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Der mit guten Vorsätzen gepflasterte Weg

Von Uri Avnery

Vor einer Woche hielten einige der israelischen Friedensorganisationen eine Demonstration, um Ariel Sharons Abzugsplan zu unterstützen. Ich quälte mich tagelang, ob ich mitmachen sollte oder nicht. Die Frage beschäftigt mich weiterhin. Und die Diskussionen über dieses Problem gehen weiter wegen einer wichtigen Abstimmung in der Knesset, die in der nächsten Woche abgehalten wird. Um eine Antwort darauf zu finden, ist es vielleicht am besten, wenn die Pros und Kontras gegenseitig abgewogen werden.

Beginnen wir mit den Kontras: Ich vertraue Sharon nicht. David Ben Gurion, der ihn sehr liebte, betrachtete ihn als zwanghaften Lügner. “Wenn Sharon seine Fehler ablegen würde, wie z.B. nicht die Wahrheit zu sagen, …wäre er ein vorbildlicher Militärführer”, schrieb Ben Gurion am 29. Januar 1960 in sein Tagebuch. Seit einem Jahr hat er nun über den Abzug gesprochen, für den Abzug gearbeitet, Himmel und Erde für den Abzug bewegt. Aber bis zum heutigen Tag hat er außer ein paar Verwaltungsmaßnahmen überhaupt nichts getan, um den Plan zu erfüllen. Im Gegenteil: in diesen Tagen wurden Millionen in die Siedlungen investiert, damit die Häuser in Gush Kativ besser verteidigt werden können, die Häuser von Bewohnern, die in ein paar Wochen evakuiert werden sollen. Warum soll man ihm Glauben schenken und ihn unterstützen, bevor die Ausführung des Abzugsplans überhaupt begonnen hat?

Heißt das, dass er den Plan gar nicht erfüllen will? Ich glaube, dass er jetzt keinen Rückzieher mehr machen kann. Sein großes Ego hat sich nun mit dieser Operation identifiziert. Er hat inzwischen seine Partei gespalten, ist ein Feind der Siedler geworden und stellt das ganze politische System auf den Kopf. Wenn er jetzt seinen Plan zurückzöge, würde dies seine Selbstachtung und sein öffentliches Image zerstören.

Den Rückzug zurückzuziehen, würde auch den Zorn von Präsident Bush nach sich ziehen. Sharon hat für Nicht-Juden nur Verachtung übrig und denkt, sie zu betrügen, sei eine nationale Pflicht - aber er weiß auch, wo Israel ohne die unbegrenzte Unterstützung der USA sein würde. Nur ein welt-erschütterndes Ereignis, wie eine amerikanische Invasion in Syrien und dem Iran oder der Kollaps seiner Regierung, könnte ihm erlauben, aus der schwierigen Situation herauszukommen.

Wenn es also wahrscheinlich ist, dass Sharon den Abzug durchführen wird, warum sollte man ihn nicht unterstützen. Weil ich an den Tag danach denke. Ich mache mir keine Illusionen über Sharons Absichten, soweit es die Westbank betrifft. Er beabsichtigt 58% zu annektieren und den Palästinensern ein paar Enklaven zu lassen, von denen jede von Siedlungen und Militäreinrichtungen umzingelt sein wird. Höchstens wird er - um Bushs Forderung, das Gebiet des Palästinastaates sollte zusammenhängen, nach zu kommen - diese Enklaven mit Hilfe von Brücken und Tunnel unter einander verbinden.

Außer seinem Sohn Omri ist der Anwalt Dov Weissglas die ihm nächste Person. Als dieser Mann erklärte, Sharon werde nach dem Abzug den Friedensplan “in Formaldehyd” legen, hat er - ausnahmsweise - die Wahrheit gesagt. Sharon unterstützen, würde gleichzeitig bedeuten, diesen Plan auch zu unterstützen.

Aber das betrifft die Zukunft. Im Augenblick zählt die Operation des Abzugs. Warum Sharon jetzt nicht unterstützen und den Kampf für die Zukunft einen Tag danach beginnen? Weil es keineswegs nur eine Sache der Zukunft ist. Während dies hier geschrieben wird, fährt Sharon fort, die Trennungsmauer zu bauen, die bis jetzt 7% der Westbank annektiert hat. Die Gebiete zwischen der Mauer und der Grünen Linie werden mit neuen Siedlungen gefüllt. In der letzten Woche wurde verkündet, dass er in Ma’ale Adumim 3500 Wohnungseinheiten bauen lassen will. Es ist die gefährlichste Siedlung für die Westbank, die sie tatsächlich in zwei Teile schneidet.

Die Erweiterungen der Siedlungen und die Errichtung von Außenposten gehen jetzt überall in der Westbank mit großer Geschwindigkeit weiter. Letzte Woche veröffentlichte die Anwältin Talia Sasson ihren Bericht über die Methoden, wie in der Westbank die Außenposten errichtet werden. Die Aufgabe war ihr sogar von Sharon selbst zugewiesen worden. Es muss daran erinnert werden, dass Sharon Bush versprochen hatte, alle Siedlungen und Außenposten, die in seiner Amtszeit seit 2001 errichtet wurden, abzureißen.

Sassons Bericht stellt fest, dass alle diese Außenposten - genau wie die früheren - illegal aufgebaut wurden und dass alle Ministerien und Abteilungen der zionistischen Organisation zusammengearbeitet und auf einen Wink hin, das Gesetz gebrochen haben. Und was geschah? Nichts. Keiner wurde angeklagt, alles geht weiter wie bisher. Der Bericht wurde noch am Tag, an dem er erschien, begraben.

Dies sind die Gründe, um Sharon nicht zu unterstützen. Sehen wir uns die Gründe an, um ihn zu unterstützen.

Es gibt ein Sprichwort. Man sagt, “der Weg zur Hölle sei mit guten Vorsätzen gepflastert”. Aber auch das Gegenteil stimmt: Der Weg zum Himmel ist mit bösen Vorsätzen gepflastert. Es ist möglich, dass Sharons böse Absichten positive Ergebnisse hervorbringen, von denen er nicht träumte, als er den Plan verkündigte. Er wurde fast zufällig ersonnen, um einige Probleme des Augenblicks zu lösen, ohne über die nächsten Schritte nachzudenken.

Sharon hatte sich nicht vorstellen können, dass ihn sein Plan in eine direkte Konfrontation mit den Siedlern bringen würde. Er ist ein General und seine Logik ist militärisch. Der Abzugsplan bringt es mit sich, dass eine zweitrangige Sache aufgegeben wird, um eine erstrangige voranzutreiben: d.h. ein paar kleine, unwichtige Siedlungen in abgelegener Gegend aufzugeben, um wichtigere Siedlungen in der Westbank zu konsolidieren und zu stärken. Ein Stückchen Wüste - 6% der besetzten Gebiete - mit 1,25 Millionen Bewohnern aufgeben - um 58% der Westbank zu annektieren. Diese Regionen, wie das Jordantal und die Wüste Juda - sind von palästinensischer Bevölkerung nur dünn besiedelt.

Er war erstaunt, dass die Siedler diese Logik nicht verstanden. Sie haben eine andere Einstellung. Sie glauben, dass die Evakuierung von nur einer einzigen Siedlung, so klein und entlegen sie sein mag, ein Präzedenzfall wäre und einen Prozess einleiten würde, der nicht mehr anzuhalten wäre. Sie sind sich akut der Tatsache bewusst, dass die große Mehrheit der israelischen Öffentlichkeit gegen sie ist und dass viele sie als Plage betrachten.

Die Siedler sind Sharons Schützlinge. Er hat die Siedlungen nicht nur selbst geplant und eine zentrale Rolle bei der Errichtung gespielt, ihre Führer sind auch seine persönlichen Freunde und regelmäßigen Besucher bei ihm zu Hause. Deshalb betrachten sie ihn als einen Verräter, während er sich von ihnen unverstanden fühlt.

All dies hat seinen Einfluss auf meine Entscheidung: die entschlossene Opposition der Siedler und ihrer Verbündeten gibt dem Abzug eine Bedeutung, die sie nicht von Anfang an hatte.

Wir sind am Anfang eines Bürgerkrieges. Wir wissen nicht, ob es ein Blutvergießen gibt oder nicht. Aber selbst wenn es keine Toten oder Verwundeten geben wird, wird dieser Krieg über die Zukunft Israels bestimmen.

Es wird ein Kampf zwischen der Mehrheit sein, die zum größten Teil säkular, liberal und demokratisch ist, und einer fanatisierten Minderheit, die zum größten Teil nationalistisch, von messianischer Religiosität getrieben und grundsätzlich antidemokratisch ist und die die Vorschriften ihrer Rabbiner mehr respektiert als die Gesetze der Knesset. Die Ergebnisse werden nicht nur darüber entscheiden, ob wir uns den Palästinensern und der arabischen Welt in einem Frieden nähern, sondern auch über das Wesen des Staates Israel selbst.

Wünscht Sharon einen säkularen, demokratischen Staat? Der Gedanke ist natürlich absurd. Seine grundsätzliche Einstellung ist verwirrt und verschwommen. Er ähnelt vielen Israelis: ganz säkular in ihrem Alltag, aber davon überzeugt, dass Religion nötig sei. Er ist gewiss kein großer Demokrat, glaubt aber daran, dass der Staat demokratisch sein müsse. Er ist ein extremer Nationalist, der für einen homogenen jüdischen Staat im ganzen Land vom Meer bis zum Jordan kämpft. Aber jetzt wird er von Umständen gezwungen, gegen seinen Glauben zu handeln. Deutsche Philosophen nennen dies die “List der Vernunft”.

Die wichtige Frage hier ist nicht, was und woran Sharon glaubt, sondern, welche Ergebnisse seine Aktionen haben werden. So wie es im Augenblick aussieht, scheint es, dass er gegen seinen Willen und ohne seine Absicht auf eine schicksalsschwere Entscheidung zusteuert.

Es ist natürlich möglich, dass all dies nicht geschehen wird, dass Sharon und die Siedler im letzten Augenblick einen Kompromiss finden werden - wie es in der Politik gewöhnlich geschieht. Nichts ist im Voraus bestimmt. Aber man muss auf Grund dessen, was als vernünftig erwartet werden kann, zu einer Entscheidung kommen.

Am Ende entschloss ich mich, mich der Demonstration anzuschließen, nicht Sharon zu liebe, sondern um den Kampf gegen die Siedler zu unterstützen.

Quelle: www.uri-avnery.de vom 26.03.2005. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Veröffentlicht am

27. März 2005

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