielt sich das Militär allerdings bemerkenswert zurück - jedenfalls galt das bis Coro Mayta starb.

Als Präsident Mesa seinen Rücktritt bekannt gab, wurde eine neue Forderung erhoben (neben der nach Verstaatlichung von Gas und Öl und nach Einberufung einer Verfassungskommission). Diese neue Forderung lautete: Mesas potentielle Nachfolger sollten auf ihre Chance verzichten, zudem sollte es vorgezogene Wahlen geben. Laut bolivianischer Verfassung wäre eigentlich der Präsident des Senats an der Reihe gewesen, Mesas Nachfolger zu werden. Sein Name lautet Hormando Vaca Diez. Diez ist ein umstrittener Konservativer und reicher Landbesitzer, mit ausgeprägten Verbindungen zu separatistischen Geschäftsinteressen im ostbolivianischen Bundesstaat Santa Cruz.

Evo Morales, sozialistischer Kongressabgeordneter und selbst Aspirant auf das vakante Präsidentenamt, forderte Vaca Diez und Mario Cossio (Unterhausführer im Kongress) hierauf auf, Mesas Beispiel zu folgen und ihre Ämter niederzulegen. Morales erklärte, falls Vaca Diez Anspruch auf das Präsidentenamt erhebe, werde dies zu einer dramatischen Eskalation der Straßenproteste führen. Ex-Präsident Mesa, die Bürgermeister von sieben Großstädten (einschließlich des Hauptstadtbürgermeisters), Kongressabgeordnete und die Führer der Zivilgesellschaft stimmten dem bei.

Die Demonstranten auf der Straße erklärten wütend, falls Vaca Diez Präsident wird, gleitet das Land in den Bürgerkrieg ab.

“Vaca Diez wirkt auf die bolivianische Politik ungefähr so harmonisierend wie in den USA der Abgeordnete Tom DeLay”, so Jim Shultz, US-Bürger und geschäftsführender Direktor des Democracy Center in Bolivien. “Er (Diez) ist gegen die Rückübertragung der nationalen Gas- und Ölvorkommen an die öffentliche Hand. Zudem hatte er Mesa dazu aufgerufen “zu regieren” - gruselig … (denn das ist) das Kürzel für das Militär einsetzen, um die Proteste niederzuschlagen”.

Am Donnerstag hatte der Kongress eine Dringlichkeitssitzung anberaumt. Ursprünglich für 18 Uhr angesetzt, wurde sie jedoch verschoben. Viele Bolivianer rechneten schon mit dem Schlimmsten - bis hin zum Staatsstreich (nach Berichten über Truppenbewegungen im Bundesstaat Santa Cruz). Die TV-Stationen brachten weiter Informationen über den Tod von Coro Mayta, Gerüchte gingen um, die US-Botschaft hätte sich heimlich mit Vaca Diez getroffen, um eine “Lösung” für die Krise zu suchen. Das Rote Kreuz richtete in der Innenstadt von La Paz schon eine Notfallstation ein, und die Geschäfte vernagelten ihre Fenster mit Brettern und bereiteten sich auf Straßenschlachten vor.

Um 21 Uhr 15 dann die dramatische Wende. Sowohl Vaca Diez als auch Mario Cossio erklärten öffentlich ihren Verzicht auf das Präsidentenamt, um es dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofs, Rodriguez, zu überlassen. Der hat bereits Unterstützung für eine Verfassungskommission signalisiert und ist bereit, sich mit der Forderung der Demonstranten nach Verstaatlichung von Erdgas und Rohöl auseinanderzusetzen. Ein kollektiver Seufzer der Erleichterung ging durch das Land. Wenigstens für den Augenblick war eine gewaltsame Konfrontation abgewendet.

Gleichzeitig ist klar, die Sozialbewegungen Boliviens werden sich allein durch den Wechsel im Präsidentenamt nicht einlullen lassen. In El Alto trafen sich mehr als 60 Organisationen zu einer Volksversammlung. Die Vertreter der Gemeinden verpflichteten sich, “alle Manöver der herrschenden Klasse zurückzuweisen, dieselben alten Politiker wieder an die Macht zu bringen - egal, ob über die Verfassung oder über Wahlen”. Das betrifft vermutlich auch Rodriguez.

Inzwischen verweigert Anagua schon seit mehr als drei Wochen die Nahrung. Er scheint voller Hoffnung, der neue Präsident Rodriguez werde sich der Forderungen der bolivianischen Sozialbewegungen annehmen. Dennoch, so Anagua, gebe er sich keinerlei Illusionen hin und sei bereit, den Hungerstreik fortzusetzen.

Auch Morales erklärt, der Kampf werde nicht erlahmen: “Wir sind Soldaten der Volksbewegungen, der indigenen Völker, der Bauern. Wir werden wachsam bleiben in der Zeit der Übergangsregierung, damit diese die Forderungen des Volkes erfüllt”.

Jason Tockman - ein Autor mit Schwerpunkt Lateinamerika, Globalisierung und indigene Rechte - lebt abwechselnd in Südamerika, Athen und Ohio. Sie erreichen ihn unter tockman@riseup.net

Quelle: ZNet Deutschland vom 13.06.2005. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: Bolivia Pulls Back From The Brink Of Civil War

Veröffentlicht am

15. Juni 2005

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von