Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Krieg ächten - Gewalt überwinden; Umgang mit Ohnmacht, Entdecken von geteilter Macht

Am 30. März 2005 ist Herbert Froehlich, unter anderem Geistlicher Beirat von pax christi und Vorsitzender von Oekumenischer Dienst Schalomdiakonat, gestorben. Mit seinem Tod verliert die pax christi-Bewegung, aber auch die gesamte Friedensbewegung, eines ihrer profiliertesten Mitglieder. Aus den Erfahrungen des Kriegs lernen und Frieden stiften im Kleinen als Grundlage für einen andauernden Frieden, das war Herbert Froehlich Programm und Auftrag zugleich. Friedensarbeit war für ihn immer Dienst am Frieden und in diesem Sinne Dienst am Menschen.
Wir lassen Herbert Froehlich nochmals zu Wort kommen, indem wir einen Vortrag dokumentieren, den er im Mai 2004 beim 6. Symposion für Künstlerische Therapien “Gewalt und Toleranz” in Tallinn/Estland gehalten hat. Darin beschreibt er u.a. als eine wichtige Aufgabe die Entwicklung einer Kultur, in der es darum geht, nicht zu siegen. Zur Überwindung von Gewalt, für eine Kultur des Friedens, im Sinne von Toleranz und wechselseitiger Achtung der Kulturen, Völker, Religionen, steht diese Aufgabe vor uns. Damit unsre Stadt, unser Land, unsere Erde besteht.

Krieg ächten - Gewalt überwinden;
Umgang mit Ohnmacht, Entdecken von geteilter Macht.

Von Herbert Froehlich

Sie haben mich eingeladen, zu Ihrem Thema “Gewalt und Toleranz” zu sprechen. Nicht als einen, der weltweite Phänomene wissenschaftlich aufnimmt und einer systematischen Analyse unterwirft, sondern als einen, der selbst aus einem gesicherten, wohl geordneten Leben kommt, für den gleichwohl Krieg und Frieden, Gewalt und gewaltfreie Konfliktaustragung nach und nach zu einem Lebensthema geworden sind.

1. persönliche Zugänge:

Ich stelle mich als katholischer Theologe vor. Ich bitte Sie, meine theologischen Deutemuster als etwas aufzunehmen, das für mich nützlich wurde, und das Sie für sich übersetzen mögen.

Warum ein Theologe sich für Krieg und Frieden, für Gewalt und ihre Überwindung interessieren muss, die Antwort ergibt sich für mich aus zwei Ereignissen, die für mein Leben bestimmend wurden. Dahinter steckt, so wurde mir nach Jahrzehnten klar, eine Lebensvorgabe, die nicht ausgesprochen wurde: Der Vater war Soldat im Zweiten Weltkrieg, und tat und erlitt irgend etwas in Russland, worüber weder er noch sonst jemand im Hause sprach. Ich bin geboren im Herbst 1944. Nach dem Kriege gab es für die Familie keine Sprache der Aufarbeitung; Weder fand der Katholik eine religiöse Sprache noch fand der Deutsche eine nationale Sprache, etwa im Sinne der Deutung, der Anerkennung von Ungeheuerlichkeiten, schließlich der Heilung.

Die Anfangsphase meines Theologen-Lebens als Student und Vikar, also das Jahrzehnt 1965-1974, das ist in der katholischen Kirche die Zeit nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Das Konzil hatte den jungen Mann gelehrt, als Katholik seine Blicke über die engen Grenzen der eigenen Traditionen hinaus zu weiten, die Zeichen der Zeit zu erkennen und daraus die eigenen Aufgaben zu deuten. So fand ich in den Beschlüssen des Konzils eine ernste Forderung, den Krieg ganz zu ächten, eine Weltautorität zur Wahrung des Friedens in Recht und Gerechtigkeit zu schaffen, aber vor allem neue Wege zu wählen, von innen, von unten, um “alle Menschen guten Willens” für eine Ächtung des Krieges bereit zu machen.

Das war eine Zeit, da sich diese Kirche ihrer goldenen Ketten bewusst wurde, in denen sie gefangen gewesen war: durch Konkordate, also Verträge zwischen Staat und Kirche mit sogenannten katholischen Staaten und vielen anderen Verquickungen mit weltlicher Macht. Die Rufe nach einer freiwillig armen Kirche gingen einher mit der Beschwörung, den Krieg zu ächten.

Für mich persönlich erwuchs daraus die Formel: was tue ich als ein reicher Priester in einer reichen Kirche in einer reichen Gesellschaft mit dem armen Herrn Jesus? Nicht auswandern, sondern einen Platz der Transformation suchen, hier in Deutschland, für mich war das Westdeutschland, hier im kirchlichen Milieu.

Zwei Jahrzehnte später stellte sich diese Anfrage erneut, breiter und tiefer. Der Weltrat der christlichen Kirchen hatte aufgerufen zu einem “Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung”, und in Versammlungen und Pilgerwegen wurde bedacht, erlernt, beschworen, was das alles in dieser Zeit zu heißen hätte, und was dabei die Aufgabe der Kirchen sei. Delegierte und Experten rangen um das rechte Wort, Ökumene-Gruppen machten sich auf den Pilger-Weg, um von Gemeinde zu Gemeinde zu fragen nach der Erfahrung der Betroffenen. Das war eine Sprache, wie sie meinem Vater nicht vergönnt gewesen war.

Menschen suchten durch Fußwege ein langsames Eintauchen in ihre eigene Geschichte, in die Geschichten ihrer Region, und sie versuchten Kriegsdenkmäler neu zu sehen, hörten Menschen zu, die vor wenigen Monaten als Flüchtlinge aus irgendeinem Weltwinkel ins Land gekommen waren, oder die vor einigen Jahrzehnten in der Folge des II. Weltkrieges zur Flucht gezwungen waren. Menschen fragten nach den Bedingungen ihres Lebens, regional den der Landwirtschaft und global nach den Preisen für Obst, Kleidung und Kaffee.

Die Überwindung von Angst, Not und Gewalt, die Suche nach Gerechtigkeit und Friede, nach einer Haltung der Ehrfurcht vor Gottes Schöpfung, nach der Ehrfurcht vor dem anderen, das alles entdeckte ich als kostbare Schätze. Dazu gehörte die Erkenntnis: global denken, lokal handeln. Also: wenn Krieg und Gewalt weltweit nicht mehr gelten sollen, bedarf es der Veränderungen, und die eigenen Chancen zur Veränderungen beziehen sich auf den nächsten Lebensraum. Mein Lernprozess entwickelte sich im Rahmen der Aufgaben eines Pfarrers auf dem Lande in einer industrialisierten Umgebung

2. Lernen in Zeiten des Aufbruchs: Wie kommen Veränderungen in Gang?

2.1 Das, was uns bestimmt, hat seine bestimmende Sprache.

Dem Pfarrer im ländlichen Raum begegnet die Autorität der Tradition in Geschichten. Die Eigenheiten der einen zeigen sich in der Art, wie sie über die anderen sprechen. Die Geschichten zeigen, dass die andern immer so sind: nämlich unzuverlässig, rücksichtslos, gewalttätig. Wenn das so ist, dann ergibt sich: Es ist gut, den Unzuverlässigen nicht zu trauen, sich von den Rücksichtslosen fern zu halten, gegenüber den Gewalttätigen Maßnahmen zu ergreifen.

Der Pfarrer wird viele Male diese Geschichten hören und dadurch lernen, wie es den Leuten geht, diesen Leuten in seiner Gemeinde. Er hört bei Hochzeiten, sommerlichen Vereinsfesten, erlebt alte Bräuche mit. Geschichten sagen: es war schon immer so.

Der Pfarrer, dem das nicht genügt, hat eine Chance: Er kommt auch als Gast in die Nachbargemeinden. Er hört auch dort Geschichten, nicht selten handeln sie von denselben Begebenheiten wie die schon gehörten, aber eben anders. Waren zuvor die anderen unzuverlässig, so sind jetzt die ersten Sturköpfe; waren zuvor die anderen rücksichtslos, so sind die ersten nun unbelehrbar, und natürlich gewalttätig obendrein. Nun wird der Pfarrer bei nächster Gelegenheit erneut die alten Geschichten hören, und er wird die neuen Geschichten dazu erzählen, um zu ergänzen, nicht um zu revidieren. ?So wird da drüben gesagt.’ Die verschiedenen Geschichten, die verschiedenen Wahrheiten müssen sich treffen. Verwunderung setzt ein, Nachdenken. Immerhin.

In jüngster Zeit höre ich von dem israelischen Schriftsteller Uri Avneri gerade diesen Hinweis: wollen wir zum Frieden kommen, müssen wir die Geschichte des anderen kennen.

2.2 Eine bedrohliche Lage wird zum gemeinsamen Lernprojekt

Eine Todesdrohung meldet sich ganz aus der Nähe, vom eigenen Grund und Boden. Die Gemeinde lebt in der Rheinebene, das ist eine wunderschöne, von südlichen warmen Winden belebte Region; der Boden ist sandig, lädt ein zu Sonderkulturen. Tabak, Spargel, Erdbeeren, Hopfen, an den Hängen nahebei Wein. All diese Sonderkulturen werden intensiv gedüngt. Über die Jahre konzentrieren sich Salze im Grundwasser, die Gemeindeverwaltung muss die Familien mit Kleinkinder warnen: Ein Übermaß von Nitrat im Trinkwasser bedeutet Erstickungsgefahr für die Säuglinge.

Die Gemeinde, die gelernt hat, zu erwarten, dass Dinge veränderbar sind, ist nach einigem Staunen bereit, auf einen Vorschlag einzugehen.

Die Bedrohung kommt nicht nur aus dem verseuchten Trinkwasser, sie kommt aus dem schon erkennbaren Streit. Anklagen und Verdächtigungen werden ausgesprochen, jemand wird schnell als Hauptschuldiger entlarvt, es droht mit dem Verlust des gesunden Lebens zugleich der Verlust des Friedens im Dorf.

Zugleich sieht der Pfarrer den theologischen Notstand: Wasser ist das Zeichen des Lebens, es wird für die Taufe der Kinder gebraucht. Das Wasser sagt aber aktuell nicht Leben, sondern Tod. Was heißt das für die Taufe?

Es beginnt, was die Staatsregierung nicht glaubt: es beginnt ein wirkliches gemeinsames Lernen aller Beteiligter. Die Landwirte, die meisten im Nebenerwerb, die Vertriebsgenossenschaft, die Vertreter des Handels und der Verbraucher, Kleingärtner, politische Parteien und Kirchen, alle nehmen teil an einem ?Arbeitskreis gesundes Wasser’. Sie lernen die einfliegenden Experten genau zu befragen, denn sie haben gelernt: Experten aus hohen Ämtern haben häufig die Aufgabe, die Leute dumm zu machen. Also suchen sie genau die Antworten zu prüfen und die fachlich guten Erkenntnisse von der Ideologie der Obrigkeit zu unterscheiden.

Die Dorfbewohner legen über eine Zeit einen gemeinsam akzeptablen Weg zur Wiedergewinnung des Wassers fest, das unter ihrem Wohnort als Grundwasser langsam dahin zieht. Und sie haben Erfolg. Sie erleben einen Prozess, der die Menschen zeigt als TeilhaberInnen an einem Lebensprojekt mit unterschiedlichen Rollen. Alle gewinnen an Größe, und schließlich auch wieder den direkten Zugang zu ihrem erneut trinkbaren Grundwasser. Reformen lassen sich in ihrer Art darin unterscheiden, ob sie die Menschen größer oder kleiner machen.

3. Ein Friedensbekenntnis und ein Krieg - zum Weg einer Frage

Die Kirchen-Versammlungen für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung sind schon erwähnt worden. Im Mai 1989 haben sich die christlichen Kirchen Europas zusammen getan, um die Erkenntnis festzuhalten, dass diese Fragen Kernfragen des Glaubens seien. Insbesondere tritt die Versammlung für die Überwindung des Krieges ein und wirbt für den Aufbau gewaltfreier Methoden, für qualifizierte Friedensdienste.

Im Sommer 1991 wird die jugoslawische Armee aus Belgrad in ihre ersten Angriffe geschickt, es geht gegen das separatistische Slowenien. Darauf folgen die Phasen des kroatischen und des bosnischen Krieges, der Vertreibungskampf um das Kosovo, die Spannungen in Mazedonien.

Im Herbst 1991 beginne ich meine Reisen nach Kroatien, Bosnien und Serbien. Ich suche Friedensgruppen auf, aber vor allem religiöse Zentren. Die katholische Kirche der Kroaten und die serbisch-orthodoxe Kirche vor allem. Im Gepäck habe ich u.a. folgende Frage:

Wenn die christlichen Kirchen vor kurzer Zeit in Basel so entscheidende Dinge erklärt haben, wie verstehe ich die Rolle der Kirchen und der Religionsgemeinschaften, ihre Verbundenheit mit ihren Nationen, und die Nähe zu ihren kriegführenden Regierungen? Und was erwarten Sie von den Kirchen, von christlichen Gruppen Europas in dieser Situation? Und ich füge hinzu: Ich komme nicht mit dem Lastwagen für Lebensmittel oder Maschinengewehre, ich komme nicht mit einem Haufen Geld. -

Meine Fragen finden Antworten:

Zum einen lernte ich die historische Rolle einer national orientierten Kirche zu verstehen. Ihre historische Stärke als Protektor ihres Volkes in Zeiten der Fremdherrschaft, - vgl. die Rolle der katholischen Kirche in Polen zu Zeiten ihrer mehrfachen Teilung - aber auch ihre aktuelle Schwäche in der mangelnden Distanz vom aktuell modernen nationalistischen Denken. Kirchen und Religionsgemeinschaften dieser Art waren nicht vorbereitet, zu kritisch-solidarischen Wegbereitern zu werden, durch die Krieg vermieden und ein akzeptabler Friedensprozess eingeleitet werden könnte. Es war schmerzlich zu erkennen: einerseits haben die Repräsentanten der Kirchen und Religionen beschwörende Friedensappelle an die Völker gerichtet; sie waren in einer allgemeinen Sprache verfasst. Andererseits teilten die Religionsführer die jeweilige Einschätzung ihrer Nation über den Krieg, so dass die Appelle nicht wirksam werden konnten. Es war nicht möglich, dass Menschen, die diesen Appellen zuhörten, weil sie den Sprechern vertrauten, in ihrer vorgefassten, kriegsförderlichen Haltung erschüttert wurden.

Zum andern lernte ich kleine Gruppen, Einzelpersonen im Kontext dieser Kirchen kennen. Sie waren Zellen der Friedensarbeit im Schlachtenlärm. Durch sie hörte ich alte Geschichten, etwa von lokalen Friedensbündnissen zweier Dörfer inmitten des Krieges. Und solche erstaunlichen Friedensaktionen gab es auch aktuell, wohl leider wenige an Zahl. Aus ihnen wuchsen Kräfte des Friedens, schon im Krieg selbst, aber vor allem danach, zum Aufbau einer gesellschaftlichen Ordnung, durch die eine Nachkriegszeit nicht erneut zur Vorkriegszeit werden sollte.

Der Krieg dämonisierte den jeweils anderen. Das Andere sollte fremd, das Fremde sollte bedrohlich, das Bedrohliche todeswürdig erscheinen.

Es waren heroische Akte, im kroatischen Osijek für das Wohnrecht von serbischen Familien einzutreten; im serbischen Sombor ca. 60 km entfernt am Tag öffentlich darüber zu reden, dass in der Nacht zuvor die Panzer westwärts Richtung Kroatien gefahren waren.

Internationale Besucher konnten einiges tun, wenn sie sich Zeit nahmen für eine Reise zu diesen Gruppen. Sie konnten zuhörend gute Erinnerungen wecken. Sie konnten von Versuchen der Menschenrechtsarbeit berichten in anderen Regionen jenseits der Front, ein wenig die Politik der Informationsverbote unterlaufen. Manche waren in diesem Punkte virtuos, z.B. in der Installation von Computernetzen, durch die Kommunikation auch in eingeschlossene Gebiete möglich war.

Als Beispiel sei ein Zentrum für Frieden, Gewaltfreiheit und Menschenrechte in Osijek genannt, aus der Universität heraus inmitten des Krieges gegründet wurde. In der hart umkämpften Region spielte und spielt das Zentrum eine wichtige Rolle bei dem Versuch, ethnisch unterschiedliche Familien erneut nebeneinander wohnen zu lassen, mit gleichen Rechten und wechselseitigem Respekt, nach all dem Ungeheuerlichen, was vorgegangen war. Man kannte die Mörder der Familienangehörigen. Im Erzählen von Geschichten, in der Wahrung von traumatischen Erlebnissen, in der vorsichtigen Arbeit an Fragen des Rechts, des Eigentums und der Bildung wurden hier nationalistischen Interessen entgegen dem Hass und dem Misstrauen Einfluss-Sphären entzogen.

Zum dritten lernte ich die Bedeutung der erwähnten Geschichten kennen, als ich zurück in Deutschland berichtete. Zahllose Gruppen entstanden hier, um Kriegsflüchtlinge aus der Balkanregion zu begleiten. Sie litten wie viele andere unter den nie enden wollenden Kriegsnachrichten, unter der Unsinnigkeit des Mordens, der Zerstörung von Krankenhäusern, Friedhöfen, Kirchen, der systematischen Vergewaltigungen, des Greuels tagaus, tagein.

Für diese Gruppen und ihre Gäste war es wesentlich zu hören, dass mitten im Wahnsinn des Krieges Menschen versuchten, menschenfreundlich zu handeln. Da waren Dörfer, die sich weigerten, die Barrieren gegeneinander hochzuziehen; da hatten zwei Dörfer sich von einem alten Psychologie-Professor aus Rijeka überzeugen lassen, der so lange hin und her gependelt war, bis er das von außen eingeimpfte Misstrauen wieder ausgeglichen hatte durch Gespräche, Absprachen, Friedenssignale auf beiden Seiten. Es ist hart zu verlernen, was einem Tag und Nacht in die Ohren geblasen wurde.

In einem anderen Dorf war es ein Franziskaner, der mit hoch erhobenen Händen das serbische Nachbardorf betrat, nicht achtend die Beschwörungen und die Drohungen vorher; er wurde eben nicht erschossen, und an dieser Stelle fand kein Krieg statt.

Minderheiten also lassen sich finden, Experten des eigenen Leids und der Wege aus der Gefahr. Aber die Kriege fanden statt, und Kriege finden statt. Gewalt wird geübt, die Kultur der Menschen verelendet. Was kann man tun?

4. Der Umgang mit Ohnmacht

Angesichts der Gewalt wird die Frage entscheidend, wie mit Ohnmacht umgegangen wird.

Bei meinen Reisen im Krisengebiet Jugoslawien hatte ich dieses Gefühl immer und immer wieder. Es war verbunden mit der Frage: was tust Du hier? Ein Bild steht mir vor Augen. Ich sitze in einem allgemeinen Linienbus von Zagreb nach Sarajevo. Die Fahrtroute ist nicht die übliche, manche Brücke ist gesperrt, vielleicht schon zerstört. Uns entgegen sind Fahrzeuge zu sehen, in bunter Mischung. Personenwagen, Kleinlastwagen, Pferdekarren, Traktoren. Die Dinge auf den Ladeflächen finden sich meist nicht gut geordnet, sondern wild aufeinander geworfen. Ernste, geschlossene Gesichter der Erwachsenen, die Augen der Kinder sprechen von Angst.

Ich habe nichts zu tun als auszuharren auf meinem Platz.

Um mich dieser Ohnmacht zu stellen, lasse ich mir zu Ostern einen Platz zuordnen in einem Franziskanerkloster, in dem umkämpften Westslawonien. Ich sehe die Menschen gehen, höre aus der Ferne die Granaten pfeifen, betrachte den Einschlag einer Granate im Kirchendach und sehe den Brüdern zu. Es ist eine Zeit der Stille. Sie braucht Zeit.

Eine großartige Entdeckung gestalteter, verwandelter Ohnmacht mache ich in Sombor, der kleinen Stadt östlich der Donau, der Name ist schon genannt. Eine Gruppe hat mich eingeladen zu einem Seminar über gewaltfreies Handeln. Diese Gruppe ist schon ein Jahr zusammen, solange der Krieg währt, und meditiert; vielleicht zwei oder drei Mal die Woche.

Auf diese Weise schaffen sich die 8 - 10 Personen eine Distanz zur Kriegspropaganda. Sie setzen dem Lärm ihre Stille entgegen. Sie hören nachts die Panzer rollen, sie sehen die Flugzeuge fliegen, sie lassen die dröhnenden Schmähungen auf alles, was feindlich ist, nicht in sich ein. Sie sind verschiedenen religiösen, ethnischen Ursprungs, sie denken nicht in den Kategorien, die ihnen vorgegeben sind.

Die Einladung zum Seminar bezeichnet eine innere Bereitschaft der Gruppe, in eine andere Phase ihrer Autonomie zu gehen. Aber noch ist diese Phase nicht erkennbar. Die Aufforderung der Gruppe an sich selbst, zu einem gewaltfreien Handeln zu kommen, stößt auf Nebel. Magla - Nebel ist das Schlüsselwort dieser Tage. Doch wenige Wochen später lichtet sich das Terrain ein wenig, um erkennen zu lassen, was zu tun ist.

Flüchtlinge kommen in die Stadt, serbische Flüchtlinge, vertrieben von kroatischen Einheiten. Ihnen ist offenbar die Aufgabe zugedacht, alle nichtserbischen Bewohner, also vor allem Kroaten und Ungarn, zu vergraulen, auf Wegzug einzustellen. Schon tauchen entsprechende Schmierereien auf, an Kirchen, Friedhöfen, schon wird die Atmosphäre ungemütlich.

In der Meditationsgruppe gibt es einige Lehrerinnen, die bringen das Thema in die Gruppe. Es wird beschlossen, die serbischen Flüchtlingsfamilien zu begrüßen. Sie sollen Hilfe bekommen beim Einziehen in verlassene Häuser, sollen freundlich angesprochen sein, Jugendliche sollen besondere Angebote bekommen, um die Fremdheit zu überwinden. Nach kurzer Zeit nimmt die Dichte neuer Schmierereien ab, die Konfrontation wird von immer mehr Menschen bewusst wahrgenommen, die Stadt besinnt sich auf ihre multiethnische Identität. Die Gruppe hat aus der ausgehaltenen Ohnmacht zu ihrer Sprache, zu ihrem Handeln gefunden, und in der Stadt ist die subversive Freundlichkeit der Gruppe erfolgreich.

Das Miteinander ist eine Macht der Ohnmächtigen. Ich ziehe ein Beispiel heran aus einer anderen Weltregion. Ich hörte davon erst vor wenigen Wochen. Vielleicht wissen Sie, dass in Deutschland derzeit eine starke Auseinandersetzung stattfindet. Die Alteingesessenen werden sich mehr und mehr dessen bewusst, dass es ca. 3 Millionen Muslime in Deutschland gibt, die meisten davon eingewanderte Arbeiterfamilien aus der Türkei. Seit dem 11. September 2001 stehen sie unter Generalverdacht, allesamt für Gewalt offen zu sein. Das Fremde wirkt bedrohlich.

In dieser Situation haben sich christliche Friedensorganisationen mit zwei muslimischen Dachorganisationen zusammen getan, um gemeinsam die Szene zu beobachten und gemeinsam zu reagieren. Sie tun das einmal durch gemeinsame Erklärungen in der Öffentlichkeit, um die Sprecher der Minderheit sich nicht selbst zu überlassen, und sie bereiten derzeit gemeinsam einen islamisch-christlichen Kurs für gewaltfreie Konfliktbearbeitung vor, um lokalen Multiplikatoren die Möglichkeit zu geben, aktuell gewaltträchtigen Tendenzen entgegen zu wirken.

Dem Generalverdacht: Ihr Muslime seid doch alle gewalttätig, wirken authentische Geschichten entgegen. Eine jüngst gehörte klingt sehr ähnlich meinen oben zitierten Dorfgeschichten. Sie stammt aus Äthiopien. Dort leben Christen und Muslime seit vielen Jahrhunderten neben einander. Als in den jüngsten Kriegswirren muslimisch orientierte Militärs die Christengemeinde in der Kirche attackieren wollten, stellten sich spontan muslimische Beter in den Kircheneingang: bevor Ihr die Christen erreicht, müsst Ihr uns töten. - Was wir brauchen, sind konkrete, glaubwürdige Berichte vom menschlichen handeln derer, die unter einem bösen Generalverdacht stehen.

Ich erwähnte den 11. September 2001. Wir kennen die Szene, den Ort. Ich sollte erwähnen den 13. und 14. September 1999. Vielleicht ist Ihnen auch diese Szene bekannt: bewohnte Hochhäuser in Moskau, von einem Bombenattentat erschüttert. Oder Kerbala im Irak: ein Attentat auf große Scharen von Pilgern, oder Stockholm: die Ermordung der schwedischen Außenministerin Lindh, die Liste der Ereignisse ließe sich fortsetzen.

Der Eindruck einer total veränderten Lage ist vorherrschend; die plötzlich über die Menschen gekommene Ohnmacht angesichts einer gewaltsamen Tötung, sei es eines Menschen des öffentlichen Lebens, sei es das von vielen tausend Menschen inmitten pulsierenden Lebens, all das ist für viele schlechthin nicht erträglich. Wir können so vieles, wir sind gewohnt es einzufordern, also muss etwas geschehen.

Da ist es hilfreich, wenn in Kerala Religionsführer die Menge zur Geduld mahnen, wenn schnelle Schlüsse auf den schon erahnten Feind nicht gezogen werden.

Es ist Schlimmes geschehen unter uns, und wir können dieses Schlimme nicht wegschieben, nicht zuordnen, nicht ungeschehen machen, nicht interpretieren.

Die Bereitschaft politischer Führer, die Sicherheitsgesetze zu verschärfen, die Kontrolle einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu radikalisieren, all das findet öffentlichen Beifall. Aber ist es nicht eher eine hilflose Geste, um nachträglich etwas zu verändern, was nicht mehr zu verändern ist?

Wir kennen die Reaktionen auf die Hochhausattentate in Moskau und New York. Sie heißen Krieg in Tschetschenien, Afghanistan, Irak. Für eine Neuorientierung in all diesen so unterschiedlichen Fällen brauchen wir die Distanz des Rechts, die Vergeltungswünsche in Schranken weist, und die Nähe aus der Stille und der ausgehaltenen Ohnmacht, die vorschnelle Deutungen zurückweist, die Raum gibt zur Analyse größerer Zusammenhänge, aus der vielleicht gar die Kraft zu einer neuen Selbstbesinnung sowie zur Vergebung wächst. Vergebung allerdings kann nicht eingefordert werden.

5. Zweifach delegieren - eine Zumutung an die Macht des Staates

Kassandra, die Seherin aus Troja, sagt mit den Worten der Dichterin Christa Wolf: “Wenn ihr aufhören könnt zu siegen, wird diese eure Stadt bestehen.”

Werden wir Menschen dafür eine Kultur entwickeln, nicht zu siegen? Christa Wolf, eine deutsche Schriftstellerin, deren Namen mit der nun vergangenen DDR verbunden ist. Das übrig gebliebene Deutschland konnte der Versuchung zu siegen nicht widerstehen. Die Angleichung an das Gesellschaftssystem der alten BRD musste erfolgen; die Bitterkeit derer, die zuvor gewaltfrei überwunden hatten und nun Besiegte wurden, ist groß. Wieviel gesellschaftliche Lähmung, die wir in Deutschland heute spüren, auf eine westlich ausgeprägte Gleichgültigkeit und eine für den Osten charakteristische Bitterkeit zurückzuführen ist, lässt sich schwer ermitteln.

Jedenfalls scheint mir eine Aufgabe beschrieben: Zur Überwindung von Gewalt, für eine Kultur des Friedens, im Sinne von Toleranz und wechselseitiger Achtung der Kulturen, Völker, Religionen, steht diese Aufgabe vor uns. Damit unsre Stadt, unser Land, unsere Erde besteht.

Als ein Gast Ihres schönen, heute selbständigen Estland und Ihrer Stadt Tallinn würde ich gerne zuhören können, wie Sie diese These bedenken. Ich bin dabei, mich Ihrer Situation aus einer Geschichte anzunähern, nämlich aus der Sicht eines Balthasar Rüssow im 16. Jahrhundert, als Ihr Land in wechselnden Abhängigkeiten von mehreren mächtigen Nachbarn seine Chance suchte. Als einen Führer zur Orientierung wünsche ich mir einen jungen Mann namens Tiidrik, der es in Kriegszeiten vorzog, Feuer zu löschen als Feuer zu legen.

Heute suche ich eine Annäherung an Ihre Lage von Staaten her, die wie Sie erst seit kurzem Selbständigkeit erlangt haben. Ich kann, wie angedeutet, etwas sagen zu den neu zu Souveränität gekommenen Ländern Serbien, Kroatien, Bosnien-Herzegovina und zu der grundlegenden Erfahrung fremder oder besser: entfremdeter Volksgruppen im Lande. Allerdings wage ich keine Übertragung; denn das Phänomen einer russischen Bevölkerung in Estland ist doch von anderer Art, nach Geschichte und Anzahl.

Eine globale Erkenntnis ist: die Erde ist rund, Auswandern ist keine Lösung für viele, und so auch nicht Flucht und Vertreibung. Gerechtigkeit entsteht nicht durch die Demütigung derer, die früher Privilegien genossen. Nachbarschaftliche Toleranz ist eine schiere Notwendigkeit, sie gehört zu den Basistugenden einer neuen globalen Innenpolitik.

Dafür zeigen sich derzeit zwei Hauptwege, die sich gegenseitig ergänzen.

Den Ausgang bilden jeweils der Nationalstaat und seine Bündnisse. Der Staat beansprucht das Gewaltmonopol, er beansprucht die politische Macht, das Instrument militärischer und polizeilicher Gewalt, die Steuerung ökonomischer, auch kultureller Macht.

Vieles an ökonomischer, manches an militärischer und damit eben auch an politischer Macht ist den Staaten schon entflohen in private Hände, vieles davon in solche großer Konzerne. Hier wird gesiegt oder vielmehr gewonnen, Transparenz ist kurzfristig nicht möglich und auch nicht erwünscht.

Nur die Kraft kann auf das Siegen verzichten, die nicht dominieren muss, die ihr Ziel im Ausgleich erreicht. Das sind auf Regierungsebene die Vereinten Nationen sowie regionale transnationale Organisationen wie die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Das sind auf der Ebene der Nicht-Regierungsorganisationen eine Vielfalt von Gruppen, Einrichtungen, Initiativen, deren Ziel mit “Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung” zu tun hat.

Freilich wird den Staaten der Verzicht auf das Siegen am schwersten, die sehr viel Machtprivilegien angesammelt haben, und die meinen, bei der Durchsetzung ihrer Interessen auf sonst niemand angewiesen zu sein. Sie werden beim Aufbau einer neuen Machtdynamik nicht gerade die ersten sein. Einige kleinere Staaten haben die Gunst ihrer Stunde verstanden und wurden zu Gastgebern transnationaler Organisationen wie Österreich und die Schweiz, oder sie bauen selbst die Rolle von politischen Mediatoren auf wie Ihr Nachbarland Norwegen.

Die Vereinten Nationen selbst brauchen solche Bündnispartner. Für sich selbst brauchen sie Transparenz ihrer eigenen Entscheidungen ebenso wie einen Zuwachs an legislativer, exekutiver und juridischer Macht. Sie müssen davor geschützt werden, von denen als ohnmächtig belacht zu werden, die zugunsten ihres eigenen Imperiums alles tun, ihnen Macht vorzuenthalten.

Begehrte Bündnispartner von Einrichtungen der UNO oder vergleichbarer Organisationen in der konkreten Arbeit sind die genannten Nichtregierungsorganisationen, die sich um Menschenrechte bemühen, um gewaltfreie Konfliktbearbeitung oder um Naturschutz. Sie haben den Anspruch, von Staaten mit dem Notwendigen ausgestattet zu werden. Denn sie können in ihrem Bereich mehr und anderes tun als der Staat tun kann.

In einigen Beispielen wurde oben angedeutet, was solche Organisationen tun können. Sie nehmen einiges von dem, was der Staat in seiner Obrigkeitsform an sich gezogen hat, als mündige BürgerInnen in ihre Verantwortung. Sie brauchen keine Regierungsmacht, also auch nicht den Zugriff auf Gesetz, Recht oder Polizei. Sie bewegen sich auf der Ebene der Einsicht, der frei gewählten Zusammenarbeit; sie suchen nach Bündnispartnern lokal, regional und jenseits jeder ihnen zugemuteten Grenze.

Die derzeitige deutsche Bundesregierung hat an dieser Stelle einige respektable Schritte gewagt. Sie hat einerseits einigen Wert auf die Stärkung der UNO und der OSZE getan. Sie hat andererseits eine Aufbruchsbewegung gestärkt, die mit den Begriffen ?Ziviler Friedensdienst’, und ?zivile Konfliktbearbeitung’ zu tun hat.

Die Akteure ziviler Konfliktbearbeitung sind zwar immer noch schwach; sie arbeiten international und regional, es sind Organisationen der Friedensarbeit und der Entwicklungszusammenarbeit. Sie werden von den staatlichen Ministerien gefördert, die ihrerseits für ihre UNO-Verpflichtungen ein Interesse an dem zeigen, was die Nichtregierungs-Akteure entwickeln. Natürlich ist der Fortschritt gerade hier eine Schnecke, aber immerhin, sie kriecht.

Nichtregierungsorganisationen, die Fördergelder außerhalb der Staatsmittel erreichen können, erleben, dass es sehr gut ist, eine gewisse Freiheit gegenüber dem Staat zu haben. Gerade wenn es um grenzüberschreitende Konflikte geht, wenn es um so sensible Dinge wie die Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern geht, z.B. in der Türkei oder in Israel, oder wenn Waffenlieferungen entdeckt werden, und der eigene Staat steckt dahinter.

Auf dem Weg von der Gewalt, die tötet, vom Zwang zum Siegen über den jeweils Anderen, zur Toleranz gegenüber dem anderen sind wir einige Schritte gegangen, die sich mir auf dem Wege erschlossen haben. Visionen der Veränderung, Lernschritte im Alltag, das Durchschreiten des Tales der Ohnmacht, und schließlich die geteilte Macht, die allein eine erträgliche, tolerable Macht sein kann.

Schließlich ist es erkennbar, dass die Teilhabe an einer solchen Art Macht eine andere Lust bereitet als die Verwaltung eines Machtmonopols. Eine lebendige und Leben fördernde Lust. Toleranz reicht von daher weiter als: ich kann dich ertragen, weil ich deine Existenz neben mir hinnehmen muss. Sie sagt: ich kann dich leiden, weil Du, der andere, mir wohl immer wieder fremd bist, aber manchmal auch vertraut, und immer sagst du mir etwas über mich selbst.

Veröffentlicht am

03. April 2005

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