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Gewaltfreiheit als Staatsziel

Vom 3.-5. September 2004 trafen sich ehemalige DDR-Bausoldaten zu einem Kongress in Potsdam. Das Thema lautete: “Zivilcourage und Kompromiss. Bausoldaten in der DDR 1964-1990”. Prof. Dr. Theodor Ebert stellte in einem Beitrag beim Schlussplenum “Visionen für die Zukunft: Zivilcourage gegen Gewalt - Hoffnung für Gerechtigkeit” einige seiner Einsichten zur Gewaltfreiheit dar. Dabei plädiert er u.a. für eine Abschaffung des Militärs und für eine Deklaration neuer Staatsziele, wie z.B. die Befähigung der Bürger zum gewaltfreien Miteinander und zur Abwehr von irgendwelchen Unterdrückungsversuchen, d.h. Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung plus entsprechende Praktika.

Gewaltfreiheit als Staatsziel

Von Theodor Ebert

Die Erfindung der Doomsday Machine

Wenn man 67 Jahre alt ist, wird man keine Visionen für die Zukunft entwickeln, ohne sich zu fragen: Was ist aus den Visionen geworden, die du als junger Mensch hattest? Dabei verstehe ich unter Visionen meine konkreten Zukunftserwartungen - keine inneren Gesichte oder gar Bilder im Sinne der Offenbarung des Johannes.

Meine Generation hat den Zweiten Weltkrieg noch einigermaßen bewusst erlebt. Ich war als Jugendlicher sicher, dass die Welt, zumindest aber wir Deutschen unsere Lektion gelernt hätten und dass wir nie mehr Waffen anrühren würden. Dass dies im geteilten Deutschland dennoch geschah, dass es zur Wiederbewaffnung der BRD und der DDR kam, war eine schockierende Erfahrung. Es war aber für einige von uns, die den Kriegsdienst verweigert haben und sich als Friedensarbeiter und Friedensforscher verstanden, auch die große Herausforderung, uns mit dieser Wiederbewaffnung nicht abzufinden, sondern nach einer Alternative zum Militär zu suchen.

Als Student der Geschichtswissenschaft und Politologie wurde mir erschreckend deutlich, dass die Menschheit mit dem Instrument Atomwaffe in der Lage ist, sich selbst zu vernichten. Die Menschheit hatte mit der Wasserstoffbombe und den Internkontinentalraketen eine doomsday machine, eine Weltuntergangs- zumindest eine Menschheitsvernichtungsmaschine erfunden und auf den Einsatz vorbereitet. Mein Grundeinsicht war Ende der 50er Jahre: Der Mensch ist in der Lage, die Schöpfung - zumindest was Adam und Eva anbelangt - rückgängig zu machen. Das war die Horrorvision, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts mir vor Augen stand. Und diese Horrorvision ist nicht erledigt.

Die Proliferation atomarer Waffen hat Fortschritte gemacht. In den USA und in Russland wurde nach 1990 einiges abgebaut, aber die overkill Kapazitiät ist immer noch vorhanden. Sogar in Deutschland lagern in Büchel in der Eifel noch Atomwaffen. Und kein deutscher Politiker und kein deutsches Gericht könnte erklären, wozu die USA sie verwenden könnten. Wenn tapfere Leute - wie zum Beispiel der an Gandhi orientierte Stuttgarter Pazifist Wolfgang Sternstein - sich mit einer Aktion zivilen Ungehorsam dagegen wehren, weil sie mit guten Gründen die Bereitstellung dieser Atomwaffen für völkerrechtswidrig halten, dann werden sie eingesperrt. Nicht nur in der DDR saßen Pazifisten im Gefängnis, hat mehr als ein Jahr seines Lebens hinter den Mauern der Strafjustizvollzugsanstalt Rottenburg verbracht. Der dramatische Hinweis auf diese Massenvernichtungsmittel war ihm das wert.

Ich weiß nicht, wie sicher die immer noch vorhandenen Atomwaffen gelagert sind, aber mir ist der Gedanke unheimlich, dass fehlbare Menschen letzten Endes entscheiden können, ob diese Waffen zum Einsatz kommen. Die protestantische Theologie spricht gern oder ungern, jedenfalls häufig von der “gefallenen Welt” und von der Unvollkommenheit des Menschen. Ich habe zwar in der Bergpredigt gelesen, dass uns dort etwas mehr zugetraut wird, aber wenn das mit der Unvollkommenheit des Menschen stimmt und viele Erfahrungen sprechen dafür, dann kann ich nicht begreifen, warum ich solch einem solchen “gefallenen”, zeitgenössischen Adam namens George W. Bush oder auch seinem Nachfolger mit Vietnam-Erfahrung die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen anvertrauen sollte. Das ist mir zu gefährlich.

“Krieg gegen den Terror” - aussichtslos!

Im Übrigen ist es nur eine Frage der Zeit, bis verzweifelte Terroristen versuchen werden, Anschläge auf Atomkraftwerke durchzuführen, weil starke Männer vom Schlage Bushs, Putins und Sharons meinen, Terror ließe sich mit Gewalt oder Mauerbau besiegen. Ich halte es für falsch, sich auf einen “Krieg gegen den Terror” einzustellen. Diese so genannten Terroristen verstehen sich als Krieg führende Partei. Wir sollten ihnen den Gefallen nicht tun, sie durch militärische Gegenmaßnahmen indirekt als Krieg führende Partei anzuerkennen. Diese Auseinandersetzung kann nur auf der psychischen Ebene gewonnen. Die Zivilgesellschaft muss nach den Ursachen des Terrorismus fragen und die Widerstandsmaßnahmen so anlegen, dass die Terroristen nicht zu Märtyrern werden können. Sonst wird der Terror immer weiter eskalieren.

Ich spreche am Anfang meiner Zukunftsüberlegungen über die Atomwaffen, weil der Begriff “Zivilcourage” im Titel unserer Veranstaltung das Problem zwar nicht verniedlichen will, aber es eventuell doch tut. Zivilcourage ist im Deutschland der Nachwendezeit ein wohlfeiler Begriff. Er verbindet sich mit der Vorstellung, dass in erster Linie die Tapferkeit des Einzelnen oder kleiner Bürgergruppen im Alltag gefragt sei. Da gilt es Rechtsextremisten in die Schranken zu weisen. Dafür gibt es dann auch noch Lob von Innenministern.

Wenn sich Kirchengemeinden gegen das Abschieben von Flüchtlingen wehren, wenn Bürgerinitiativen gegen großindustrielle Projekte protestieren oder ein Bombodrom zum Naherholungsgebiet machen wollen, dann ist die Begeisterung der Bundesregierung - sagen wir mal - eher unterentwickelt. Auf der makropolitischen Ebene wollen die Regierenden von gewaltfreien Alternativen nichts wissen. Da verlassen sie sich lieber auf Militär und Polizei. Doch auch die Pazifisten verdrängen ihrerseits auch manche Probleme oder erklären sich für unzuständig. Die Pazifisten haben sich meines Wissens bisher nicht intensiv mit der Frage befasst, wie man mit dem Terrorismus im Allgemeinen und mit Geiselnehmern im Besonderen umgehen soll. Ein ziviler Friedensdienst von wenigen hundert Friedensfachkräften, die in aller Welt zerstreut sind, kann unmöglich eine Alternative zu Militär und schwer bewaffneter Polizei darstellen, kann auch gar nicht mit Aussicht auf Erfolg seine guten Dienste anbieten. Wir beobachten jetzt in Beslan einen Fall der massenhaften Geiselnahmen von Kindern und es ist offensichtlich, dass eine militärische Befreiung nicht möglich ist, ohne das Leben der Geiseln in höchstem Maße zu gefährden. Doch wie sieht eine gewaltfreie, operative Lösung aus?

Gegen Zivilcourage ist natürlich nichts zu sagen. Die brauchen wir tatsächlich auch im bundesdeutschen Alltag. “Die Ankunft im Alltag” hat bei der gewaltfreien Aktion in den letzten drei Jahrzehnten stattgefunden. Doch wir müssen die Dimensionen der historischen Herausforderungen im Auge behalten. Es geht jetzt um die Relevanz der gewaltfreien Aktion für die Makropolitik. Dazu gehören nach wie vor die atomaren Waffen und die anderen Massenvernichtungsmittel, die sich atomare Habenichtse beschaffen können. In steigendem Maße scheint der Terrorismus der Selbsmordattentäter und Geiselnehmer zu einer historischen Herausforderung zu werden. Der Terrorismus ist die Antwort auf die Hightech-Überlagenheit der amerikanischen Supermacht. Und wenn die Europäer hier den Amerikanern und den Israelis nacheifern, wird es ihnen nicht besser ergehen.

Von der Veranlagung des Menschen zur Freiheit

Ursprünglich wurde die Bereitstellung dieser Menschheitsvernichtungswaffen von westlichen Philosophen wie zum Beispiel von Karl Jaspers damit gerechtfertigt, dass ohne die Bereitschaft zur atomaren Verteidigung die eminente Gefahr einer globalen Machtergreifung totalitärer Regime bestünde. Karls Jaspers befürchtete, dass ohne die Fähigkeit zur atomaren Abschreckung die Freiheit, ja schlimmer noch die Idee der Freiheit, endgültig verloren gehen könnte und es zu einem globalen Totalitarismus - Stalinscher Version - kommen könnte. Das war die Horrorvision, mit der die atomaren Weltuntergangswaffen philosophisch gerechtfertigt wurden.

Diese Vision hat ihren romanhaften Ausdruck gefunden in George Orwells genialem Zukunftsroman “1984”. Der darin umrissene Totalitarismus war eine Mischung aus Faschismus und Stalinismus. In mancher Hinsicht sind diese Feindbilder austauschbar. Das neue Feindbild ist jetzt der Islamismus und statt SS und KGB gibt es jetzt Al Quaida und Hamas.

Orwells 1984 und die umfassende Kontrolle des menschlichen Lebens durch den Großen Bruder war eine sehr eingängige Horrorvision. Ich bin ihr als junger Mensch nicht dadurch begegnet, dass ich die Gefahren des Totalitarismus verharmlost hätte. Es gab Leute, die mir Antikommunismus vorwarfen. Ich habe die totalitären Systeme studiert und gefragt, ob ihnen denn tatsächlich nur mit militärischen Mitteln widerstanden werden könnte. Ich habe gefragt: Ist eine solche totalitäre Kontrolle, eine solch monolithische Staatsbildung überhaupt möglich oder ist es eine Fiktion, die sich bei näherer Untersuchung als unwirklich erweist.

Sie erwarten jetzt wahrscheinlich, dass ich an dieser Stelle über den gewaltfreien Widerstand gegen Diktaturen spreche, weil dies mein Spezialgebiet ist. Doch das Nachdenken über Widerstandsformen ist erst eine Konsequenz einer viel grundlegenderen Erkenntnis: Die Vorstellung von George Orwell und Karls Jaspers, dass die Menschen sich total kontrollieren und sich in ihrem Denken gleichschalten ließen, indem man zum Beispiel ihre Sprache kontrolliert, die Bedeutung der Worte ändert und die Geschichte im Sinne der offiziellen Ideologie umschreibt und die Dichter und die bildenden Künstler auf Linie bringt. Das alles ist - Gott sei Dank - unrealistisch und dazu können wir Deutschen nach einschlägigen Diktatur-Erfahrungen manches sagen.

Natürlich kann man Menschen zu manipulieren suchen und man kann damit auch gewisse Erfolge erzielen, aber diese Kontrolle und Manipulation wird nie vollständig gelingen. Der Mensch ist ein sprachschöpferisches, kreatives Wesen und das ahnen die Herrscher auch. Darum versuchen sie es immer wieder mit Bücherverbrennungen und mit Kontrollen der Schriftsteller und natürlich mit der Beeinflussung der jungen Menschen von Kindesbeinen an. Die Sowjetunion und ihre Satellitenstaaten waren ein Langzeitexperiment auf diesem Gebiet und China und Kuba sind es noch. Es funktioniert nicht. Das Denken des Menschen lässt sich nicht perfekt kontrollieren und manipulieren. Die Herrschenden können unendlich viele Informationen über das Denken - auch über potentiell widerständiges Denken - sammeln und einen gewaltigen Repressionsapparat aufbauen.

Wenn sie diese gesammelten Informationen auswerten und ihren Repressionsapparat steuern wollen, können sie dies nur mit Hilfe von kritischen Begriffen und einer einigermaßen realistischen Analyse. Informationen als bloße Daten, auch in Form von riesigen Mengen von Stasi-Berichten, sind als Herrschaftsinstrument wertlos. Man muss sie auf einen realistischen, also der Wirklichkeit entsprechenden Begriff bringen. Diese Fähigkeit zu einer realistischen Einschätzung der Lage ist den Regierenden in der DDR mehr und mehr verloren gegangen. Der Große Bruder muss um sich herum kritisch denkende Menschen haben, sonst ist er nach einiger Zeit so doof wie Erich Honecker und Erich Mielke. Das heißt: Es gibt keine totalitäre Kontrolle oder anders formuliert: idealtypische totalitäre Systeme sind nicht lernfähig und damit instabil. Die Vorstellung von Orwell und Jaspers, dass die Idee der Freiheit aufgrund totalitärer Kontrolle verloren gehen könnte, ist falsch. Das heißt die Zeit und der kreative menschliche Geist - Sie können dies auch als den göttlichen Funken im Menschen ansehen - arbeiten gegen diktatorische Herrschaft.

Das Abwägen der Risiken

Wenn man dies begriffen hat, dann weiß man, dass die vollständige, einseitige Abrüstung ein überschaubares Risiko darstellt. Es ist nicht unbeträchtlich und darum lohnt es sich, den gewaltfreien Widerstand gegen Diktaturen einzuüben, aber das Risiko ist geringer als das Risiko, das mit der Vorbereitung auf die militärische Auseinandersetzung verbunden ist, insbesondere wenn in diese auch atomare Mittel einbezogen werden könnten.

Der gewaltfreie Widerstand ist eine fehlerfreundlichere Methode als die militärische Aktion. Man kann auch beim gewaltfreien Widerstand Fehler machen und man kann zeitweilig unterdrückt werden. Doch die Freiheit geht nie endgültig verloren. Sie lässt sich früher oder später zurückgewinnen. Damit ist noch nicht bewiesen, dass gewaltsame Mittel zur Abwehr von Diktaturen oder zum Eingreifen bei Völkermord von vorn herein ausgeschieden werden müssen. Das ist auch unter Pazifisten umstritten. Ich selbst lehne die Gewalt auch als äußerstes Mittel ab, weil ich in dem ultima-ratio-Denken das Einfallstor für die Rechtfertigung des gesamten militärischen Apparates und seiner weiteren Entwicklung sehe. Das Risiko, dass militärisch ausgetragene Konflikte eskalieren, ist beträchtlich und lässt sich letzten Endes nicht kalkulieren. Die Vorstellung in der Supermacht USA, dass sie auch in Zukunft ohne bedeutende Gefahr für das eigene Land, Kriege führen könnten, halte ich für eine gefährliche Illusion. Es ist weniger riskant, sich von militärischen Mitteln zu entblößen und auf zivile Strategien zu setzen, als die militärischen Mittel beizubehalten. Ich lege Wert darauf, dass ich hier keine Glaubensaussage mache, sondern dass ich Risiken gegeneinander abwäge.

Eines ist nach der kritischen Auseinandersetzung mit einem so respektablen Philosophien wie Karl Jaspers klar: Der Einsatz von Massenvernichtungsmittel lässt sich zur Bewahrung oder zu Erringung der Freiheit nicht rechtfertigen. Da immer die Gefahr besteht, dass die militärischen Mittel eskalieren, muss die Vision sein, Konflikte so auszutragen, dass die menschliche Widerstandsfähigkeit und Kreativität sich optimal entfalten können.

Wenn sich Diktaturen etabliert haben, darf man nicht annehmen, dass sie sich rasch beseitigen ließen. Es gilt den Einflussbereich dieser Diktatur zu begrenzen und die Bedingungen für interne Veränderungen im Bereich der Diktatur zu verbessern.

Gandhis soziale Erfindung: die gewaltfreie Aktion

Und hier gab es nun im 20. Jahrhundert eine Bahn brechende soziale Erfindung, die nicht weniger Epoche machend zu sein verspricht als die Kernspaltung. Ich meine Gandhis Erfindung des massenhaften Einsatzes von gewaltfreien Widerstandsmethoden. Es gab auch vor Gandhi bereits Erfahrungen mit gewaltlosem Widerstand, aber dies waren meist spontane Aktionen. Bei diesen spontanen Aktionen wurde nicht ins Auge gefasst, dass ein Staatswesen seine Politik auf die Fähigkeit der Bevölkerung zur gewaltfreien, direkten Aktion gründen und das Militär vollständig abschaffen könnte. Das aber war Gandhis Vision: Auf dem gewaltfreien Unabhängigkeitskampf sollte ein Indien ohne Militär und schwer bewaffnete Polizei entstehen, überzogen von einem Netzwerk von gewaltfreien Aktionsgruppen, die sich vor Ort um Sicherheit und konstruktiven Aufbau kümmern würden.

Diese Vision Gandhis vom gewaltfreien Aufstand gegen die Unterdrücker und von der anschließenden gewaltfreien, zivilen und sozialen Verteidigung der revolutionären Errungenschaften - das war auch die Vision der westdeutschen Kriegsdienstverweigerer. Diese Vision war nicht abfragbar bei allen vorhanden, aber sie gewann im Laufe der Jahre an Boden. Das Konzept gewaltfreier Aufstand plus Soziale Verteidigung war das konstruktive Programm der westdeutschen Pazifisten und es hat sich auch bei den Kriegsdienstverweigerern in der DDR herumgesprochen, auch wenn die Stasi den Bekanntheitsgrad dieser Konzepte in ihren Berichten etwas übertrieben hat und meiner Person einen viel zu großen Einfluss zugeschrieben hat. Doch die Ideen von Gandhi und Martin Luther King waren in der DDR einigermaßen bekannt und Georg Meusel hat mit seinen philatelistischen Exponaten in pfiffiger, die Systemgrenzen beachtender Weise dazu beigetragen.

Wie groß die politische Relevanz dieser Visionen Gandhis und Kings war, ließ sich bei ihrer spontanen, häufig wenig bewussten Umsetzung beobachten. Der gewaltlose Widerstand in der CSSR im August 1968 war ein Ereignis, das wie die Pariser Commune einen Karl Marx verdient hätte, der aufzeigt, dass hier eine neue Form der Verteidigung ihre historische Premiere hatte. Auch nach der Unterdrückung des gewaltlosen Widerstands in der CSSR ließ sich beobachten, wie es in immer neuen Anläufen zu gewaltfreien Aufständen kam, zuvorderst in Polen. Und dann ist auch in der DDR eine Revolution gelungen - ohne dass ein Mensch getötet wurde. Eine Revolution ohne Gewalt! Das war die wunderbare Erfüllung der Vision vom “gewaltfreien Aufstand”. Das ist wirklich etwas, worauf man als Deutscher stolz sein kann. Bei der Rückkehr von Alexander Dubcek saß ich weinend vor Freude vor meinem Fernseher.

Lernen aus gewaltfreien Aufständen

Doch was ist daraus gemacht worden? Die Zahl der Waffen und Soldaten wurde beträchtlich reduziert. Das sollte man nicht gering schätzen. Doch auf der staatlichen Ebene wurde nichts qualitativ Neues versucht. Es wurde nicht gesagt: Lasst uns aus den Erfolgen des gewaltfreien Widerstandes lernen! Lasst uns dafür sorgen, dass möglichst viele Menschen darin eine Grundausbildung erhalten und Praktika mitmachen, so dass in schwierigen Fällen in der ganzen Gesellschaft eine gewisse Verhaltenssicherheit da ist! Warum hat man dies unterlassen? Ich habe den Verdacht: Den Regierenden jeder Couleur ist ein Volk, das gewaltfreie Aufstände machen kann, unheimlich. Dabei müssten die Regierenden eigentlich wissen, dass Gandhi den Protestlern auch immer vorgehalten hat, dass sie ein konstruktives Programm entwickeln müssten. Trotzdem gilt zunächst immer die alte Weisheit: Um zu merken, dass eine Suppe versalzen ist, muss man kein Koch sein. Man kann gegen Hartz IV auf die Straße gehen, auch wenn man noch keine Lösung des Problems hat.

Bevor aber ein konstruktives Programm entstehen kann, muss man sich erst einmal eingestehen, dass es im Rahmen der bisherigen Mittel der Arbeitsmarktpolitik keinen Weg gibt, die massenhafte Arbeitslosigkeit in Deutschland und besonders in der früheren DDR zu überwinden. Es handelt sich hier um eine zum globalisierten Kapitalismus gehörige, strukturelle Arbeitslosigkeit, die mit den herkömmlichen marktwirtschaftlichen Mitteln nicht zu überwinden ist. Wer das Gegenteil behauptet, lügt das Volk an, auch wenn er es auf dem wundersamen Wege der Autosuggestion selbst glaubt. Wenn man die Konkurrenzfähigkeit Deutschlands im internationalen Wettbewerb steigert, dann kann man diese strukturelle Arbeitslosigkeit vielleicht begrenzen und eine weitere Verschlechterung der Lage verhindern, aber es ändert nichts daran, dass die Maschinen menschliche Arbeitskraft ersetzen und dass der Konsum, an den wir uns mittlerweile im gesamten Deutschland gewöhnt haben, auf die Dauer nicht finanzierbar ist und dass die Anhebung des Lebensstandards der Weltbevölkerung auf deutsches Niveau gar nicht möglich ist, ohne dass die Erde als Ökosystem zusammenbricht.

Eine gerechte Verteilung der Güter dieser Erde auf deutschem Niveau ist gar nicht möglich. Wir können die Erde auch ohne Atombomben zugrunde richten. Da reicht es schon, wenn die Inder und Chinesen so viel Energie verbrauchen wie wir Deutschen. Es gibt keine Gerechtigkeit auf deutschem Niveau.

Ich denke aber, dass wir Deutschen - auf den Bevölkerungsdurchschnitt gesehen - auch nicht alles brauchen, woran wir uns gewöhnt haben. Warum ist ein Urlaub nur ein Urlaub, wenn er mit einer Autofahrt oder einer Flugreise verbunden ist? Und warum ist bei deutschen Frauen ein Mann, der Golf spielt und einen Porsche fährt begehrenswerter als ein anderer, der nur ein bescheidenes Einkommen hat, aber im Wald Vogelstimmen zu erkennen oder über einen Roman von Christa Wolf oder Peter Handke ein paar vernünftige Sätze zu formulieren vermag - oder gar einen Liebesbrief schreiben kann? Das sagte mal eine Studentin im Seminar: Sie hätte noch nie einen bekommen. Das empfinde sie als Mangel.

Der Segen der modernen Technik und des Fortschritts der Medizin ist doch, dass wir für das Notwendige, also die Lebensmittel, die Kleidung und das Wohnen weniger lang arbeiten müssen und dass wir zwei Jahrzehnte länger leben als unsere Vorfahren. Die Frage ist doch grundsätzlich, was wir mit der gewonnenen Zeit anfangen.

Pioniere des Zivilen Friedensdienstes

Meine Vision ist, dass wir die gewonnene Lebenszeit und die Reduzierung mühevoller Arbeit neu nutzen - und zwar nicht für Verschwendungskonsum sondern für das bessere Verstehen unserer Mitmenschen und ihrer Konflikte und für wechselseitige Hilfe. Und dazu bedarf es der Förderung von entsprechenden Lernprozessen. Wir müssen neue Staatsziele deklarieren. Also zum Beispiel die Befähigung der Bürger zur Ressourcen schonenden Eigenarbeit und zum gewaltfreien Miteinander und zur Abwehr von irgendwelchen Unterdrückungsversuchen, d.h. Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung plus entsprechende Praktika. Die entsprechende Lebenszeit und Lernzeit ist vorhanden und das Erlernen ist auch nicht übermäßig teuer und man spart die Mittel für den Wegwerfkonsum, für das Militär und die anderen Reibungskosten, die mit der Unfähigkeit, Konflikte zu bearbeiten und Kompromisse zu schließen, verbunden sind. Die Kosten von Nachbarschaftskonflikten, Ehescheidungen und die Kosten von Surrogaten für unbefriedigende Lebenssituationen - Alkohol, Drogen etc. sind beträchtlich.

Gestern haben wir etwas gehört über die minimale IM-Dichte unter Bausoldaten. Ein Raucher verliert im Durchschnitt für den Nikotin- und Russgenuss etwa zehn Jahre seines Lebens. Ich würde mich mal interessieren für den Alkohol- und den Zigarettenkonsum und die Scheidungsrate von Bausoldaten im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt. Ich kann mir vorstellen, dass dies alles bei diesem Typus von überdurchschnittlich konfliktfähigen Menschen auch vorkommt, doch in bedeutend geringerem Maße. Natürlich sind die Bausoldaten nicht die besseren Menschen, aber ich denke schon, dass es neben industriell verwertbarem Wissen und Können auch noch ein soziales Lernen gibt, das eine gesamtgesellschaftliche Rendite abwirft, eben in der Form von geringeren sozialen Reibungs- und Krankheitsverlusten. Wenn eine Gesellschaft es lernt, ohne Verschwendungskonsum zu leben und ohne schwer bewaffnete Polizei, ohne dauerndes Bemühen der Justiz und ohne Militär ihre Konflikte zu bearbeiten, dann ist das doch gesamtgesellschaftlich ein Gewinn, auch wenn dies nicht in der Steigerung des Bruttosozialprodukts seinen Ausdruck findet. Wir müssen die auf Hochtouren laufende Verschwendungsmaschinerie herunterschalten, wenn wir den sozialen Karren nicht gegen die Wand fahren wollen.

Den Ängstlichen sei gesagt: Wir werden die “Festung Europa” auf die Dauer nur verteidigen und vor Terroristen und Zuwanderern schützen können, wenn wir global zeigen, dass wir uns vom Verschwendungskonsum verabschieden und zu solidarischen Leistungen bereit sind. Mit gewaltfreien Mitteln kann man im Ausland kaum intervenieren. Man kann, wenn man von Einheimischen darum gebeten wird, helfen. Doch das Wichtigste ist, dass man im eigenen Land ein nachahmenswertes Beispiel abgibt. Die Methoden des gewaltfreien Aufstands sind doch in den Warschauer Pakt Staaten entweder selbst entwickelt worden oder sie wurden gewissermaßen im Fernkurs gelernt. Da mussten keine Inder in die DDR kommen, es reichte ein Gandhi-Film, und über die amerikanische Bürgerrechtsbewegung konnte man sich auch in der DDR aus eigener Produktion informieren. Wenn wir uns in Deutschland vorbildlich verhalten, dann wirkt dies fast von alleine. Da brauchen wir keine riesigen, teueren Transportflugzeuge.

Nur wie kommt dies in Gang? Meine Vision ist, dass ähnlich wie bei den Bausoldaten in der DDR, sich jetzt in Deutschland ein paar hundert junge und ältere Menschen zusammentun und als Wehrpflichtige oder Langzeitarbeitslose oder rüstige Rentner eine solche Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung und entsprechende Einsätze fordern. Die Konzepte dafür sind vorhanden. Warum schließen sich nicht Wehrpflichtige zusammen und sagen: Wir gehen nicht zur Bundeswehr und wir leisten keinen zivilen Ersatzdienst, wir fordern die Grundausbildung in gewaltfreier Aktion. Gewiss, es gibt in unserer Gesellschaft viele Möglichkeiten, einer solchen Herausforderung auszuweichen. Die Demokratie ist sehr flexibel im Ignorieren. Ich vermute, dass diese Forderung nur durchzusetzen ist, wenn ihre Vorkämpfer - nach gründlicher Vorbereitung - etwas sehr Spektakuläres unternehmen, also einen symbolischen Ort, eventuell eine Kirche, besetzen und ein Fasten beginnen.

Ich weiß: Man kann die Hunde nicht zum Jagen tragen, aber als Sozialwissenschaftler weiß ich auch, dass es uns noch nie gelungen ist, Soziale Bewegungen vorherzusagen. Diese kamen immer überraschend. Die APO und die Anti-AKW-Bewegung und die Friedensbewegung gegen die Stationierung der Pershing II. Hinterher haben wir dann als schlaue Analytiker festgestellt, dass sie genau zu einem bestimmbaren Zeitpunkt aufgrund bestimmter Gegebenheiten sich durchsetzen konnten. Also, ich weiß nicht, wann es eine entsprechende neue soziale Bewegung in Deutschland geben wird, aber man kann sich doch auf sie vorbereiten. Ich habe so das Gefühl: Da ist was im Busch. Und es wäre schön, wenn dieser Kongress sich als ein Versuch erweisen könnte, auf den Busch zu klopfen oder einer Bewegung, die schon in Gang gekommen ist, ein konstruktives Programm zu geben.

Wir bedanken uns bei Theodor Ebert, dass er uns das Redemanuskript seines Beitrags zum Schlussplenum des ehemaligen DDR-Bausoldaten-Kongresses freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat.

Veröffentlicht am

06. September 2004

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