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Die Bedeutung, “irrelevant” zu sein

Von Uri Avnery

Ich erinnere mich, wie ich auf dem Dach eines Gebäudes am Beiruter Hafen stand und beobachtete, wie die bewaffneten und uniformierten PLO-Kämpfer, von Arafat angeführt, auf die Schiffe gingen, die sie westwärts brachten. “Ende der Arafat-Ära!” jubelten die Zeitungen in Israel am nächsten Tag. “Arafat ist politisch am Ende!” sagten die Radiokommentatoren . “Gott sei Dank, wir sind ihn los, ein für alle mal!” verkündigten Teilnehmer von TV-Talkshows.

Als ich nach Tel Aviv zurückkam, wurde ich vom Radio zu einer Rundfunkdebatte eingeladen. Zur Ausgewogenheit wurde ein Journalist vom rechten Flügel dazu eingeladen. Es war Tommy Lapid, der gegenwärtige Justizminister. Bevor wir das Studio betraten, plauderten wir noch ein wenig. Ich frage mich, ob er sich heute an das erinnert, was ich ihm damals sagte: “Ihr habt ihn schon hundert mal beerdigt - und ihr werdet ihn noch weitere hundert Male beerdigen.”

22 Jahre später sind die Medien voll mit denselben Meldungen: “Ende der Arafat- Ära! Arafat ist politisch am Ende. Gott sei Dank! Wir sind ihn los, ein für alle mal!”

Der Mann, den die israelische Regierung vor Jahren offiziell als “irrelevant” erklärte, stand in dieser Woche weltweit in den Schlagzeilen der Printmedien. Es gibt nur wenige Führer, deren Gesundheitszustand ähnliche Aufmerksamkeit erhält.

Ich weiß nicht, wie ernst sein Gesundheitszustand ist. Ich hoffe nur, dass er sich wieder ganz erholt. Und ich weiß, wenn er stirbt, werden die Israelis erfahren, was seine Abwesenheit bedeutet.

In den Tagen der ersten Camp-David-Konferenz sagte ein bekannter ägyptischer Denker, Mohammed Sid-Ahmed, zu mir: “Wenn es Arafat nicht gebe, dann müssten Sie ihn erfinden. Mit Arafat haben Sie als Verhandlungspartner für Frieden eine einzige Adresse. Wenn er nicht wäre, wäre das palästinensische Volk in hundert Teile gespalten und Sie müssten mit jedem einzeln verhandeln.”

Wenn man keinen Frieden will und mehr an Groß-Israel interessiert ist, dann braucht man keinen Arafat. Im Gegenteil. Aber wenn man daran denkt, dass für Israels Entwicklung und Gedeihen der Frieden lebenswichtig ist, dann braucht man ihn dringend. “Meine Hand ist die einzige Hand, die ein Friedensabkommen mit Israel unterzeichnen kann,” sagte Arafat einmal.

Da dies so ist, gibt es für Arafat keinen Ersatz: er ist der einzige palästinensische Führer mit der turmhohen moralischen Autorität, die nicht nur nötig wäre, um einen Friedensvertrag mit Israel zu unterzeichnen, sondern - was noch wichtiger ist - um sein Volk von der Richtigkeit desselben zu überzeugen. Jedes Friedensabkommen wird von den Palästinensern Konzessionen abverlangen, die ihnen das Herz zerreißen, wie z.B. das Recht der unbegrenzten Rückkehr der Flüchtlinge auf das Territorium Israels. Kein anderer palästinensischer Führer wird den Mut haben, das von seinem Volk zu verlangen.

Woher kommt seine Autorität? Ich habe ihn viele Male in Gesellschaft anderer palästinensischer Führer gesehen. Jedes Mal war ich aufs Neue von der Kraft seiner Autorität, die er ausstrahlt, beeindruckt - ohne irgendwelche äußere Anzeichen von Macht. Ihren Ursprung zu erklären, ist schwierig. Anders als Fidel Castro, der zur selben Zeit wie Arafat auf der Weltbühne erschien, hat der palästinensische Führer keine Armee, keinen großen geheimen Polizeiapparat und keine Gefängnisse für seine Gegner. Seine Macht rührt allein vom Respekt seiner Landsleute, die ihn als “Vater der Nation” anerkennen, ein palästinensischer George Washington.

Schon bei unserer ersten Begegnung im belagerten Beirut im Juli 1982 war ich davon überrascht, dass es keinerlei Förmlichkeiten um ihn herum gab. Während Konferenzen unterbrachen ihn die Leute, stritten mit ihm. Seine Autorität ist deutlich - ohne dass äußere Zeichen notwendig sind.

Ein europäischer Reporter fragte mich einmal nach Arafats Hobbys. Was tut er denn, wenn er nicht mit Palästina beschäftigt ist? “Er hat keine Hobbys,” antwortete ich ihm, “es gibt keinen einzigen Augenblick, in dem er nicht mit der palästinensischen Sache beschäftigt ist. Er identifiziert sich total mit dem palästinensischen Kampf. In seinem Leben gibt es für ihn nichts anderes.”

Jeder, der ihm das erste mal persönlich begegnet, ist über den großen Unterschied erstaunt, der zwischen ihm und seiner Person in den Medien besteht. Im Fernsehen sieht er fanatisch und aggressiv aus. Im normalen Leben ist er ein warmherziger Mensch, rücksichtsvoll, der auch Gefühle zeigt. Selbst jemand, der ihm das erste Mal begegnet, hat nach wenigen Minuten das Gefühl, er würde einem alten Bekannten begegnen. Er liebt es, bei Mahlzeiten seine Gäste zu verwöhnen und bietet ihnen mit seinen Fingern ausgewählte Stücke an. Er berührt die Leute, mit denen er spricht, nimmt sie bei der Hand und führt sie die Korridore entlang und bietet kleine Geschenke an.

Er ist kein Intellektueller, kein Theoretiker, kein Büchermensch. Er ist ganz und gar Intuition. Er begreift die Dinge mit unglaublicher Geschwindigkeit und vergisst niemals die Einzelheiten. Als ich einmal mit ihm redete, irrte ich mich in der Zahl der Agudat-Israel-Mitglieder in der Knesset. Er korrigierte mich sofort. Ein andermal hatte ich beim genauen Datum eines der Oslo-Abkommen Unrecht. Er korrigierte mich auch hier. “Ich bin von Beruf Ingenieur,” sagte er lachend, “Zahlen vergesse ich nie.”

Wie alle arabischen Helden der Geschichte, ist er ein Mann von großzügigen Gesten. Eine Geste ist tausend Worte wert. Am Tag seiner Rückkehr nach Palästina lud er mich in den Raum hinein, in dem er gerade dabei war, für die Medien der arabischen Welt eine Pressekonferenz zu geben. Er betrat den Saal, ging direkt auf mich zu und nach der üblichen Umarmung nahm er meine Hand und führte mich fast mit Gewalt zur Tribüne. Er zog mich die Stufen hoch und bat, seinen Sprecher aufzustehen, und platzierte mich neben sich. Eine Stunde lang sprach er zu den Reportern auf arabisch und wandte sich von Zeit zu Zeit zu mir und bat mich um Bestätigung.

Ich saß da und zerbrach mir den Kopf: wozu diese ganze Schau? Plötzlich begriff ich. Auf diese einfache Weise zeigte er der ganzen arabischen Welt: Das ist es. Ich sitze hier zusammen mit einem Israeli. Ich bin im Begriff, mit ihnen Frieden zu machen.

Große Stresssituationen bringen ihn in Hochstimmung Ich habe ihn mehr als einmal in solch einer Situation erlebt, dann ging es ihm am besten, er war konzentriert, seine Augen strahlten, er machte Witze. Er ist daran gewöhnt: sein ganzes Leben besteht aus Höhen und Tiefen, Erfolgen und Fehlschlägen. Natürlich hat er viele Fehler gemacht (seine Unterstützung für Saddam Hussein während des 1. Golfkrieges fällt mir dazu ein), aber sie verblassen im Vergleich zu seiner ungeheuren Leistung. Er war es, der die moderne palästinensische Nationalbewegung geschaffen hat, als das palästinensische Volk beinahe von der Landkarte verschwunden war. Er brachte es an die Schwelle der nationalen Unabhängigkeit. Wie Moses, der sein Volk aus der Sklaverei bis an die Tore des verheißenen Landes brachte. Ich hoffe, dass von ihm nicht wie von Moses gesagt werden wird: er sah das verheißene Land nur von ferne, ohne es selbst zu betreten.

Alles, was er leistete, erreichte er trotz Israels kolossaler materieller Überlegenheit auf allen Gebieten, trotz der Feindseligkeit der arabischen Regierungen und trotz der weltweiten Sympathie für Israel als dem Staat der Holocaustüberlebenden.

Und was nicht weniger wichtig ist: seit Jahrzehnten hielt er trotz großer interner Differenzen die Palästinenser zusammen. Die palästinensische Bewegung macht fast keine blutigen internen Auseinandersetzungen durch, wie es für die meisten Befreiungsbewegungen typisch ist.

Während ihrer ersten paar Jahre musste die Bewegung in arabischen Ländern funktionieren, die Angst vor ihr hatten und die sie unterdrückten. Alle ihre Führer, einschließlich Arafat, wurden im einen oder anderen Stadium in arabischen Gefängnissen gehalten. Jedes der arabischen Regime hat die palästinensische Sache zu seinem Vorteil auszunützen versucht. Arafat benötigte jede List, die seitdem sein Markenzeichen ist. Eine palästinensische Diplomatin erklärte mir einmal: “Damit die Bewegung überlebte und vorankam, musste Arafat alle Tricks und Schliche, doppeldeutige Rede und Halbwahrheiten anwenden, arabische Führer gegeneinander ausspielen und all dies in schnell veränderten Situationen. Er hatte immer mehrere Bälle in der Luft, ließ aber keinen zu Boden fallen. Auf diese Weise führte er unsere Bewegung voran und brachte uns dahin, wo wir jetzt sind.”

Wie jeder Führer einer Befreiungsbewegung machte er aus den wenigen Mitteln, die ihm zur Verfügung standen: Schlauheit, Gewalt, Diplomatie, Propaganda, das beste. Seine Schritte können vorausgesehen werden, wenn man in seinen Kopf hineinsehen kann und den Druck versteht, unter dem er arbeitet, und die Ziele, die er sich selbst gesetzt hat. In den vergangenen 30 Jahren bin ich nicht einmal überrascht gewesen: nicht, als er nach Oslo ging, nicht, als er die Verantwortung über die Intifada übernahm. Wenn der israelische Geheimdienst oft so überrascht war, dann, weil er die palästinensische Realität nicht versteht. “Sie wissen alles und verstehen nichts,” wie Boutros Boutros-Ghali einmal über israelische Arabisten sagte.

Seit 45 Jahren hat Arafat nun im Schatten des Todes gelebt. Es gab keinen Augenblick, in dem nicht hier oder dort ein Komplott ausgeheckt wurde, um ihn umzubringen. Als ich ihn 1982 im belagerten Beirut traf, glaubte keiner, er käme lebendig dort heraus. Seitdem versucht Ariel Sharon, ihn umzubringen. Ein halbes Dutzend Geheimdienste waren hinter ihm her. Arafat hat eine unheimliche Fähigkeit, ihnen zu entkommen. Er glaubt daran, dass er unter dem Schutz Allahs stehe. Ein Beweis? Als sein Flugzeug in der Libyschen Wüste eine Bruchlandung machte, und seine Leibwächter dabei ums Leben kamen, kam er fast ohne Schramme davon.

Einmal wurde er in meiner Gegenwart gefragt, ob er den Tag des Friedens noch bei Lebzeiten erwarte. “Wir beide, Uri Avnery und ich, werden diesen Tag noch erleben,” versprach er.

Um Israels Zukunft willen, wünsche ich, dass er sich wieder völlig erholt.

30.10.04, aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Veröffentlicht am

02. November 2004

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