Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Aus dem Meer von Gaza trinken

Vielleicht hatte Abraham Lincoln recht, als er sagte, man könne nicht alle Leute die ganze Zeit zum Narren halten, aber viele Leute können sicher sehr lange Zeit betrogen werden. Man schaue nur auf Ariel Sharon. Von Anfang an war der “Abzugsplan” ein Täuschungsmanöver. Aber die Welt lässt sich leicht täuschen.

Aus dem Meer von Gaza trinken

Von Uri Avnery - 05.06.2004

Vielleicht hatte Abraham Lincoln recht, als er sagte, man könne nicht alle Leute die ganze Zeit zum Narren halten, aber viele Leute können sicher sehr lange Zeit betrogen werden. Man schaue nur auf Ariel Sharon.

Von Anfang an war der “Abzugsplan” ein Täuschungsmanöver. Aber die Welt lässt sich leicht täuschen. Die Staatsmänner der Welt nehmen ihn ernst, in Israel verursacht er Stürme, die Medien haben ihren Spaß daran. All dies wegen eines Planes, der weder Hand noch Fuß hat.

Was ist also der Zweck dieses Lärms? Zyniker mögen sagen: der Lärm als solcher! Er setzt Sharon in den Mittelpunkt, wo er wie der Herr aller Ereignisse aussieht. Nun hat die Aufregung einen Höhepunkt erreicht.

Der Hauptzweck des Manövers ist, George Bush zu befriedigen. Der Präsident forderte einen Plan, der zeigt, dass er etwas für den Frieden tut. Je mehr er in den irakischen Sumpf gerät, um so mehr muss er beweisen, dass er etwas in unserem Land tut, besonders nachdem sein letztes Baby - die “Road Map” - noch in der Wiege gestorben ist.

Bush verlangte, dass Sharon mit einem Plan aufwarte. Kein Problem. Hokuspokus, hier ist ein Plan mit einem vielversprechenden Namen: “Abzugsplan”. Reden, Konferenzen, ein Besuch im Weißen Haus, Austausch von Dokumenten, Staatsbesuche, Botschafter, Mubarak, König Abdallah, Streitgespräche, Kompromisse und endlich sogar eine ausgewachsene Kabinettskrise. All das für einen Ballon mit heißer Luft.

Der Plan behauptet, drei Ziele zu haben: Die Siedler aus Gaza herauszuholen, den Streifen einer palästinensischen Behörde zu übergeben und die “Terrorinfrastruktur” dort zu zerstören.

In dieser Woche bestimmte Sharon selbst das erste Ziel in eindeutiger Weise: “Ende 2005 soll kein einziger Jude mehr im Gazastreifen sein.”

Ein resolutes und kühnes Statement, wie es sich für einen großen Führer gehört.

(Tatsächlich hat dieses Statement einen leise antisemitischen Klang. Wenn die palästinensische Regierung friedliche Juden einlädt, dort zu leben, warum sollten sie es nicht? Wäre es deshalb nicht passender zu sagen: “Kein Siedler wird im Gazastreifen bleiben!” Aber lassen wir das!)

Die wichtigsten Worte dieses Statements waren “Ende 2005”. Sie erinnern an den klassischen jüdischen Witz über den polnischen Edelmann, der seinen Juden mit dem Tode bedroht, wenn er seinem geliebten Pferd nicht das Lesen und Schreiben beibringt. Der Jude bittet um drei Jahre Zeit, um diese schwere Aufgabe zu erfüllen. Als seine Frau davon hört, jammert sie: “Aber du weißt doch, dass man einem Pferd nicht Lesen und Schreiben beibringen kann.” Der Jude beruhigt sie: “Drei Jahre sind eine lange Zeit. Bis dahin ist entweder das Pferd oder der Edelmann gestorben.”

In unserm Land sind achtzehn Monate eine halbe Ewigkeit. Nach einer Woche hat sich die Lage verändert. Vor Ende 2005 mögen sich noch viele Dinge ereignen. Bush kann seine Wahl verlieren, eine Katastrophe kann über den Irak kommen, in unserm Land mögen die blutigen Ereignisse solche Ausmaße annehmen, dass die Erinnerung an den “Plan” längst gelöscht ist.

Die Ereignisse dieser Woche machen klar, dass die Zeit die zentrale Rolle bei diesem “Plan” spielt. Tzipi Livni, die Ministerin für Immigration und Absorption arbeitete hart daran, um einen Kompromiss zwischen Sharon und seinen Opponenten herzustellen. Sie erfand das Ei des Columbus neu: die Regierung wird offiziell den Plan annehmen, aber nicht die Erfüllung des Planes. Neun Monate lang werden nur “Vorbereitungen” gemacht. Nicht eine einzige Siedlung wird aufgegeben. Danach wird die Regierung entscheiden, ob überhaupt eine Siedlung aufgegeben werden soll und wenn ja, welche. Die Gegner verlangten dann, dass die Regierung weiter Geld auch in die Siedlungen pumpt, die wahrscheinlich evakuiert werden sollen.

Die Tatsache, dass jeder diesen Vorschlag ernst nimmt, spricht für sich selbst. Ein Plan, dessen Erfüllung für nächstes Jahr gedacht ist, kann auch auf das nächste Jahrhundert aufgeschoben werden.

Doch lasst uns den Plan auf seine Werte hin prüfen, als ob Sharon tatsächlich beabsichtigte, ihn in die Tat umzusetzen. Er evakuiert Siedlungen und zerstört sie, die Armee verlässt den Gazastreifen, eine Art palästinensische Verwaltung übernimmt ihn.

Wird dies Frieden bringen? Wird dies die Attentate stoppen?

In der Praxis wird das nicht geschehen.

Das von allen palästinensischen Fraktionen festgehaltene Grundprinzip ist, dass die Westbank und der Gazastreifen eine integrale territoriale Einheit bilden. Das wurde ausdrücklich im Oslo-Abkommen und den folgenden Abkommen festgelegt. Nach diesem Prinzip hat Yasser Arafat alle Vorschläge wie “Gaza zuerst” abgewiesen, bis sie wenigstens einen bedeutenden Teil der Westbank (z.B. Jericho) einschlossen.

Sharon weiß das, und deshalb fügte er seinem Plan noch einen Anhang bei: ein winziges Gebiet am nördlichen Rand der Westbank will er auch evakuieren. Vier kleine Siedlungen gibt es dort, und ihre Siedler wollen sie sehr gern verlassen (natürlich mit großzügigen Kompensationen). Kein Palästinenser nimmt solch eine Evakuierung ernst.

Da besteht nicht die geringste Chance, dass die Guerillakämpfer irgendeiner palästinensischen Fraktion im “befreiten” Gazastreifen ruhig zusehen werden, während Sharon seine Pläne in der Westbank realisiert: die Annexion von 55% der Westbank an Israel (“Siedlungsblöcke”, “Wichtige Sicherheitszonen”, “Gebiete von speziellem Interesse für Israel”, wie die Militärplaner es nennen) und die Palästinenser in kleine Enklaven pfercht. Diese Arbeit geht schon mit dem Bau der monströsen Trennungsmauer schnell voran.

Der “befreite” Gazastreifen wird unweigerlich zu einer Basis des Befreiungskampfes der Westbank werden. Die israelische Armee wird, wie gewöhnlich, mit all seiner Macht reagieren: einfallen, töten, zerstören und ausreißen. Wenn dies nichts hilft (wie es bis jetzt nichts geholfen hat), wird Sharon den Strom und das Wasser sperren und die Nahrungsmittelzufuhr verhindern. Da der Streifen von der Welt abgeschnitten wird, ist dies möglich. Aber so weit wird es nicht kommen, weil die Welt beobachten wird, und die Amerikaner können sich das nicht leisten.

Die militärischen Planer wissen dies sehr genau. Sie haben neue Patentideen entwickelt: die Ägypter mit einzubeziehen.

Ausgezeichnet - so scheint es wenigstens. Das ägyptische Regime lebt von großzügigen amerikanischen Almosen - Belohnungen für das Unterzeichnen des Abkommens mit Israel. Der Kongress, der eifrig darum bemüht ist, die Sharonregierung zufrieden zu stellen, drohte kürzlich die Zahlung von 200 Millionen $ an Ägypten zu verzögern. Es ist deshalb für Mubarak lebensnotwendig, den Amerikanern zu zeigen, dass er ein Verbündeter Sharons ist.

Mubarak jedoch weiß, dass er auf einem Seil balanciert. Ägyptens Verbindungen mit dem Gazastreifen datieren mehr als 4000 Jahre zurück, und da gab es viele Höhen und Tiefen. Die Ägypter regierten nach 1948 wieder über den Gazastreifen und werden nicht gerne daran erinnert. Mehr als einmal versuchten sie, das palästinensische Problem in den Griff zu bekommen und jedes Mal endete es mit einer Demütigung. Präsident Gamal Abd-el-Nasser schuf die PLO, um gegen Yasser Arafat zu arbeiten, doch innerhalb weniger Jahre hat Arafat sie übernommen. Präsident Anwar Al-Sadat versuchte, ein Schutzpatron der Palästinenser zu werden, um dann nur von Menahem Begin beschämt zu werden.

Wenn die Ägypter nun den Gazastreifen zu übernehmen versuchen und den palästinensischen Kampf für die Freiheit der Westbank hintertreiben, werden sie als Kollaborateure betrachtet werden und Attentaten ausgeliefert sein, die sehr wohl nach Ägypten selbst hinüberschwappen können. Hamas hat mächtige Verbündete dort, die nicht vor Gewalt zurückschrecken.

Mubarak wird sehr vorsichtig sein, Verantwortung im Gazastreifen zu übernehmen, besonders wenn Arafat nicht mit von der Partie ist. Er kennt sehr gut den Fluchausspruch, der von Arafat gerne benützt wird: “Geh und trink aus dem Meer von Gaza!”

Deshalb steht der ganze Plan Kopf - er hat in der Realität keine Basis. Alles in allem ist er ein Rezept für die Fortsetzung des Krieges in anderer Form.

Aber das ist kein Grund, um sich Sorgen zu machen. Sharon meint es nicht ernst. Er ist sich sicher, dass bevor die Zeit der Evakuierung einer einzigen Siedlung kommt, entweder das Pferd stirbt oder der polnische Edelmann all dies vergessen hat.

Quelle: www.uri-avnery.de vom 05.06.2004. Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert.

Veröffentlicht am

08. Juni 2004

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von