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Der Optimismus der Ungewissheit

Von Howard Zinn - ZNet Kommentar 30.09.2004

Wie kann ich weitermachen und glücklich wirken in dieser furchtbaren Welt, in welcher die Anstrengungen von Menschen oft geringfügig erscheinen, wenn man sieht, was von jenen, welche Macht haben getan wird?

Ich bin mir nicht vollkommen sicher, daß die Welt besser werden wird, aber durchaus, daß wir nicht aufgeben sollten, bevor alle Karten gespielt worden sind.

Die Metapher ist bewußt gewählt; das Leben ist ein Spiel. Nicht zu spielen hieße gleich auf jede Gewinnchance zu verzichten. Zu spielen, zu handeln, schafft zumindest die Möglichkeit, die Welt zu verändern.

Es gibt eine Tendenz zu denken, daß die Welt in jener Art, wie wir sie im Augenblick sehen, auch so bleiben wird. Wir vergessen, wie oft wir durch das plötzliche Einstürzen von Institutionen überrascht worden sind, durch außergewöhnliche Veränderungen in den Gedanken der Menschen, durch unerwartete Ausbrüche der Rebellion gegen Tyranneien, durch den raschen Zusammenbruch von Machtsystemen, welche bis Tags zuvor unbesiegbar schienen.

Was von der Geschichte der letzten hundert Jahren hervorsticht, ist ihre vollkommene Unvorhersehbarkeit. Eine Revolution zum Sturze des Zaren von Rußland, in diesem trägesten semi-feudalen Imperium, welche nicht nur die fortgeschrittensten imperialen Mächte geschreckt hat, sondern selbst Lenin überraschte und ihn in den nächsten Zug nach Petrograd springen ließ.

Wer hätte die bizarren Wendungen des Zweiten Weltkrieges vorhergesehen? - den Nazi-Sowjet Pakt (diese peinlichen Photos von Ribbentrop und Molotov beim Händeschütteln), und die deutsche Armee, wie sie über Rußland rollt, anscheinend unbesiegbar, kolossale Opferzahlen hinter sich lassend, wie sie vor den Toren Leningrads und vor Moskau zurückgewiesen wird, und in den Straßen von Stalingrad geschlagen, gefolgt vom Sieg über die deutsche Armee, und Hitler, wie er sich in seinem Berliner Bunker versteckt und darauf wartet zu sterben.

Und dann in der Nachkriegswelt, welche eine Form annimmt, die niemand hätte ahnen können: die kommunistische Revolution in China, die laute und gewaltvolle Kulturrevolution, und dann die nächste Wendung, wie das post-maoistische China seine kompromisslosesten Ideen und Institutionen begräbt, Annäherungsversuche an den Westen macht, es den kapitalistischen Unternehmungen recht machen will, und jeden sprachlos macht.

Niemand hat die Aufsplitterung der alten westlichen Imperien für so knapp nach dem Krieg vorhergesehen, oder die seltsame Vielzahl an Gesellschaften welche in den damit unabhängig werdenden Nationen entstanden, vom sanften Dorfsozialismus in Nyereres Tansania bis zum Wahnsinn in Idi Amins Uganda. Spanien wurde bestaunt. Ich erinnere mich noch, wie ein Veteran der Abraham Lincoln Brigade mir sagte, daß er sich nicht vorstellen könne, daß der Faschismus in Spanien ohne einen weiteren blutigen Krieg gestürzt werden könne.

Aber nachdem Franco verschwunden war entwickelte sich eine parlamentarische Demokratie, in welcher SozalistInnen, KommunistInnen, AnarchistInnen, und jeder leben konnte.

Das Ende des Zweiten Weltkrieges hinterließ zwei Supermächte mit ihren Einflusssphären und den von ihnen kontrollierten Gebieten, um militärische und politische Macht wetteifernd. Und doch konnten sie auch jene Gebiete der Erde, welche als ihre Einflusssphären betrachtet worden sind, nicht kontrollieren.

Das Versagen der Sowjetunion sich in Afghanistan durchzusetzen, und ihre Entscheidung sich nach fast einem Jahrzehnt ekelhafter Intervention zurückzuziehen, war der überzeugendste Beweis, daß selbst der Besitz von thermonuklearen Waffen nicht die Herrschaft über eine entschlossene Bevölkerung garantieren kann.

Die Vereinigten Staaten wurden mit derselben Realität konfrontiert. Sie führten einen Krieg unter Einsatz fast aller Mittel in Indochina, bombardierten eine kleine Halbinsel brutaler als es die Weltgeschichte je gesehen hatte, und waren doch gezwungen, sich zurückzuziehen. Die Schlagzeilen zeigen uns jeden Tag neue Fälle, in welchen die scheinbar Mächtigen vor den scheinbar Machtlosen weichen müssen, wie in Brasilien, wo eine Graswurzelbewegung von ArbeiterInnen und Armen einen neuen Präsidenten gewählt hat, welcher verspricht, die zerstörerische Macht der Konzerne zu bekämpfen.

Wenn wir uns diesen Katalog von riesigen Überraschungen ansehen wird es klar, daß der Kampf für Gerechtigkeit niemals aufgegeben werden darf, und sicher nicht wegen der anscheinend überwältigenden Macht jener, welche die Waffen und das Geld haben, und welche in ihrer Entschlossenheit, jene zu behalten, unbesiegbar scheinen.

Diese scheinbare Macht hat sich, immer und immer wieder, als verletzlich herausgestellt, verletzbar durch menschliche Qualitäten welche weniger messbar sind als Bomben und Dollars: moralischer Wille, Entschlossenheit, Einigkeit, Organisierung, Opferbereitschaft, Humor, Einfallsreichtum, Courage, Geduld - ob von Schwarzen in Alabama und Südafrika, BäuerInnen in El Salvador, Nicaragua und Vietnam, oder ArbeiterInnen und Intellektuellen in Polen, Ungarn und der Sowjetunion selbst. Keine kalte Berechnung der Balance der Macht sollte Menschen abschrecken können, welche überzeigt sind, daß sie für eine gerechte Sache einstehen.

Ich habe mich sehr bemüht, den Pessimismus meiner Freunde über die Welt zu teilen (sind es nur meine Freunde?), aber ich treffe immer wieder auf Menschen, welche mir Hoffnung geben, trotz all der Beweise, was für schreckliche Dinge überall passieren. Besonders junge Menschen, von welchen die Zukunft abhängt.

Wo auch immer ich hingehe, finde ich solche Menschen. Und über die paar AktivistInnen hinaus, scheint es noch hunderte, tausende und mehr zu geben, welche für unorthodoxe Ideen offen sind. Aber sie wissen oft nichts voneinander, und während sie standhaft bleiben, tun sie das mit der Geduld eines Sisyphus, welcher für alle Zeiten den Stein auf den Berg hinaufrollt.

Ich versuche jeder Gruppe zu sagen, daß sie nicht alleine ist, und daß gerade jene Menschen, welche unglücklich über das Fehlen einer nationalen Bewegung sind, der Beweis für das Potential einer solchen Bewegung sind.

Revolutionäre Veränderung kommt nicht durch einen kataklysmischen Moment (man hüte sich vor solchen Momenten!), sondern durch eine endlose Folge von Überraschungen, einer Zickzack-Bewegung zu einer besseren Gesellschaft hin. Wir müssen keine großartigen, heroischen Aktionen durchführen, um am Prozeß der Veränderung teilzuhaben. Kleine Handlungen können die Welt verändern, wenn Millionen sie machen.

Selbst wenn wir nicht “gewinnen” ist es schön und erfüllend, mit anderen guten Menschen dabei involviert gewesen zu sein, etwas Richtiges zu machen. Wir brauchen Hoffnung.

Ein Optimist ist nicht notwendigerweise ein Mensch, der in unseren dunklen Zeiten heiter pfeift. In schlechten Zeiten hoffnungsvoll zu sein, ist nicht nur dumme Romantik. Es basiert auf der Tatsache, daß die Geschichte der Menschheit nicht nur eine Geschichte der Grausamkeit, sondern auch eine des Mitgefühls, der Opfer, der Courage und der Liebenswürdigkeit ist. Das wofür wir uns entscheiden, in dieser komplexen Geschichte hervorheben zu wollen, wird unsere Leben bestimmen. Wenn wir nur das schlimmste sehen, zerstört es unsere Fähigkeit, etwas zu tun.

Wenn wir uns an die Zeiten und Orte erinnern - und es gibt so viele - wann und wo Menschen sich großartig verhalten haben, gibt uns das die Energie zu handeln und zumindest die Möglichkeit, diesen wirbelnden Kreisel Welt in eine andere Richtung zu schicken. Und wenn wir handeln, egal auf welche kleine Weise, müssen wir nicht auf irgendeine großartige utopische Zukunft warten. Die Zukunft ist eine unendliche Folge von Augenblicken, und jetzt so zu leben, wie wir glauben, daß menschliche Wesen leben sollten, trotz alldem, was um uns herum so schlecht ist, ist schon für sich ein wunderbarer Sieg.

Quelle: ZNet Deutschland vom 01.10.2004. Übersetzt von: Matthias. Leichte Bearbeitung von Michael Schmid. Orginalartikel: “The Optimism of Uncertainty”: http://www.zmag.org/sustainers/content/2004-09/30zinn.cfm

Veröffentlicht am

02. Oktober 2004

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