Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Unrecht bleibt Unrecht

Die Friedenspläne von Scharon und Bush sind nichts wert. Deutschland und die EU müssen eine eigene Position gegenüber Israel entwickeln

Offener Brief von Reuven Moskovitz, Jerusalem

Ich versuche wieder etwas, das fast unmöglich scheint: Ich möchte den Bann des Schweigens durchbrechen, der einen Teil der deutschen Presse zu fesseln scheint, wenn es um die katastrophale Politik Israels gegenüber dem palästinensischen Volk und ihre Folgen geht.

Ich bin israelischer Jude, der aus zionistisch-sozialistischen Gründen seine Geburtsheimat verließ, um als arbeitender Pionier eine neue Heimat für mein Volk, meine Familie und mich zu schaffen. Bewußt und überzeugt habe ich unseren Befreiungskrieg 1947/48, der die Errichtung des Staates Israel ermöglichte, bejaht. Mit großer Begeisterung habe ich einen Kibbuz mit aufgebaut, aber dann weniger begeistert den Acker gepflügt, der eigentlich nicht dem Kibbuz gehörte, sondern unseren vertriebenen palästinensischen Nachbarn.

Als Zeuge der Kriegsereignisse, aber auch der massiven Vertreibungen, die nach den Waffenstillstandsverträgen bis in die fünfziger Jahre dauerten, ist mir bewußt geworden, daß unsere Staatsgründer für das als Folge des Holocausts und durch Krieg und Gewalt entstandene größere Israel die Weichen falsch gestellt haben. Es wurde zwar als Demokratie gestaltet, aber systematisch hielt man unsere Holocaust- und Opferängste wach und setzte nicht auf die Hoffnung einer humanistisch-demokratischen Identität.

Gefährliche Eskalation

Seit knapp sechzig Jahren ist Israel in eine fast hoffnungslose Kette von Gewalt und Gegengewalt verstrickt. Daß diese Eskalation nicht einseitig von der israelischen Politik verursacht worden ist, ändert nichts an der Tatsache, daß die beiden dort lebenden Völker - Juden und Palästinenser - sich in eine Sackgasse gesteuert haben, bis kurz vor einen für beide vernichtenden Abgrund. Der Versuch, eine Symmetrie herzustellen zwischen den beiden Völkern, was die Verantwortung für diese Sackgasse betrifft, kann nicht gelingen, weil die Juden einen Staat und eine Heimat auf mehr als achtzig Prozent des pälästinensischen Gebiets etabliert haben, ohne aber die ersehnte Sicherheit zu erreichen, während den heimatlosen und unterdrückten Palästinensern jegliches Selbstbestimmungsrecht und jegliche Sicherheit verweigert werden.

Als aktiver Begleiter der Ereignisse in meinem Land habe ich gehofft, daß es der Friedensbewegung gelingen würde, die Mehrheit unseres Volkes zu überzeugen, nach den großen militärischen Siegen von dem falschen Sicherheitskonzept abzulassen und auch den Weg zu Sicherheit durch Frieden, gegenseitige Anerkennung und Kompromiß zu gehen. Zu meinem großen Bedauern muß ich feststellen, daß alle unsere führenden Politiker, trotz ständig wiederholter Lippenbekenntnisse bezüglich einer erträglichen Friedenslösung, konsequent und unablässig versucht haben, den Palästinensern unannehmbare und unwürdige Vertragsvorschläge aufzuzwingen.

Die USA, die ebenfalls nur Lippenbekenntnisse ablegen, haben bisher nicht zielstrebig versucht, die zwei Völker zu einem für beide Seiten erträglichen Frieden zu bewegen. Verschlimmert hat sich die Lage besonders seit der Machtergreifung von Georg W. Bush, seit dem 11. September 2001 und mit der Übernahme des israelischen Sicherheits- und Präventivkriegskonzepts durch die Bush-Regierung. Der Irak-Krieg und das daraus resultierende Debakel haben eindeutig gezeigt, es wäre dringend notwendig und möglich, daß nicht nur Amerika, sondern auch die Europäische Union unter dem aktiven Einfluß der Bundesrepublik Deutschland, Frankreichs und Spaniens, erfolgreich am Friedensprozeß im Nahen Osten mitwirken. Die verschiedenen Friedenspläne, von George W. Bush oder Ariel Scharon entworfen, sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben wurden.

Es ist die große Stunde der EU und insbesondere Deutschlands, sich als Hoffnungsträger für die Werte der Vereinten Nationen - Menschenrechte, Völkerrecht, Menschenwürde, Freiheit, Frieden und Demokratie - zu behaupten. Eine energische deutsche Friedensinitiative, der es gelänge, Europa von der gescheiterten amerikanischen Politik zu emanzipieren, könnte ein einmaliges Gegengewicht sein zu der schändlichen Ära des Nationalsozialismus. Bedauerlicherweise aber sind die meisten Deutschen einschließlich ihrer Politiker durch eine lähmende Verlegenheit gehemmt, die Verbrechen der israelischen Politik als verbrecherisch beim Namen zu nennen. Diese Verlegenheit ermöglicht unseren rücksichtslosen Politikern - Scharon und denjenigen seiner Regierung, die noch radikaler die Unterdrückung der Palästinenser anstreben -, den Antisemitismus in Deutschland und in Europa zu suchen, wo er eigentlich nicht zu finden ist: nämlich bei den führenden Politikern, die versuchen, der gefährlichen Eskalation im Nahen Osten ein Ende zu setzen.

Erpressung zurückweisen

Als Mensch, der knapp 60 Lebensjahre dem Frieden, der Liebe und der Gerechtigkeit gewidmet hat, als Opfer von Gewalt, Rassismus und eines dämonisierten Feindbildes, als Historiker, der gelernt hat, daß uneingeschränkte Gewaltausübung nur zu Katastrophen führen kann, rufe ich die deutsche Öffentlichkeit, die deutschen friedfertigen Menschen, die deutschen Dichter und Denker, Künstler, Politiker und Juristen auf, sich nicht erpressen zu lassen von dem manipulierenden Mißbrauch des Begriffes “Antisemitismus”, nicht die Augen zu schließen vor Unrecht und Verfolgung, nur weil die gegenwärtigen Verfolger Nachkommen sind der umgebrachten oder überlebenden Verfolgten. Unrecht bleibt Unrecht - Verbrechen bleibt Verbrechen - Verfolgung bleibt Verfolgung - Verachtung bleibt Verachtung - egal, ob sie von ehemaligen Opfern oder von gegenwärtigen Tätern verübt werden.

Reuven Moskovitz ist Mitbegründer des Friedensdorfes Neve Shalom/Wahat Salam in Israel. 2003 erhielt er den Aachener Friedenspreis. Sein Buch “Der lange Weg zum Frieden” erschien im Verlag amBEATion/randlage, Berlin.

Quelle: junge Welt vom 17.11.2004. Wir veröffentlichen diesen Artikel mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

Veröffentlicht am

17. November 2004

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