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Wenn Lohnarbeit nicht mehr das Einzige wäre

Von Michael Opielka

GRUNDEINKOMMEN STATT HARTZ IV - Es geht nicht um radikale Gleichmacherei, sondern um Existenzsicherung und Schutz vor Armut

Schon lange nicht mehr bedeuten Reformen das, was sie in den ersten Nachkriegsjahrzehnten einmal waren: Verbesserungen für diejenigen, die eher im Schatten der Gesellschaft stehen. Hartz IV, betrieben von Rot-Grün und gefördert von Schwarz-Gelb, ist der vorläufige Höhepunkt der sozialpolitischen Gegenreformation. Die Montagsdemonstrationen haben manches bewirkt, aber das Armutsprogramm nicht stoppen können. Vielleicht wäre es für die Zukunft gut, nicht nur gegen Zumutungen zu protestieren, sondern auch einen eigenen Vorschlag mit Macht in die Debatte zu werfen. Grundeinkommen - dieses fast schon magische Stichwort fällt immer wieder. Aber wie könnte es funktionieren? Michael Opielka beschäftigt sich bereits seit längerem mit dieser Frage und benennt die Hürden, die zu bewältigen sind.

Wie in jenem gallischen Dorf unter römischer Besatzung finden sich trotz widriger Verhältnisse da und dort versprengte Sozialreformer. In Deutschland wurde beispielsweise jüngst ein “Netzwerk Grundeinkommen” (www.grundeinkommen.de) gegründet, das als Teil einer internationalen Bewegung (www. basicincome.org) eine ziemlich radikale Neuordnung des Verhältnisses von Arbeitsmarkt und Sozialpolitik fordert. Ziel der Grundeinkommens-Befürworter ist es, den Kapitalismus in einer seiner zentralen Prämissen zu neutralisieren: der Verallgemeinerung der Lohnarbeit als einzigem oder zumindest dominantem Pfad der Existenzsicherung. Ein unabhängig vom Arbeitsmarkt gezahltes, existenzsicherndes, individuelles Grundeinkommen würde das Privateigentum an Produktionsmitteln, die zweite Säule des Kapitalismus, nicht antasten. Doch die Lohnarbeit wäre nicht mehr das Nadelöhr, das man im Interesse des Lebensunterhalts passieren muss. Sie wäre nur noch eine Option für zusätzliches Einkommen, das Komfort und vielleicht auch Luxus bietet.

Statt den Warencharakter der Arbeit zu beschränken wird in allen westlichen Wohlfahrtsstaaten zunehmend das Gegenteil praktiziert. Seit den neunziger Jahren spricht sprich man von “welfare retrenchment”, von einem “Rückbau” sozialpolitischer Ansprüche. Im Zentrum dieses Prozesses steht die Devise “workfare statt welfare”, einfacher formuliert: Arbeitszwang statt Hängematte. Gerade Gewerkschafter und Sozialdemokraten - sowie in ihrem Schatten viele Grüne - sehen in einer mehr oder weniger zwangsweisen Arbeitsverpflichtung weder ein moralisches noch ein politisches Problem. Alle Pfade der Existenzsicherung müssten - so die noch immer dominante Lesart des Wohlfahrtsstaates - engstens an den Arbeitsmarkt geknüpft sein.

Die Befürworter eines Grundeinkommens gehen einen anderen Weg. Sie wollen ein Grundrecht auf ein existenzsicherndes Einkommen unabhängig vom Arbeitsmarkt. Das Spektrum der Grundeinkommensfreunde ist breit: André Gorz, Claus Offe, Erich Fromm, Milton Friedman, aber auch Rudolf Steiner und viele Feministinnen gehörten und gehören dazu. Wer für ein Grundeinkommen ist, hat in der Regel eine recht optimistische Auffassung vom Menschen. Er (oder sie) geht davon aus, dass der Mensch durch Anreize besser motiviert wird als durch Zwang und dass er nach Glück strebt, dieses Glück aber durchaus mit anderen teilen möchte. Diese optimistische Sicht der Dinge wird durch die psychologische und moralökonomische Forschung gestützt. Und sie steht im Zentrum sogar der kapitalistischen Utopie. Denn Anreize und Glück (“pursuit of happiness”) gelten in ihr als das Maß der Dinge. Antikapitalistisch ist das Grundeinkommen also nicht.

Zwei wesentliche Einwände werden immer wieder formuliert. Können Arbeitsmärkte ohne Zwang funktionieren? Und ist ein Grundeinkommen überhaupt finanzierbar? Es mag ja sein, so die Verfechter einer “workfare”-Ethik, einer mehr oder weniger direkten Arbeitspflicht, dass der Mensch auf Anreize besser reagiert als auf Zwang. Doch wenn Arbeitslose von der Allgemeinheit zu gut ernährt werden, so ihr Argument, sinke die allgemeine Moral. Im Sommer 2003, kurz nach Verkündung der “Agenda 2010”, skandalisierte die Boulevardpresse den Fall des “Florida-Rolf”, eines deutschen Sozialhilfeempfängers mit Wohnsitz in den USA. Flugs wurde die Auslandssozialhilfe eingeschränkt.

“Florida-Rolf” war vor allem jenen willkommen, die ihre pessimistische Sicht auf die menschliche Natur radikal zuspitzen: Arbeitslosigkeit entsteht überhaupt erst durch Sozialhilfe und Arbeitslosengeld. Hinter dieser These steht die Annahme markträumender Löhne: Sobald man ein garantiertes Existenzminimum als Sockel einzieht, werden die Marktgesetze verzerrt, der Sozialstaat erzeugt die Arbeitslosigkeit. Dieser Argumentationsgang steht letztlich hinter der “workfare”-Ethik. Belegen lässt er sich allerdings nicht. Im Gegenteil: In Ländern ohne staatliche Existenzgarantie gibt es fast immer weitaus mehr Arbeitslose. Die Strategie “workfare statt welfare” blieb in internationalen Vergleichsstudien einen Erfolgsnachweis schuldig.

Kausale Beziehungen zwischen workfare und besseren Arbeitsmarktdaten wurden bislang nur theoretisch behauptet, empirisch jedoch nicht nachgewiesen. Das “Beschäftigungswunder” in den Niederlanden beispielsweise hat mit den auch dort durchgesetzten Restriktionen praktisch nichts, mit der Erhöhung der Teilzeitarbeit und dem Abdrängen von Arbeitslosen in eine verdeckte Arbeitslosigkeit sehr viel zu tun. Der erste Einwand der Grundeinkommensskeptiker ist also schwach: Wenn Arbeitsmärkte mit mehr Druck nicht besser funktionieren, warum sollen sie dann mit weniger Druck schlechter laufen?

Der zweite Einwand zielt auf die Kosten. Unbestreitbar würde ein Grundeinkommen in Höhe des durchschnittlich verfügbaren Pro-Kopf-Einkommens eine enorme Umverteilung bedeuten, weil alle das Gleiche bekommen. Das wäre echter Kommunismus. Die Staatsquote würde in einer solchen Gleichheitswelt nicht mehr 49,2 Prozent betragen (wie 2003 in Deutschland), sondern praktisch 100 Prozent. Insoweit wäre es “teuer”. Ein Durchschnittseinkommen ist aber auch kein Grundeinkommen. Es geht nicht um radikale Gleichmacherei, sondern um Existenzsicherung und Schutz vor Armut.

Die “Kosten” eines Grundeinkommens hängen vor allem von drei Variablen ab: dem Niveau des Grundeinkommens, von der Frage, ob alle Haushaltsmitglieder unabhängig von Unterhaltsbeziehungen einen Anspruch haben (Individual- oder Haushaltsprinzip), und davon, was alles aus dem Grundeinkommen bezahlt werden muss.

Bis in die achtziger Jahre galt in der Bundesrepublik das sogenannte “Warenkorb”- Prinzip. Das Existenzminimum wurde vor allem haushalts- und ernährungswissenschaftlich bestimmt. Weil das der damaligen konservativ-liberalen Bundesregierung zu “teuer” war, wurde der “Warenkorb” zunächst suspendiert, schließlich durch ein “Statistik”-Modell ersetzt. Seitdem orientiert sich die Definition von Armut an den untersten Einkommensgruppen. Auch die rot-grüne Bundesregierung hält - trotz erheblicher Kritik von Armutsforschern - an dieser selbstreferentiellen Bestimmung des Sozialhilfeniveaus fest, zuletzt in den Niveaufestlegungen des “Arbeitslosengeldes II”: 345 Euro für den Erwachsenen in Westdeutschland beziehungsweise 331 Euro im Osten plus durchschnittlich 306 Euro Wohnkosten.

Beide Komponenten zusammen genommen liegen etwa auf Höhe des aktuellen Grundfreibetrages im Einkommenssteuerrecht: monatlich 640 Euro beziehungsweise 7.664 Euro im Jahr. Das scheint wirklich das absolute Minimum zu sein. Natürlich ließen sich auch höhere Beträge begründen, indem man, wie in vielen anderen Ländern üblich, 50 oder gar 60 Prozent des Durchschnittseinkommens als Armutsgrenze definiert. Je nach Berechnungsform kommt man dann auf ein Existenzminimum, das für eine Einzelperson bis zu 1.080 Euro beträgt.

Noch komplexer ist die zweite kostenwirksame Variable, die Entscheidung zwischen Individual- und Haushaltsprinzip. Das deutsche Steuer-, Sozial- und Familienrecht basiert auf dem Modell der Unterhaltsgemeinschaft Familie. Sie wird vielfach privilegiert - beispielsweise durch Ehegattensplitting, Schenkungs- und Erbschaftsfreibeträge, kostenlose Mitversicherung in der Gesetzlichen Krankenversicherung und Hinterbliebenenrente. Im Gegenzug werden Ehegatten untereinander und Eltern für ihre Kinder sowie teils auch Kinder für ihre Eltern, etwa bei den Pflegekosten, zum Unterhalt verpflichtet. Ein Grundeinkommen muss sich in dieses System einfügen - oder das ganze Sozialsystem muss konsequent individualisiert werden.

Aus Frauensicht spricht einiges für die Individualisierung. Doch manche Feministinnen warnen auch: Ob nämlich die Frauen, die sich noch immer für ihre Kinder mehr verantwortlich fühlen als die Väter, am Ende besser dran sind, ist keineswegs ausgemacht. Angesichts von mehr als 50 Prozent nichterwerbstätigen Ehefrauen in Westdeutschland (und gut 30 Prozent in Ostdeutschland) kann man sich die Kosteneffekte vorstellen, wenn jede und jeder unabhängig von ihrem und seinem Partner ein Grundeinkommen beansprucht. Drittens schließlich hängen die Kosten des Grundeinkommens davon ab, ob man daraus seine Krankenversicherung bezahlen muss, ob und wie viel man bei hohen Wohnkosten noch an Wohngeld bekommt und vor allem, wie zusätzliche Einkommen angerechnet werden.

Erst wenn diese Variablen geklärt sind, kann man seriöse Aussagen zu den Kosten eines Grundeinkommens machen. Einige versuchen es trotzdem. Die österreichischen Vertreter von attac (“vision attac”) haben ein Rechenmodell für eine “Sozialdividende” vorgelegt, das heißt, für ein Grundeinkommen, bei dem jeder Bürger Österreichs im erwerbsfähigen Alter 1.166 Euro (zuzüglich gestaffelte Beträge für Kinder) und jeder Rentner 1.333 Euro im Monat erhält, unabhängig von seinem sonstigen Einkommen. Um das zu finanzieren, muss man den Bürgern allerdings tief in die Tasche greifen: mit 50 Prozent Einkommensteuer und mit einer Verdopplung bis Verdreifachung vor allem von Steuern auf Kapitaltransaktionen, wie Erbschaftsteuer und Börsenumsatzsteuer. Hinzu kommen noch die Beiträge zur Krankenversicherung.

Solche Rechenmodelle sind politisch wichtig. Sie zeigen vor allem eins: Die Idee des Grundeinkommens ist tatsächlich noch nicht so ganz ausgereift. Vermutlich ist der große Wurf, die schlagartige Einführung eines vom Arbeitsmarkt unabhängigen Grundeinkommens nicht einmal wünschenswert. Es ist auch schwer, die Bürger im allgemeinen und die Eliten insbesondere zu überzeugen, wenn man sich das Grundeinkommen nicht irgendwie vorstellen kann. Gibt es pragmatische Schritte zu einem Grundeinkommen, die trotzdem seinen Geist atmen? Ein Modell wäre die “Grundeinkommensversicherung”, eine Bürgerversicherung nicht (nur) gegen Krankheit, sondern für alle Einkommensrisiken. Wer arbeitslos und erwerbsbereit, wer krank, alt oder behindert ist oder wer kleine Kinder zu betreuen hat, hätte Anspruch auf ein Grundeinkommen.

Die Idee der Grundeinkommensversicherung lehnt sich an die Schweizer Grundrentenversicherung AHV an. Jeder Schweizer zahlt dort 10,1 Prozent seines Einkommens ein - ohne Obergrenze - und erhält im Alter mindestens eine Grundrente und maximal das Doppelte der Grundrente. Je nach den früheren Beitragszahlungen an die Grundeinkommensversicherung erhält man also das Grundeinkommen oder maximal den doppelten Betrag. Kinder erhalten das Kindergeld wie heute und einen Kindergeldzuschlag bis maximal der Hälfte des Grundeinkommens, Rentner noch einen Aufschlag auf das Grundeinkommen. Wer sich nicht arbeitslos melden will, erhält trotzdem ein Grundeinkommen, aber - wie heute bei den Studenten - zur Hälfte als Darlehen (“Bafög für alle”).

Würde ein solches Grundeinkommen 640 Euro betragen, wären die Kosten dieses neuen Systems überschaubar: etwa 17,5 Prozent auf alle Einkommen der privaten Haushalte, und das ohne Beitragsbemessungsgrenze. So ergäbe sich eine Art “Sozialsteuer” - vergleichbar mit dem einheitlichen Satz, den alle erwerbsfähigen Schweizer ohne Beitragsbemessungsgrenze in die Rentenversicherung AHV einzahlen. Im Gegenzug könnte die jetzige Einkommensteuer deutlich reduziert werden. Ob ein Grundeinkommen finanzierbar ist, hängt also von seiner Ausgestaltung ab. Zunächst käme es darauf an, entgegen dem aktuellen politischen Klima soziale Grundrechte wieder auf die Tagesordnung zu setzen.

Michael Opielka leitet das Institut für Sozialökologie in Königswinter. Weitere Informationen zum Thema bietet das von ihm herausgegebene Buch Grundrente in Deutschland, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 41 vom 01.10.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Michael Opielka sowie dem Verlag.

Veröffentlicht am

08. Oktober 2004

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