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Die Likudisierung der Welt

Das wahre Vermächtnis des 11. Septembers: Bush übernahm die rigiden Ansichten Scharons

Von Naomi Klein - ZNet 10.09.2004

Der russische Präsident Wladimir Putin war am Montag so genervt über die Kritik an seiner Handhabung der Beslan-Katastrophe, daß er die ausländischen Journalisten anfuhr: “Warum treffen Sie sich nicht mit Osama bin Laden, laden Sie ihn doch nach Brüssel oder ins Weiße Haus ein und führen Gespräche”, “keiner hat das moralische Recht, uns zu sagen, wir sollen mit Kindermördern verhandeln”.

Mr. Putin ist kein Mann, der sich gern von außen Ratschläge erteilen läßt. Schön für ihn, daß es noch einen Ort gibt, wo man ihn vor aller Kritik in Schutz nimmt: Israel. Am Montag bereitete der israelische Premierminister Ariel Scharon dem russischen Außenminister Sergej Lavrow einen warmherzigen Empfang. Bei dem Treffen ging es um eine engere Zusammenarbeit beim Kampf gegen den Terror. “Terror ist nicht zu rechtfertigen, und es wird für die freie, anständige, humanistische Welt Zeit, sich zu vereinen und diese schreckliche Epidemie zu bekämpfen”, so Scharon. Unbestritten.

Worum es beim Terrorismus im Kern geht: Man wählt bewußt Unschuldige als Ziel aus, um seine politischen Zielsetzungen zu verfolgen. Jede Behauptung der Täter, sie kämpften für Gerechtigkeit, ist eine moralische Bankrotterklärung und führt uns direkt zur Barbarei von Beslan. Beslan - der sorgfältig ausgeklügelte Plan, hunderte Kinder an ihrem ersten Schultag abzuschlachten.

Mit Sympathie allein sind die überschwenglichen Solidaritätsbekundungen israelischer Politiker für Rußland diese Woche allerdings nicht zu erklären. Neben Mr. Scharons Statement ist da die Aussage des israelischen Außenministers Silvan Schalom, das Massaker zeige, “es gibt keinen Unterschied zwischen Terror in Bersheba und Terror in Beslan”. Und die (israelische Tageszeitung) Ha’aretz zitiert einen nicht namentlich genannten israelischen Offiziellen mit den Worten, die Russen “begreifen jetzt, daß sie es nicht mit einem lokalen Terrorproblem zu tun haben, sondern (das Ganze) ist Teil einer globalen Bedrohung durch islamistischen Terror. Diesmal sollten die Russen auf unsere Vorschläge hören”.

Die unterschwellige Botschaft ist nicht mißzuverstehen: Rußland und Israel befinden sich im selben Krieg, bei dem es weder um Palästinenser geht, die auf das Recht auf einen eigenen Staat beharren noch um Tschetschenen, die ihre Unabhängigkeit einfordern, vielmehr um die “globale Bedrohung durch islamistischen Terror”. Und das erfahrenere Israel nimmt für sich in Anspruch, die Kriegsregeln festzulegen. Da wundert es auch nicht, daß es sich um dieselben Regeln handelt, die Mr. Scharon gegen die Intifada in den besetzten Gebieten anwendet.

Scharon setzt primär voraus: Alles, was die Palästinenser wollen, ist Israel vernichten. Aus dieser Grundannahme leiten sich weitere ab. Erstens, jedwede israelische Gewalt gegen Palästinenser ist ein Akt der Selbstverteidigung und im Interesse des Überlebens des Staates Israels notwendig. Zweitens, jede Person, die das absolute Recht Israels zur Vernichtung des Feinds infrage stellt, ist ein Feind: die Vereinten Nationen, Regierungschefs, Journalisten, Peaceniks.

Putin horchte auf - soviel ist klar. Andererseits ist es nicht das erstemal, daß Israel die Rolle des Lehrmeisters spielt. Am 12. September 2001 wurde der damalige israelische Finanzminister Benjamin Netanjahu gefragt, welche Auswirkungen die Terroranschläge gegen New York und Washington am Tag zuvor auf die Beziehungen zwischen Israel und den USA hätten. Er antwortete: “Das ist sehr gut”. “Nun, nicht sehr gut, aber es wird umgehend Sympathie erzeugen”. Die Anschläge, so erklärte Mr. Netanjahu, “stärken das Band zwischen unseren beiden Völkern, denn wir erleben den Terror schon über soviele Jahrzehnte, aber nun haben die USA (selber) einen massiven Aderlaß des Terrors erlebt”.

Jeder weiß, mit dem 11. September wurde geopolitisch eine neue Ära eingeläutet - zusammengefaßt in der sogenannten “Bush-Doktrin”: Präemptiv-Kriege und Angriffe auf die “Infrastruktur des Terrors” (sprich: auf ganze Staaten). Man beharrt darauf, der Feind versteht nur die Sprache der Gewalt. Treffender wäre es jedoch, diese rigide Weltsicht als “Likud-Doktrin” zu bezeichnen. Am 11. September wurde die Likud-Doktrin, die zuvor nur auf Palästinenser angewendet wurde, von der mächtigsten Nation der Welt aufgegriffen und global angewandt. Man könnte dieses wahre Vermächtnis des 11. September auch als ‘Likudisierung der Welt’ bezeichnen.

Um nicht mißverstanden zu werden: Mit dem Ausdruck ‘Likudisierung’ ist nicht gemeint, daß Mitarbeiter der Bush-Administration in Schlüsselpositionen für Israel tätig werden - auf Kosten der Interessen der USA (“duale Loyalität”, ein immer populäreres Argument). Nein, auf was ich vielmehr anspiele: Am 11. September sah sich George W. Bush nach einer passenden politischen Philosophie um, die sein Leitstern sein sollte bei seiner neuen Rolle als “Kriegspräsident”. Er fand sie in der Doktrin des Likud. Begeisterte heimliche Likudniks im Weißen Haus stellten sie ihm sogleich bereit, bequem fix und fertig. Selberdenken unnötig.

Und seither setzte das Weiße Haus unter Bush diese Logik mit gänsehauterregender Konsequenz um - im “Krieg gegen den Terror”. Sie war die Leitphilosophie in Afghanistan und im Irak und könnte auch auf den Iran und Syrien ausgeweitet werden. Es ist nicht nur so, daß Mr. Bush die Rolle Amerikas als die eines Beschützers Israels gegenüber der feindlichen arabischen Welt definiert. Vielmehr sieht er die USA inzwischen in der gleichen Rolle, in der sich Israel sieht - konfrontiert mit derselben Bedrohung. Gemäß diesem Denken befinden sich die USA in einem nie endenden Überlebenskampf gegen irrationale Kräfte, die sich mit nichts weniger zufrieden geben werden als der totalen Vernichtung (ihrer Feinde).

Und nun hat das Likudisierungsdenken also auch Rußland erreicht. Bei jenem Treffen am Montag mit Auslandsjournalisten hat Putin “klargestellt”, so der Guardian, “daß er das Streben nach tschetschenischer Unabhängigkeit für die Speerspitze einer Strategie tschetschenischer Islamisten hält - unterstützt von ausländischen Fundamentalisten - ganz Südrußland zu unterminieren und selbst noch in den muslimischen Gemeinden anderer Landesteile Unruhe zu stiften. “Muslime gibt es entlang der Wolga, in Tartastan und Baschkortostan… Es geht einzig um die territoriale Integrität Rußlands”, sagte er (Putin).”

Früher machte sich nur Israel Sorgen, ins Meer getrieben zu werden. Stimmt, in der islamischen Welt ist ein Anstieg des religiösen Fundamentalismus zu verzeichnen - dramatisch und gefährlich. Das Problem ist nur, daß die Likud-Doktrin keinen Raum für Warum-Fragen läßt. Es ist uns nicht erlaubt, darauf zu verweisen, daß der Fundamentalismus seine Brutstätte in gescheiterten Staaten hat, wo Kampfhandlungen die zivile Infrastruktur systematisch zerstören - was den Moscheen Gelegenheit gibt, sich für alles verantwortlich zu fühlen, von der Bildung bis zur Müllabfuhr, siehe Gaza, Grosny, Sadr City.

Mr. Scharon sagt, der Terrorismus sei eine Epidemie, “die keine Grenzen, keine Zäune, kennt”. Stimmt nicht. Terror gedeiht innerhalb der illegalen Grenzen, die Besatzung und Diktatur errichtet haben; er schwärt hinter “Sicherheitswällen”, die Imperialmächte bauen; diese Grenzen überschreitet der Terrorismus, über diese Art Zäune springt er - um in jenen Ländern zu explodieren, die für die Besatzung und Herrschaft verantwortlich sind bzw. Komplizen.

Ariel Scharon ist beim ‘Krieg gegen den Terror’ nicht Oberkommandierender; dieser zweifelhafte Ruhm gebührt George Bush. Aber am dritten Jahrestag des 11. September verdient Scharon doch Würdigung als spiritueller/intellektueller Guru dieser Katastrophen-Kampagne (ein schießwütiger Yoda für alle Möchtegern-Luke-Skywalkers da draußen, die für die epische Gut-Böse-Schlacht trainieren). Wer wissen will, wie es weitergehen wird und wohin uns die Likud-Doktrin künftig führt, soll den Guru doch in seine Heimat begleiten. Israel - ein angstgelähmtes Land mit einer unwürdigen Politik, ein Land, in zorniger Verleugnung der Brutalität, die es tagtäglich verübt, eine Nation, umlagert von Feinden und auf der verzweifelten Suche nach Freunden. Freunde - eine Kategorie, die Israel sehr eng definiert. Freunde sind jene, die keine Fragen stellen und denen Israel großzügig die gleiche moralische Amnestie angedeihen läßt. Dieser Blick in unsere kollektive Zukunft ist übrigens das Einzige, was die Welt von Ariel Scharon lernen sollte.

Naomi Klein ist Autorin von: ‘No Logo’ und ‘Über Zäune und Mauern’ (‘Fences and Windows’)

Quelle: ZNet Deutschland vom 15.09.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “The Likudization Of The World” .

Veröffentlicht am

15. September 2004

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