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Demokratie für den Nahen Osten: Der Westen will sie - aber kann er sie wirklich wollen?

Von Mohssen Massarrat

Sind Islam und Demokratie vereinbar? Dies ist die in den westlichen Diskursen über die islamische Welt - nicht zuletzt angesichts der Wahlen im Irak - am häufigsten gestellte Frage. Dahinter verbirgt sich oft die Auffassung, wonach der Islam das Haupthindernis für die Demokratisierung islamischer Gesellschaften sei und im Umkehrschluss das Christentum per se eine Demokratie kompatible Religion darstelle. Für die Auffassung, die Demokratie sei eine westlich-christliche Erfindung, lässt sich tatsächlich ein Argument anführen: Alle westlichen Demokratien haben einen christlichen Hintergrund, dagegen hat die islamische Welt bisher keinen einzigen demokratischen Staat hervorgebracht.

Mit dieser Kausalität wird Demokratiefähigkeit allein auf ethische Quellen und Normen zurückgeführt. Der selektive Blick untermauert Samuel Huntingtons These vom unausweichlichen Clash of Civilizations und die Aufforderung an den Westen, sich der islamischen Gefahr anzunehmen. Mehr noch: Diese Annahme scheint auch George Bushs manichäischen Missionarismus zu rechtfertigen, “Freiheit in die entfernteste Ecke der Welt ausbreiten” zu wollen, wie er gerade in seiner Rede zum Amtsantritt verkündete. Die angebliche Demokratisierung des “Greater Middle East” und die erneute Kriegsdrohung an den Iran müssen daher als Kampfansage an die islamische Welt verstanden werden - moralisch legitimiert durch die angebliche Höherwertigkeit christlicher Werte.

Mit mehr Freiheit für die Welt stellt der US-Präsident alle bisher vorgebrachten Rechtfertigungen, die für Krieg und Regimewechsel angeführt wurden, in Zukunft unter ein mutmaßlich weniger angreifbares ideologisches Dach. Seine nach innen und nach außen gerichtete Argumentation verweist auf eine beängstigende Plausibilität: “Das Überleben der Freiheit in unserem Land hängt zunehmend vom Erfolg der Freiheit in anderen Ländern ab. … Wir sind zu den größten Leistungen in der Geschichte der Freiheit bereit.” Der in den USA erfolgreich entfachte Kampf der Kulturen ist integraler Baustein des globalen Kampfes der Kulturen.

Insofern ist eine eingehende Beschäftigung mit der These, dass Christentum und Demokratie kompatibel seien, Islam und Demokratie hingegen nicht, so dass die islamischen Länder nur durch äußeren Druck demokratisiert werden könnten, keine nur akademische, sondern auch hoch politische Frage. Die These selbst ist nicht neu und im Grunde eine Verallgemeinerung von Max Webers protestantischer Ethik als treibender Kraft des Kapitalismus in Europa, die er 1905 formulierte. Für Weber war es “die innerweltliche Askese des Protestantismus, welche gerade den ethisch rigorosesten Elementen den Weg in das Geschäftsleben öffnete” und die “eine kapitalistische Ethik” schuf.

Die vorwärtstreibende oder behindernde Kraft der Ethik im historischen Prozess der Modernisierung ist unstrittig. Irreführend ist allerdings die selektive Reduktion hoch komplexer Vorgänge auf die Ethik beziehungsweise ethisch begründete Bewertungsmaßstäbe. Bei einer umfassenderen Analyse des sozialen Gefüges vormoderner Gesellschaften im christlich okzidentalen Mittelalter und im islamischen Orient rücken andere plausible Erklärungsmuster ins Blickfeld: Die vormodernen europäischen Gesellschaften waren überwiegend dezentral mit schwachen Staaten ausgestattet, während die orientalischen Gesellschaften unabhängig von der herrschenden Religion - ob Buddhismus, Taoismus oder eben Islam - überwiegend zentralistisch-despotische Staaten mit schwachen dezentralen Strukturen aufwiesen. Die dezentrale Herrschaft mit kleinen, untereinander konkurrierenden feudalen Gemeinden in Europa begünstigte die Entstehung von autonom agierenden bürgerlichen Schichten an der Peripherie dieser Gemeinwesen. Sie trieben über Jahrhunderte hinweg die gesellschaftliche Arbeitsteilung sowie die soziale Transformation voran, sie ermöglichten eine kapitalistische Entwicklung, Industrialisierung und Demokratisierung und bewirkten eine Trennung der Religion vom Staat.

Dagegen waren die orientalischen Zentralstaaten in der mächtigen Position, das gesamte Bürgertum (Händler, Manufakturbesitzer, Intellektuelle) dem eigenen Herrschaftskalkül zu unterwerfen und seiner Selbstständigkeit zu berauben. Soziale Transformation konnte aus diesem sehr entscheidenden Grund nicht stattfinden. Für Aufklärung und eine Trennung von Religion und Staat entstand kein fruchtbarer Boden. Anstelle der Industrialisierung und Modernisierung verharrten orientalische Gesellschaften bis zuletzt in ökonomischer Stagnation. Für eine Demokratisierung fehlten die sozialen Träger - vor allem ein verwurzeltes und selbstständig handelndes Bürgertum.

Insofern kommen dem Christentum wie dem Islam für eine Modernisierung der Gesellschaft beziehungsweise als Barriere derselben bestenfalls sekundäre Bedeutung zu. Wäre statt der christlichen Religion der Islam die dominante Religion in Europa gewesen, stünde dieser aller Wahrscheinlichkeit nach wie das Christentum heute jenseits des Staates und wäre längst entmachtet. Hätte sich dagegen das Christentum statt nach Westen in Richtung Orient ausgebreitet, wäre es vermutlich im Mittleren Osten anstelle des Islam die dominante politische Kraft gewesen.

Man könnte dem entgegen halten, dass die Ausbreitung von Christentum und Islam in entgegengesetzter West-Ost-Achse nicht zufällig war und dass sich das Christentum auf Grund innerer Axiome (Nächstenliebe und Individualität) den dezentralen Strukturen in Europa besser anpassen konnte. Der Islam hingegen war wegen seiner eher kollektivistischen Ausrichtung (das Kollektiv/die Umma als Basis der Gemeinschaft) für die zentralistischen Gesellschaften des Orients prädestiniert. Aber eine solche Argumentation hebt gleichfalls die sekundäre Bedeutung der Religion für unterschiedliche Entwicklungsmuster in Okzident und Orient noch hervor. Die weitverbreitete Annahme der primären Kausalität zwischen Christentum, Transformation und Demokratie einerseits und Islam, Stagnation und Diktatur andererseits wäre auch dann nicht aufrecht zu erhalten und eine im Wesentlichen zweckdienliche ideologische Konstruktion.

Mit anderen Worten: Entscheidend für die Demokratisierung sind die Transformation traditioneller Sozialstrukturen und ein Ende der ökonomischen Stagnation. Dieser Prozess ist unter dem Druck der Globalisierung seit mehreren Dekaden voll im Gange. Dem Islam bleibt keine andere Option, als sich (wie einst das Christentum) den Anforderungen der Moderne zu fügen und aus Staatsgeschäften zurück zu ziehen. Dazu bedarf es keines Demokratieexports, erst recht nicht mittels Drohung und Krieg.

Islam und Demokratie stellen somit nicht zwingend einen Gegensatz dar. Gegensätzlich ist jedoch sehr wohl das Interesse der USA und anderer Industriestaaten am Ölniedrigpreis und der Demokratie im Mittleren Osten. Diese These bedarf näherer Erläuterung: Marktgesetze funktionieren im Interesse freier Preisbildung und ökonomisch effizienter Allokation der Ressourcen nur dann, wenn sämtliche Marktteilnehmer die Freiheit besitzen, nach individuellen Optimierungspräferenzen zu handeln. Die Souveränität der Marktteilnehmer und die Wahlfreiheit sind somit untrennbar mit der Demokratie verbunden.

Als souverän handelnder Marktteilnehmer hätten die Ölstaaten des Mittleren Ostens den volkswirtschaftlichen Nutzen am besten optimieren können, wenn sie ihre Ölproduktion verknappt hätten, um ihre Ressourcen auch für die nächsten Generationen zu erhalten und so die aktuellen Ölpreise bis an die Grenze der Substitution des Öls durch regenerative Energien anzuheben. Dazu bedarf es allerdings der Demokratie. Nur im öffentlichen Diskurs demokratischer Parteien um den besten Weg der nationalen Ölstrategie kann sich letztlich herausstellen, wie nationaler Nutzen optimiert werden kann. Unter demokratischen Bedingungen wären die Ölpreise - marktwirtschaftlichen Gesetzen folgend - aller Wahrscheinlichkeit nach in der Vergangenheit sukzessive gestiegen.

Die Industriestaaten verfolgten im Gegensatz dazu aus purem Eigeninteresse schon immer das Ziel, steigende Ölpreise zu torpedieren. Sie hebelten die Souveränität der Ölanbieter aus und kooperierten statt dessen mit diktatorischen Regimes, die mangels nationaler Legitimation gefügiger sind. Die USA haben genau dies 1953 beim Sturz der ersten frei gewählten Regierung Mossadegh im Iran durch einen CIA-gestützten Militärputsch vorexerziert, mit weitreichenden Folgen in den folgenden Jahrzehnten im Iran und in der gesamten Region.

Nicht der Islam, wohl aber - um auf die Eingangsthese zurück zu kommen - der Wohlstand im Westen steht im Gegensatz zur Demokratie in den Ölstaaten. Diese Kausalbeziehung zwischen westlichem Lebensstandard und diktatorischen Regimes in den Ölstaaten wirft im Übrigen einen dunklen Schatten auf die westlichen Demokratien, deren Stabilität offenbar auf Ölniedrigpreisen, Überausbeutung von Energieressourcen anderer Völker, Diktaturen und blutigen Interventionen beruht. Diese Demokratien tragen sich nicht selbst und sind zerbrechlich.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 05 vom 04.02.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Veröffentlicht am

12. Februar 2005

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