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“Ernüchternde Neuigkeiten”? Nicht wirklich

Von Paul Street - ZNet 05.09.2004

Letzten Donnerstag vermeldete das Statistische Bundesamt der USA für das Jahr 2003 einen dramatischen Anstieg der Armen und der Nichtkrankenversicherten. 2003, so erfahren wir, wurden zusätzliche 1,3 Millionen Bürger der “reichsten Nation der Erde” unter die Armutsgrenze gedrückt - eine Grenze übrigens, die von der Bundesregierung notorisch niedrig angesetzt ist. Die Zahl der offiziellen Armen erreicht somit 36 Millionen - 12,5% der US-Bevölkerung.

Die zunehmende Armut “hat vor allem Frauen und Kinder hart getroffen”, stand auf der Titelseite der Freitagsausgabe der Chicago Tribune. Die Kinderarmutsrate stieg auf 17,6%, die Armutsrate bei erwachsenen Frauen auf 12,4%. Die Zahl nichtkrankenversicherter US-Bürger stieg 2003 um 1,4 Millionen. Mit 45 Millionen macht dieser Teil der Bevölkerung mittlerweile 15,6% der Gesamtbevölkerung der USA aus - “des Leuchtfeuers der Welt”, um es mit den unsterblichen Worten der Republikanischen Senatorin Kay Bailey Hutchinson aus Texas zu sagen, “in Hinblick darauf, wie das Leben sein soll”.

Das dritte Jahr in Folge stieg die Zahl der Armen und Nichtkrankenversicherten dieses “Leuchtfeuers” - der bei weitem ungleichesten Nation in der “fortschrittlichen” Welt, einer Nation mit einem Wasserkopf an Reichtum. Die Titelstory auf den Seiten der Chicago Tribune stammt von dem erfahrenen Wirtschaftskorrespondenten William Neikirk. Die neuen statistischen Daten vom Donnerstag kommentiert er so: “ernüchternde Neuigkeiten für Präsident Bush, so kurz vor dem Republikaner-Parteitag”. Neikirks Einschätzung ist entweder naiv oder Wunschdenken und beruht auf zwei falschen Annahmen: 1) George W. Bush schert sich einen echten Deut um das Elend der wachsenden Zahl Armer in den USA. 2) Bushs Gegenkandidat ist ein echter Oppositioneller, der Bush zu Themen wie Armut, soziale Gerechtigkeit und Ungleichheit herausfordert.

Bush: “Einige Leute nennen euch Elite, ich nenne euch meine Basis”.

Die Absurdität von Punkt 1) ist leicht zu belegen - nämlich mit Bushs aggressiv regressiver Politik in der Vergangenheit, die im Wesentlichen seinem superprivilegierten Hintergrund entspricht. Diese Politik steht in Einklang mit folgendem Kommentar, den Bush vor reichen Republikanern auf einer Schwarze-Krawatten-Versammlung im Jahr 2000 abgab (siehe Michael Moores ‘Fahrenheit 9/11’): “Was für eine eindrucksvolle Versammlung - so viele Besitzende und Noch-mehr-Besitzende. Einige Leute nennen euch Elite, ich nenne euch meine Basis”. Allein diese Bemerkung trägt schon viel zum Begreifen bei, weshalb bzw. wie Bush II massive Steuerkürzungen für Superreiche fordern konnte bzw. durchsetzen, während er gleichzeitig gegen eine Anhebung des lächerlichen Mindestlohns von $5,15 in der Stunde war und die Losung ausgab, die Nation müsse im “Krieg gegen den Terror” gemeinsam “Opfer” bringen.

Steuerkürzungen für die Plutokratie sowie der imperial-terroristische Krieg haben immense soziale Kosten verursacht und gingen zu Lasten der Demokratie - für die vielen Millionen am breiter werdenden Sockel unserer sozio-ökonomischen Pyramide. Diese Pyramide ist steil abfallend im Lande des “Leuchtfeuers”.

Gnadenlos greift Bush das soziale Netz an, Gewerkschaftsrechte und was sonst an öffentlichem Schutz verblieben ist - Schutz, der historisch gesehen einige der schlimmsten Kapitalismusfolgen für die normale, arbeitende Bevölkerung und die Armen abmilderte. Bush tut zum Beispiel gerne so, als liege die Lösung für alleinerziehende Mütter darin, sich zu verheiraten. Zudem sollen sie bzw. ihr künftiger Gatte “Unternehmer” werden - Bush spricht von einer “Unternehmergesellschaft”.

“Ich bin kein Umverteilungs-Demokrat”

Kommen wir zurück zu 2). Daß auch diese Annahme nicht zutrifft, verdeutlicht der nur allzu vorhersehbare, zentrumsorientierte Ton der Wahlkampagne des aristokratischen John F. Kerry - und damit zusammenhängend, sein schwacher Auftritt. Indem er sich dem Konzern-“Freihandels”-Modell der Globalisierung an den Hals wirft, widerlegt Kerry seine eigene Absichtserklärung - sich für Gewerkschaftsrechte einzusetzen, “gute Jobs” zu schaffen und für sozialen Ausgleich zu sorgen. Von einer allgemeinen Krankenversicherung will Kerry nichts wissen, dabei bräuchte er für entsprechende Modelle gar nicht weit zu gehen (z.B. nach Kanada), er ist für niedrige Unternehmenssteuern, für eine geringe Besteuerung der Reichen und rühmt sich gar seiner Mitwirkung an der grausamen Streichung der Familienbeihilfe in bar.

Kerry hat das Privatisierungsgesetz für den Bildungsbereich - ‘No Child Left Behind’ (kein Kind wird zurückgelassen) - unterschrieben und (8 Jahre zuvor) das üble Sozialhilfe-“Reform”-Gesetz (= Zerschlagung der Sozialhilfe). Letzteres nennt er ein Beispiel für seine Bereitschaft, auch “unpopuläre Positionen” zu vertreten. Damit erst gar kein Zweifel aufkommt, wem seine Loyalität hauptsächlich gilt, betont er immer wieder, er sei “kein Umverteilungs-Demokrat” (siehe: Jodi Wilgoren, “Kerry Plans Effort to Show He’s a Centrist,” New York Times, April 16, 2004).

Kerry verkündet stolz, eine etwas ausgeglichenere Verteilung von Reichtum und Einkommen (und folglich Macht) “gehört nicht zu meinen Zielsetzungen” - ganz sicher nicht. In den Detroit News stand im Frühjahr Folgendes: “Senator John F. Kerry und seine Frau Teresa Heinz Kerry, die über ein Vermögen von rund $1 Milliarde verfügen, wären eine der reichsten Familien, die je ins Weiße Haus einzögen, sie stellten selbst Präsident Kennedy in den Schatten und sicher etliche reiche Vertreter der Exekutive (Regierungschefs) des letzten Jahrhunderts” (Ralph Vertabedian, “Kerry Wealth Would Eclipse Other Presidents” , Detroit News, June 28, 2004).

Mark Alexander von der rechtsgerichteten ‘The Federalist Patriot’ hat nicht unrecht, wenn er schreibt: “Kerry war ein reiches, privilegiertes Kind… (er)wuchs auf und zog mit der Massachusetts-Schickeria herum (er genoß) ein Leben in Muße, mit allem, was dazugehört - die besten Schulen, die besten Ferienheime, die besten Jachten, etc… Heute ist er das reichste Mitglied des Kongresses (schließlich steht ‘F’ nicht umsonst für ‘Forbes’), aber glaubt ja nur nicht, daß er das in seiner Kampagne als ‘Mann des Volkes’ in den Vordergrund stellt.” (Mark Alexander, “The Kerry Record” , The Federalist Patriot).

“Glaubt den Republikanern nicht, wenn sie mich als Linken portraitieren - ich bin ein Mann der Mitte” - so in etwa Kerrys Wortlaut anläßlich einer privaten Rede vor superreichen New Yorker Demokraten, die er im Frühjahr “bei einem Frühstück in Manhattans Club ‘21’, bei dem ein Teller $25 000 kostete”, hielt. “Wir müssen die Hände ausstrecken”, sagt Kerry vor ausgewähltem Publikum, etwa 100 Leuten, die am $2,5-Millionen-Frühstück teilnahmen. “Die Hände ausstrecken” meint hier natürlich in Richtung Republikaner, in der Hoffnung, diese fühlten sich angezogen, weil Kerry in “beiden Parteien als ausgewiesener Steuerkonservativer gilt” (New York Times) - angezogen auch von seiner Behauptung, er könne den “Krieg gegen den Terror” “ebenso effektiv und, falls möglich, effektiver” “handhaben” (seine eigenen Worte) als Bush II.

Unter der Oberfläche seiner blumigen Rhetorik über soziale Gerechtigkeit, das hart arbeitende Amerika, über Bürgerrechte, Schutz der “Heimat” und eine gesunde Außenpolitik, hieß das eigentlich wichtige Thema seiner Nominierungsdankesrede: George W. Bush weiß nicht, wie man ein militärisches Imperium handhabt und soziale Hierarchien aufrechterhält, das kann nur John Kerry. So lautete die eigentliche Botschaft, nett flankiert von einem militärischen Salut gleich zu Beginn der Veranstaltung: ‘John Kerry meldet sich zum Dienst’. Dazu eine “Gruppe” imperialer weißer “Brüder” vom Kanonenboot, strategisch günstig auf der Bühne platziert.

Wer sich ein wenig mit Kampagnen auskennt, weiß natürlich, das Kanonenboot ist ein Propagandatrick - der Versuch, John F. Kennedys PT-109-Torpedoboot-Heldenpose nachzuahmen. So und anders stellt John Kerry - “Bush lite” - klar, daß er mit Haut und Haaren aufseiten der konzern-imperialen Plutokratie steht, die die USA und die Welt regiert. Und der Lohn für diese Entscheidung lohnt sich für Kerry: Wahlkampfgelder in dramatischer Höhe fließen vonseiten der Konzerne (“The Amazing Money Machine: Defying Doomsayers, the Dems - by Some Measures - Are Out- Raising the Republicans,” Business Week, August 2, 2004, pp. 42-43).

Doch wäre es ein schwerer Fehler, die Kampagne der Republikaner und der Demokraten praktisch gleichzusetzen, so, als gäbe es keine wirklichen Unterschiede. Nichtsdestotrotz, Ralph Nader ist ein Fluch, den Kerry sich redlich verdient hat.

‘Wir wollen eine neue Richtung aber nicht Kerry’. Die deprimierende und typisch nach der Mitte hin orientierte neueste Präsidentschafts-Kampagne der Demokraten hilft auch folgende Tatsache zu erklären, die ich auf den hinteren Seiten der ‘Tribune’ vom Freitag fand: In drei der entscheidenden, heiß umkämpften Bundesstaaten des Mittleren Westens führt Bush II, so die ‘Tribune’, momentan vor Kerry. Diese ‘Swing-Staaten’ (unentschlossene Bundesstaaten) sind: Missouri (wo Bush um 2 Prozentpunkte führt), Ohio (mit 5 Prozentpunkten) und Wisconsin (mit 4 Prozentpunkte). Man erinnere sich: Im Jahr 2000 gewannen die Demokraten in Ohio und Wisconsin, also in 2 dieser 3 Bundesstaaten.

Noch Gänsehaut erregender für alle, die (aus gutem Grund) Angst vor einer zweiten Amtszeit der Bush-Regierung haben (diesmal womöglich tatsächlich gestützt auf eine Mehrheit der Wählerstimmen), ist die Tatsache, daß Kerry “hinter Bush herhinkt, obwohl in allen drei Staaten eine Mehrheit der Wähler sagt, ‘dem Land geht es durch die Politik Bushs nicht besser, und wir brauchen eine neue Richtung’” - auch das eine Schande für die Kerry-“Kampagne”.

‘Kein Gesocks mobilisieren’. Aber warum versucht Kerry nicht, die Wahlen zu gewinnen, indem er Lobbyarbeit betreibt und die 50% Bevölkerung mobilisiert, die US-Wahlen normalerweise aussitzen? Zu diesen 50% Nichtwähler gehören unverhältnismäßig viele Arme und Leute aus der Arbeiterschicht. Stattdessen stürzt er sich lieber auf die 10% “unentschlossenen Wähler im ganzen Land, denen es vergleichsweise gut geht. Michael Albert erklärte das kürzlich so: Kerry “ignoriert den großen Pool an Nichtwählern, von denen er möglicherweise erdrutschartige Unterstützung erwarten könnte, weitgehend”, denn eine “Aktivierung (dieses Pools) wäre eine Gefahr für seine übergeordnete Zielsetzung”. Diese lautet: “Aufrechterhaltung bzw. Ausweitung der gesellschaftlich definierten Hierarchien hinsichtlich Geschlecht, Kultur, Politik und Ökonomie” (Albert, “Election Hyperbole” ).

George Bush müßte sich indes mehr Sorgen um seine Wiederwahl machen, hätten sich die dominanten “Mainstream”- Medien (will heißen: konzern-staatliche Medien) nicht längst aus ihrer öffentlichen Verantwortung verabschiedet. Im Hinblick auf die Konzentration von Macht und Reichtum wollen sie nicht den aufmerksamen Wachhund spielen. Und Bush hätte mehr Grund zur “Ernüchterung”, gingen die Armen Amerikas tatsächlich entsprechend ihres Bevölkerungsanteils zur Wahlurne - wie die Leute aus der Mittel- und Oberschicht.

Die jüngsten Massendemonstrationen in New York haben gezeigt, ein ganz erheblicher Teil der amerikanischen Bevölkerung möchte Bush leidenschaftlich gern zum Teufel jagen und seine üble Agenda in der Mottenkiste verschwinden lassen. Andererseits ist klar, Kerry ist keine wirklich substanzielle Alternative zu Bush - nicht innenpolitisch und (schon gar) nicht außenpolitisch. Prinz George kann sich zum Teil bei der Kerry-Kampagne bzw. bei den gar nicht so “liberalen Medien” bedanken, daß er bei seiner Kampagne weiter darauf setzen kann, daß diejenigen, die am meisten Opfer seiner bösartigen, reaktionären und regressiven Politik sind, sich nicht zur Wahl aufgerufen fühlen.

Paul Street ist Autor und Forscher aus Chicago: pstreet99@sbcglobal.net .

Quelle: ZNet Deutschland vom 12.09.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “Not-So” .

Veröffentlicht am

12. September 2004

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