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Contdown HARTZ IV: Täglich ein Euro zwanzig

Herr W. belegt einen Selbsthilfekurs, ruft seinen persönlichen Notstand aus und erhält nun manches zum Sozialtarif

Von Wolfgang Ratzel

Nach einer merkwürdigen Begegnung mit Herrn Teufel und Frau Satan, einer unerwarteten Gasrechnung und einer erfolglosen Fahndung nach seinem Sachbearbeiter wird Herr W. im November zum Schreddern in die Paradiesstraße geladen (siehe Freitag Nr. 43 vom 15. 10. , Nr. 49 vom 26. 11. und Nr. 53 vom 24. 12. ). Kurz vor Weihnachten wird ihm nun endlich klar, was Hartz IV bedeutet, für ihn ganz persönlich.

Wieder geschieht lange Zeit nichts. Und trotzdem sickert Hartz IV in jede Ritze seines Alltags. Im Gespräch mit Bekannten immer wieder dasselbe Thema: “Hast du schon gehört? Weißt du schon das Neueste?” Und eines Tages fragt ihn die Frau mit Hund - er trifft sie seit Jahren auf seinen immergleichen Spaziergängen an der immergleichen Kreuzung, wobei sie sich immer nur kurz grüßten - “Haben Sie schon Ihren Bescheid?” Ja, er hat. Aber wieso fragt er nicht zurück: “Welchen Bescheid?” Warum ist klar, dass der Bescheid eben nur der Bescheid sein kann und kein anderer? Sieht er schon aus wie einer, der so einen Bescheid bekommt? “Ick heize mit Jas”, spricht die Frau, “und mir ham ‘se beim Jas drei Euro und och det janze Warmwasser abjezogen, und ick weeß nich, warum.” Die-da-oben hatten Herrn W. beim Gas sogar 3,51 Euro abgezogen, aber das Warmwasser bezahlt, auch er weiß nicht warum. “Wissen ‘se: Mene Freundin bearbeitet die Anträge uff’m Amt, aber sie darf mir nich sajen, warum ‘se ditte so abziehen.”

Einfach nur grüßen und weitergehen? Das ist jetzt vorbei. Hartz IV wird ihn für immer mit dieser Frau und ihrem Hund verbinden. Mit den Nachbarinnen dieselben Gespräche: “Wat, Sie och?” - “Ja, ich auch.”

Eines Tages klingelt das Telefon: “Hier Volkshochschule, ein Platz ist frei geworden, Sie können teilnehmen, übermorgen.” Herr W., Nachrücker auf der Warteliste eines ausgebuchten Kurses zum Thema “Wirtschaftliche Selbsthilfe”, wird nervös. So etwas ist neu für ihn.

Zwei Tage später sitzen um ihn herum 18 Leute - 14 Frauen und nur vier Männer. Nervös ist auch der Leiter: “Normalerweise fallen solche Kurse aus. Warum heute so viele?” Eine Teilnehmerin ruft: “Noch eins und zwei und drei und vier, dann steht Hartz IV vor unsrer Tür”. Alle lachen laut los, Herr W. auch. Dann folgt die Vorstellungsrunde: Name, Alter, Beruf, Status, Motiv, was tun Sie im Moment? Als achter ist Herr W. dran: “Ich bin 56 Jahre alt, Arbeitslosenhilfe-Bezieher, seit zehn Jahren erwerbslos, ehrenamtlich engagiert, aber unter 15 Stunden pro Woche.” Vorbei, Gott sei dank, der nächste. Aber dann ertönt ein Zwischenruf: “Fuffzehn Stunden, det brauchs’ de hier nich zu sajen, du biss hier nich uff’m Amt.” Wieder schallendes Lachen. Herr W. errötet bis in die wenigen Haarspitzen.

Ganz plötzlich ist dann der Spaß vorbei. Nummer neun nennt weder Namen noch Alter. Aber sie redet und redet, über die, die an allem schuld sind. Zuletzt schreit sie nur noch. Nummer zehn brüllt noch lauter: “Die auf dem Amt sind doch Faschisten.” Herr W. holt tief Luft, um zu widersprechen - und bleibt doch stumm. Andere murren laut. Der Leiter hört unbewegt zu.

Der Mann, der als letzter dran kommt, sitzt etwas abseits: “Ich war leitender Angestellter, bin verheiratet, zwei Kinder, meine Arbeitslosenhilfe war gut, aber ab 1. Januar bekomme ich nichts mehr, meine Frau verdient zu viel.” Nur eine einzige Frage hat er: “Können Sie mir eine Selbsthilfemöglichkeit nennen, die pro Monat 1.500 Euro brutto bringt? Wenn nein, gehe ich.” Der Leiter sagt: “Ihr Begehren ist bescheiden und liegt auf der Höhe der Mindestlohnforderung der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten.” - “Können Sie eine anbieten oder können Sie nicht?” - “Ich kann nicht.” Der Manager a.D. springt auf: “Hätte mich auch gewundert. Immer dasselbe.” Und weg ist er.

Herr W. denkt entsetzt: Woher kommt dieser Hass? Und wohin führt er? Mit Mühe reißt der Kursleiter die Aufmerksamkeit wieder an sich und präsentiert seine Armen-Checkliste: “Haben Sie schon das Sozialticket der Verkehrsbetriebe? Haben Sie schon Ihre Befreiung von den Rundfunk- und Fernsehgebühren? Haben Sie schon den Sozialtarif der Telekom beantragt? Haben Sie ihre Arbeitslosengeld-II-Bescheide verstanden? Wissen Sie, was Sie tun, wenn die Arbeitsgelegenheit kommt?”

Die Checkliste findet reißenden Absatz. Und dann erlebt Herr W. ein Feuerwerk der Selbsthilfemöglichkeiten: Tauschen, Teilen, Schenken, Selbstversorgung, Eigenarbeit. Beispiele über Beispiele - aus Indien, Russland, Rumänien, New York und Argentinien. Folien und Zeichnungen, Adressen, Ansprechpartner, Internet-Seiten. Herr W. ist wie benommen.

Zum Schluss verteilt der Leiter zwei Hausaufgaben. Zuerst einen Bogen Haushaltsbuch: “Errechne deine Fixausgaben und ziehe sie von 345 Euro ab. Reicht der Rest für ein menschenwürdiges Leben? Wie groß ist deine Einkommenslücke?” Und zweitens: “Was kannst du eigentlich? Was ist verkäuflich von dem, was du kannst?”

Herr W. läuft beschwingt, fast übermütig nach Hause. Wenn es für Abermillionen Auswege gibt, dann würde auch für ihn ein Ausweg dabei sein. So viele Menschen, die sich selbst helfen. Darauf muss er einen trinken - vom besten Kaiserstühler.

Dann, nach 38 Jahren zum ersten Mal, macht er seine Hausaufgaben. Er kramt seine wohlgeordneten Unterlagen durch, notiert, rechnet hin und her, und traut schließlich seinen Augen nicht. Die Fixkosten seines jetzigen Lebens betragen 308,26 Euro. Hastig überfliegt er noch mal die Einzelposten, aber immer wieder summiert sich der Endbetrag auf unfassbare 308,26 Euro:

Fixkosten:

Nicht übernommene Wohnungskosten

Strom 20,31 Euro, Warmwasser: 27,43 Euro. Rundfunkgebühren: 5,32 Euro. Telefon: etwa 30 Euro. Sozialticket Nahverkehr: 32 Euro. Zwei Zeitungsabos: 38,30 Euro. Versicherungen (Haftpflicht, Hausrat, Unfall): 12,10 Euro. Mieterverein: 3,30 Euro. Kontoführungsgebühr: 4,50 Euro. Monatliche Umlage für Mutter-/Töchter-Besuche: bei 50 Prozent Frühbucherrabatt der Bahn minimal 35 Euro. Umlage 14 Tage Urlaub: 70 Euro. Umlage Geschenke und Bücher: jeweils mindestens 15, also 30 Euro. Summa summarum: 308,26 Euro.

Von den 345 Euro Regelsatz West, die ihm - neben der Übernahme von Miet- und Heizkosten - zustehen, verbleiben nach Abzug aller Fixkosten 36,74 Euro pro Monat. Am Tag ein Euro zwanzig Cent. Für Essen, Kleidung, Körperpflege, Kulturveranstaltungen, Möbel, Hausrat, Reparaturen, Porto und für all das, was man immer wieder zu berechnen vergisst. Ein Euro zwanzig. Wie stände er da, wenn er auch noch rauchte und ein Auto hätte.

Herr W. sitzt am Küchentisch und rührt sich nicht mehr. Bis in den Grund seiner Seele erschüttert, weiß er nun: das ist keine Lücke, das ist ein Abgrund. Die Volkshochschule hat ihm die Augen geöffnet. Mit der Hilfe des Amtes kann er nicht mehr rechnen, es ist jetzt ein JobCenter. Er muss sich selbst helfen und sofort damit beginnen, noch im alten Jahr, noch vor Weihnachten.

Am 21. Dezember nimmt Herr W. seine VHS-Armen-Checkliste und begibt sich in die Abendsprechstunde seines Bezirksamts. Er rechnet mit einem Saal voller Hilfesuchender. Aber der 50 Meter lange Wartegang ist leer. Herr W. zieht seine Nummer: 429. Darunter der Vermerk: “000 Bürger warten”. Eine Viertelstunde lang passiert nichts. Vielleicht hat das Warten eines einzigen Bürgers zu wenig Gewicht, um die Aufruf-Apparatur in Gang zu bringen, denkt Herr W. Deshalb zieht er eine zweite Nummer: 430. Vermerk: “001 Bürger warten”. Er ist beruhigt: Der Apparat hat ihn registriert. Warum geschieht dennoch nichts?

Irgendwann sitzt er in einem weitläufigen Büro. Drei Kolleginnen arbeiten dort an schlecht beleuchteten Schreibtischen. Der Rundfunkgebührenbefreiungsbescheid ist in fünf Minuten erteilt. “Gehen Sie damit zu einem T-Punkt der Telekom. Die bearbeiten den Sozialtarif für Ihr Telefon. Für die BVG-Sozialkarte haben wir zwei Extra-Zimmer im Haus 2 - damit es schnell geht.” Herr W. ist im Haus 6 und durchquert nun die Weiten des Bezirksamts.

Im Haus 2 sind die langen Gänge leer. Eines der beiden Sozialticket-Büros ist verschlossen. Im anderen unterhalten sich zwei Mitarbeiterinnen. Eine betrachtet Herrn W.’s Bescheid und füllt einen kartonierten Datenträger aus: “Das nehmen Sie mit und gehen dann mit Passbild zum Fahrkartenschalter der BVG.” Hilfesuchend betritt ein Mann den Raum: “Ich habe noch keinen Bescheid, aber das Arbeitsamt sagt, dass ich auch ohne Bescheid eine Sozialkarte bekomme.” Die zweite Kollegin widerspricht: “Das stimmt nicht. Das Arbeitsamt muss Ihnen bescheiden, dass Sie höchstwahrscheinlich einen Bescheid bekommen werden. Auf diesen Vor-Bescheid stelle ich Ihnen den Datenträger aus - vorläufig.”

Herr W. geht zusammen mit dem müden Mann weg. Es regnet. Draußen ragt zwischen den Flachbauten ein riesiger Schornstein bedrohlich in den Himmel. Eine halbe Stunde später hält Herr W. seinen Antrag für den Telekom-Sozialtarif in Händen, und nach weiteren 45 Minuten endlich sein “Berlin-Ticket-S”.

Alles geht schnell und unheimlich reibungslos. Auf der Sozialfahrkarte steht auch: “Berechtigungsausweis für etwaige andere Vergünstigungen”. Unwillkürlich denkt er Herr W.: “Das ist mein Armenausweis. Jetzt bin ich arm, staatlich anerkannt.” Der Mann am Fahrkartenschalter gibt noch eine Mahnung auf den Weg: “Sie müssen aufpassen. Mit der Sozialkarte dürfen Sie nur in den Zonen A und B fahren. Für die Zone C benötigen Sie einen Normalfahrschein ABC, ohne Ermäßigung.”

Silvester. Das alte Jahr 2004 geht zu Ende. Am Vormittag klingelt es: Draußen steht sein Kollege aus längst vergangener Zeit, der immer zum Frühstück Bouletten aß. “Man geht nicht mit Schulden ins Neue Jahr”, sagt er und gibt Herrn W. die vor Wochen geliehenen 20 Euro zurück. Dazu noch eine Flasche Rotkäppchen-Sekt.

“Mensch, nein. Du hast doch selber nichts.” - “Doch, ich bin verlegt worden, jetzt zahlt das Grundsicherungsamt.”

Herr W. erschrickt: Mein Gott, Grundsicherungsamt. Sein Kollege ist - so jung noch - auf Dauer erwerbsunfähig. Auf der Stufenleiter des Sozialstaats ist das noch eine kleine Stufe unter ihm, denkt er.

Mittags bringt Herr W. den Müll weg und leert seinen Briefkasten, zum letzten Mal im alten Jahr. Keine Neujahrsgrüße wie sonst üblich, sondern ein Brief, ein Brief vom Arbeitsamt. Herr W. rennt zu seinem Küchentisch. Will das Amt sich von ihm verabschieden? Will das Amt für die Zukunft alles Gute wünschen und ihm mitteilen, wo 2005 das Amtsgebäude zu finden ist? Stellt sich vielleicht sogar seine neue Fallmanagerin vor?

Aber es ist nur die Entgeltbescheinigung für die Arbeitslosenhilfe 2004. Das Schriftstück wird sauber abgeheftet. Es passt gerade noch in die Akte, die er seit zehn Jahren führt: “Leistungsbescheide / Arbeitslosengeld / Arbeitslosenhilfe”. Am Neujahrstag wandert sie in den Keller. Das Jahr 1 der neuen Zeitrechnung kann beginnen.

(Fortsetzung folgt: Herr W. in Selbsthilfeaktion. Dabei wird er klüger. Er sammelt Treueherzchen und bereitet seine Eingliederungsvereinbarung vor)

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 04 vom 28.01.2005. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Verlag.

Veröffentlicht am

06. Februar 2005

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