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Reichtum vererbt sich, Armut auch

Von Karin Nungeßer

WOHLSTAND IN DEUTSCHLAND: Es ist höchste Zeit, mit einer Debatte über Umverteilung zu beginnen

In diesem Herbst sollte der zweite Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung erscheinen. Doch die lässt sich - vielleicht aus taktischen Gründen - Zeit. Nun soll es spätestens 2006 so weit sein. Doch auch so steht fest: eine Trendwende unter Rot-Grün hat es nicht gegeben.

Holger Stein, Mitarbeiter beim Forschungsbereich “Öffentliche Wirtschaft und Soziale Sicherung” der Uni Frankfurt, hat für die Vermögensverteilung in Deutschland jüngst ein eindrucksvolles Bild gefunden. In seiner “Vermögensparade” steht jede Person für einen Haushalt. Ihre Körpergröße entspricht dabei dem Nettovermögen des betreffenden Haushaltes. Ein Haushalt mit durchschnittlichem Vermögen wird also durch eine Person mit durchschnittlicher Körpergröße von 1,75 Metern repräsentiert. Ließe man auf diese Weise sämtliche Haushalte der Bundesrepublik in einer Stunde an sich vorüberziehen, sähe man sechs Minuten lang gar nichts - weil die Betreffenden entweder Schulden oder kein Vermögen haben. Nach zwanzig Minuten hätten die Defilierenden gerade mal eine Größe von 19 Zentimetern erreicht, nach 30 Minuten wären es gut 60 Zentimeter. Erst nach 40 Minuten kämen die ersten durchschnittlich Gewachsenen in den Blick, die bald von Gestalten der doppelten Größe abgelöst würden. Kurz nach Beginn der letzten Minute wäre die zehn-Meter-Marke überschritten, an ihrem Ende wären die Menschen über 40 Meter groß. Und dennoch wären auch sie noch klein im Vergleich zu den 100 reichsten Deutschen, die in keiner Verteilungsstatistik auftauchen: Sie laufen sozusagen außer Konkurrenz und kämen in der Steinschen Vermögensparade auf stattliche 41 Kilometer Körpergröße. Durchschnittlich, wohlgemerkt.

Merkwürdigerweise interessiert sich in Deutschland derzeit kaum jemand für Steins Zahlen. Dabei belegen sie, dass die Verhältnisse durchaus Raum für Umverteilungen böten. Doch jeder Ansatz zu einer Debatte - gleich, ob es um die Offenlegung von Vorstandsgehältern nach dem Vorbild der USA oder, wie kürzlich, um die Wiedereinführung der Vermögensteuer geht - wird als “Neiddiskussion” denunziert und im Keim erstickt. Mehr noch als Armut ist Reichtum heute Privatsache, so scheint es.

Die fetten Jahre

Das war nicht immer so. In den fünfziger und sechziger Jahren galt in der jungen Bundesrepublik das Motto “Wohlstand für alle”. Zwar waren die - auch im Westen und bis ins bürgerliche Lager hinein - nach dem Krieg diskutierten Ansätze zu einer Politik der Vergesellschaftung, etwa zu einer Bodenreform zugunsten der Flüchtlinge, gescheitert. Große Vermögen, die den Krieg unbeschadet überstanden hatten, überlebten auch die Währungsunion. Doch die Erkenntnis, dass Eigentum verpflichtet, schaffte es bis ins Grundgesetz.

Und was die Einkommen betraf, fühlten sich Politiker aller Parteien diesem Grundsatz - mehr oder minder - verpflichtet. So schrieb etwa Alfred Müller-Armack, einer der Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft und später wirtschaftspolitischer Leiter im Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, 1947: “Ohne Zweifel führt die marktwirtschaftliche Einkommensbildung zu Einkommensverschiedenheiten, die uns sozial unerwünscht erscheinen.” Und weiter: “Wenn auf dem Weg der Besteuerung die höheren Einkommen gekürzt werden und die einlaufenden Beträge etwa in Form von direkten Kinderbeihilfen, Mietzuschüssen, Wohnungsbauzuschüssen weitergeleitet werden, liegt geradezu der Idealfall eines marktgerechten Eingriffs vor.”

Es waren nicht zuletzt derlei “marktgerechte Eingriffe”, die der Bundesrepublik in den sechziger und siebziger Jahren eine prosperierende Mittelschicht bescherten. Staatliche Maßnahmen wie der Lastenausgleich, vermögensbildende Maßnahmen und insbesondere die Förderung selbst genutzten Wohneigentums ließen nicht nur Beamten- und Angestelltenhaushalte, sondern auch Facharbeiterfamilien zu Wohlstand kommen - während gleichzeitig das Wirtschaftswunder für Vollbeschäftigung und satte Lohnzuwächse sorgte. Auch der Staat konnte dank hoher Steuereinnahmen fleißig investieren. Schwimmbäder, Schulen, Volkshochschulen und Stadtbüchereien wurden errichtet, Theater, Opern und Museen lockten mit moderaten Eintrittspreisen, der öffentliche Nahverkehr war bezahlbar, der Hochschulbesuch kostenlos. Wohlstand - wenn schon nicht für alle, so doch wenigstens für viele - war machbar.

In dieser Zeit wurde das Fundament für den - relativen - Reichtum der westdeutschen Mittelschicht gelegt, der sich bis heute unter anderem in der ungleichen Vermögensverteilung zwischen Ost und West niederschlägt: Obwohl 1998 fast jeder fünfte Haushalt in den neuen Bundesländern lag, besaßen die ostdeutschen Haushalte im selben Jahr nur acht Prozent des gesamten privaten Nettovermögens. In absoluten Zahlen: Von den 4,25 Billionen Euro, die in Deutschland 1998 in Form von Immobilien, Sparkonten, Aktien oder Versicherungen in Privatbesitz waren, gehörten ostdeutschen Haushalten 341 Milliarden, den westdeutschen dagegen 3,91 Billionen Euro.

Die Kehrseite des westdeutschen Reichtums: Mit dem Wohlstand nahm auch die soziale Ungleichheit zu. Denn mit der Arbeitslosigkeit stieg im Laufe der achtziger und neunziger Jahre auch die Zahl derjenigen, die kaum genug zum Leben hatten - geschweige denn, etwas zurücklegen konnten. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnete sich immer weiter - auch weil politisch immer weniger gegengesteuert wurde, wie Irene Becker und Richard Hauser in ihrer jüngst veröffentlichten Studie Anatomie der Eigentumsverteilung zeigen. Zum Beispiel im Steuerrecht: Ab Mitte der siebziger Jahre lag der für den Niedrigeinkommensbereich - und damit die Armutsgefährdung - zentrale Grundfreibetrag unterhalb des Existenzminimums und wurde erst 1993 - und nur auf Druck des Bundesverfassungsgerichtes - angehoben. Unternehmenssteuern wurden gesenkt, die Vermögensteuer de facto abgeschafft. Und während die Pro-Kopf-Einkommen, insbesondere in den achtziger Jahren, noch kräftig zulegten, wurden Sozialhilfe und Wohngeld immer stärker zurückgefahren. Das Resultat: Die Reichen wurden reicher, der Anteil der Armen stieg.

Heute ist Deutschland eine Drei-Klassen-Gesellschaft - auch beim Einkommen. Mehr als ein Drittel der Haushalte lebt im Niedrigeinkommensbereich, verfügt also über maximal 75 Prozent des durchschnittlichen Einkommens. Weitere 40 Prozent der Haushalte kommen auf ein “mittleres Einkommen”, bewegen sich also zwischen 75 und 125 Prozent des Durchschnittsverdienstes. Auf der anderen Seite liegt jeder zehnte Haushalt zwischen 25 und 50 Prozent über dem Durchschnitt, jeder achte sogar bei über 150 Prozent des durchschnittlichen Einkommens. In Wirklichkeit dürften die Unterschiede allerdings noch sehr viel krasser sein, warnen Experten. Denn die tendenziell niedrigen Einkommen von Wohnungslosen, Gefängnisinsassen, den Bewohnern von Alters- und Behindertenheimen werden für die Statistik nicht erhoben. Einkommensmillionäre - 1995 lag ihre Zahl immerhin bei 21.000 mit Gesamteinkünften über 57 Milliarden Mark - werden umgekehrt kaum erfasst, weil die Erhebung auf freiwilligen Selbstauskünften basiert.

Die Hoffnung, unter Rotgrün könne eine Trendwende eintreten, hat sich nicht erfüllt. Im Gegenteil: Zwischen 2000 und 2002 stieg der Anteil der Armen erneut um knapp zwei Prozent auf über 13 Prozentpunkte, während der Anteil der überdurchschnittlich Verdienenden weitgehend stabil blieb. Gleichzeitig hat die Ungleichheit in der Verteilung der Einkommen zugenommen. Vergleicht man das ärmste mit dem reichsten Fünftel der Bevölkerung, so sank der Anteil, den die 20 Prozent einkommensärmsten Haushalte am Gesamteinkommen hatten, zwischen 2001 und 2002 von 9,7 auf 9,3 Prozent, während der des reichsten Quintils im selben Zeitraum von 35,7 auf 36,4 Prozent anstieg.

Kinder ohne Geld

Wer ist arm? Auch darüber geben die Zahlen Aufschluss. Weit überproportional vertreten sind laut Datenreport 2004 die Ein-Eltern-Familien. Vier von zehn Alleinerziehenden - überwiegend Frauen - leben mit ihren Kindern in Armut. Dennoch ist Armut nicht länger weiblich - die Männer haben mittlerweile nachgezogen. Im Osten ist jedes vierte Kind arm, im Westen jedes fünfte. Migrantenhaushalte sind deutlich häufiger betroffen als deutsche: Mehr als ein Viertel von ihnen haben weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Einkommens zur Verfügung. Dasselbe gilt für rund 40 Prozent der über vier Millionen Arbeitslosen. Doch auch, wer Arbeit hat, ist damit keinesfalls vor Armut geschützt: In über 17 Prozent der Arbeiterhaushalte liegt das Einkommen unterhalb der Armutsgrenze, im Osten ist zusätzlich jeder siebte Selbstständige arm. Kaum von Armut betroffen sind hingegen - wen wundert’s - leitende Angestellte sowie höhere Beamte.

Doch es kann noch schlimmer kommen. Werden die Hartz-IV-Gesetze umgesetzt, so befürchtet der Kinderschutzbund, müssen künftig 500.000 Kinder zusätzlich auf Sozialhilfeniveau leben. Schon jetzt beträgt ihre Zahl über eine Million. Arme Kinder aber sind häufiger krank, haben ein höheres Risiko, vernachlässigt zu werden, und schlechtere Bildungschancen. Nahezu 80 Prozent der HauptschülerInnen haben bis zum Verlassen der Schule mindestens einmal in wirtschaftlich ungesicherten Verhältnissen gelebt. Bei Realschülern und Gymnasiasten gilt das nur für jeden Zweiten. Soziale Herkunft, nicht Leistung, entscheidet in Deutschland über Lebenschancen.

Reichtum vererbt sich, Armut auch. Wer daran etwas ändern möchte, muss jetzt investieren: in gut ausgestattete Kindertagesstätten und Ganztagsschulen, die herkunftsbedingte Bildungsunterschiede kompensieren, in mehr kommunale Jobs und in eine Bürgerversicherung, die denen, die nichts oder wenig verdienen, ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Konzepte, woher das Geld dafür kommen könnte, gibt es durchaus. Von einer eher moderaten Vermögensteuer nach niederländischem Vorbild bis zu einer generellen Begrenzung des privaten Reichtums in Höhe des dreifachen durchschnittlichen Bruttovermögens pro Haushalt, wie sie die Politikwissenschafter Ernst-Ulrich Huster und Dieter Eissel der Bundesregierung schon 2000 vorschlugen. “Reichtum hat wichtige Funktionen in unserer Gesellschaft, im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich”, schrieben die Autoren in ihrem Bericht. “Aber Reichtum steht nicht außerhalb des gesellschaftlichen Diskurses darüber, welcher Grad an sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft förderlich wirkt und welcher Grad sozialer Ungleichheit destruktiv ist.” Die Vermögensparade zeigt: Es ist höchste Zeit, endlich mit der Debatte darüber zu beginnen.

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 40 vom 24.09.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Karin Nungeßer sowie dem Verlag.

Veröffentlicht am

29. September 2004

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