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Ein Jahr nach der ‘Mission Accomplished’: Schande

Von Patrick Cockburn - Independent / ZNet 03.05.2004

Ein Jahr nach ‘Mission Accomplished’ blicken wir auf eine Armee in Schande, auf eine gescheiterte Politik und die sehr reale Aussicht auf Niederlage.

Noch immer stiegen graue Rauchfetzen von den Trümmern der vier Humvees auf. Sie waren einer Bombenexplosion zum Opfer gefallen, die kurz zuvor zwei US-Soldaten getötet und fünf weitere verletzt hatte. Allem Anschein nach war man in eine Falle getappt. Es geschah letzte Woche - die Soldaten waren in ein altes Backsteingebäude in Bagdads Waziriya-Viertel eingedrungen. Sie führten eine Razzia durch. Man hatte ihnen gesagt, hier befände sich eine Bombenfabrik der Aufständischen - aber als sie durch die Tür drangen, ging alles hoch.

Die Reaktion der Menschen vor Ort - kaum waren die überlebenden amerikanischen Soldaten abgezogen: sie starteten eine spontane Straßenparty. Ein kleiner Junge kletterte auf einen der geschwärzten, nach wie vor qualmenden Humvees und schwenkte im Triumph eine weiße Flagge. In aller Eile hatte man einen islamischen Spruch darauf gemalt. Einige junge Männer zeigten voller Faszination und Stolz eine blutdurchtränkte US-Uniform. Eine andere Gruppe fand einen herrenlosen Militärhelm und setzte ihn höhnisch einem alten Karrengaul auf den Kopf.

Irakische Frauen reagierten, indem sie am Sonntag, den 02. Mai 2004 vor dem Gefängnis von Abu Ghraib, nahe Bagdad, warteten. Hunderte Iraker, die Verwandte im Abu-Ghraib-Gefängnis haben, verlangten, ihre Lieben zu sehen - nachdem Fotos veröffentlicht wurden, die angeblich zeigen, wie Gefangene von amerikanischen Wärtern erniedrigt werden.

Wie kommt es, dass ein Jahr nachdem Präsident George Bush verkündet hat, “die Hauptgefechte” im Irak seien vorbei - sein berühmtes Zitat - soviele Irakis einen inbrünstigen Hass gegen die Amerikaner hegen? Ein Grund: Die Fotos, die Brutalität gegenüber irakischen Gefangenen und deren Erniedrigung durch britische und amerikanische Soldaten zeigen - Fotos, die die Welt schockierten und in arabischen Ländern Wut auslösten -, waren für die Irakis selbst kaum überraschend. Seit Monaten ist den Irakern klar, die Besatzung verläuft äußerst brutal, seit Wochen sehen sie Bilder von Toten und Verletzten in Falludscha - ausgestrahlt vom Satelliten-Fernsehsender Al Dschasiera - Bilder, die CNN nicht ausstrahlt.

Iraker mit zynischer Haltung gegenüber ihren Beherrschern könnten auf die Idee kommen, im Gefängnis von Abu Ghraib herrsche Folter - echte und simulierte. Dort gibt der US-Geheimdienst den Ton an. Iraker könnten den Verdacht hegen, die Erniedrigungen und Misshandlungen wurden - wie bei Saddam Hussein - ganz gezielt eingesetzt, um Gefangene vor einem Verhör weichzukochen.

Es heißt, es existierten noch massivere Bilder von echter Folter, außer denen, die letzte Woche im amerikanischen Fernsehen gezeigt wurden, so eindrücklich diese auch waren. Dabei sollten es Saddams Nachfolger eigentlich leicht haben. Den Irakis war bewusst, Saddam hat ihr Leben ruiniert - durch seine furchtbaren Kriege gegen den Iran und Kuwait - sie waren froh, ihn endlich los zu sein. Selbst die angeblichen Nutznießer seiner Herrschaft - die arabischen Sunniten in Städten wie Tikrit oder Falludscha -, wollten nicht einsehen, warum sie um so vieles ärmer sein sollten wie die Menschen in Ölstaaten wie Kuwait oder Abu Dhabi.

Eine, die die tanzende und johlende Menge in Waziriya (siehe oben) beobachtete, ist Nada Abdullah Aboud, eine in Schwarz gekleidete Frau mittleren Alters. Sie hätte allen Grund, die Amerikaner zu hassen, aber sie behauptet, sie hasse sie nicht. “Die jungen Soldaten tun mir wirklich leid, obwohl sie meinen Sohn getötet haben”, sagt sie leise. “Sie sind von so weit gekommen, um hier zu sterben”. Wie sich herausstellt, war ihr Sohn Saad Mohammed Übersetzer bei einem hochgestellten italienischen Diplomaten, der für die regierende Provisorische Behörde der Koalition (CPA) tätig war. Sie sagt: “Letzten September fuhr mein Sohn mit dem italienischen Botschafter nahe Tikrit vorbei, als ein amerikanischer Soldat auf das Auto feuerte und ihm mitten durchs Herz schoss”.

Saad Mohammed ist einer von vielen Irakis - die genaue Zahl ist unbekannt -, die im letzten Jahr von US-Soldaten erschossen wurden. Anscheinend gibt es keinen rationalen Grund für seinen Tod. Die hohe Opferzahl unter irakischen Zivilisten - niedergeschossen nach Anschlägen, niedergeschossen an Checkpoints -, vermittelt den Irakern das Gefühl, von den US-Soldaten letztendlich als minderwertiges Volk wahrgenommen zu werden, als Leute, deren Leben nicht viel wert ist. Im privaten Gespräch lassen die Iraker keinen Zweifel daran, was sie von der Besatzung halten.

Paul Bremer, Vizekönig des Irak sowie die Kommandeure der US-Armee - verbarrikadiert in ihren Hauptquartieren in Saddams altem Republikanischen Palast -, hatten bislang keine Vorstellung von der wachsenden Feindseligkeit, die ihnen entgegengebracht wird - nicht vor April. Aber als sie die Belagerung von Falludscha und Nadschaf starteten, mussten sie feststellen, die Iraker wenden sich inzwischen entschieden gegen die Besatzung - mit Ausnahme der kurdischen Minderheit.

Ein anderer simpler Grund für die Desillusionierung bezüglich Amerikas liegt darin, dass es den Amerikanern schlicht nicht gelang, das normale Leben wiederherzustellen. In Bagdad sagen die Iraker kontinuierlich, der Irak hätte sich nach dem ersten Golfkrieg schneller erholt - also 1991 unter Saddam - als jetzt nach dem zweiten Krieg 2003. Bagdad ist eine Stadt im Ausnahmezustand. Ladenbesitzer lagern ihre Waren in ihren Privathäusern - falls es zu einem neuen Ausbruch der Plünderungen kommt.

Zwar zeigt sich wieder Polizei auf den Straßen, und es gibt weniger zufällige Kriminalität als im letzten Jahr, aber gefährlicher als unter dem alten Regime ist es auch jetzt noch. Abu Amir ist Geschäftsbesitzer im Jadriyah-Bezirk der Hauptstadt - einer Mittelklasse-Gegend. Er sagt: “Unter Saddam habe ich manchmal nichts verdient in meinem Laden, aber ich konnte abends wenigstens heimgehen ohne Sorge, ob mein Sohn wohl sicher daheim angekommen ist. Inzwischen gibt es überall Plünderungen. Wenn du auf der Straße gehst, erschießen dich womöglich die Amerikaner oder kriminelle Banden, die miteinander kämpfen”.

Was die USA im letzten Jahr ironischerweise erreicht haben - der irakische Nationalismus im Irak ist zu neuem Leben erwacht. Durch Saddam war er weitgehend in Misskredit geraten. Aber seit Falludscha und seit der Verfolgung des radikalen Schiiten-Geistlichen Muqtada al-Sadr ist Nationalismus wieder salonfähig. Die unglaubliche Schwäche der USA im Irak - politisch gesehen - war noch nie so offensichtlich wie letzte Woche. Obwohl ihnen eine überwältigende militärische Macht zur Verfügung stand, um Falludscha und Nadschaf einzunehmen - Amerika traute sich nicht. Denn selbst bis nach Washington war durchgedrungen, dass eine Niederschlagung des Widerstands - in Falludscha oder Nadschaf (keine große Aufgabe, angesichts von ein paar tausend leichtbewaffneten Kämpfern) - zur Ausweitung der Rebellion und nicht etwa zu deren Beendigung führen würde.

Dennoch ein unglaublicher Anblick: Jassim Mohammed Saleh, ein General der Republikanischen Garde Saddams (die letzten Mai wie so vieles andere im Irak aufgelöst wurde), fährt letzten Freitag in voller Uniformmontur in Falludscha ein, unter dem Jubel der Menge. Aus seinem Autofenster flattert die alte irakische Fahne, die vom Irakischen Regierungsrat (den die Amerikaner eingesetzt haben) abgeschafft wurde. Dass er dafür gestimmt hat, die Flagge zu ändern, zeigt nur, wie weit dieser Regierungsrat sich von der Haltung ganz normaler Iraker entfernt hat.

Mohammed ist Ingenieur, er versucht, ein kaputtes Abwasserrohr in Bagdad zu flicken. Dennoch findet er Zeit, seiner Wut über die Neuerung zum Ausdruck zu bringen. “Natürlich ist die Besatzung eine Katastrophe”, sagt er. “Und wir wissen auch, der Regierungsrat, das sind Agenten Amerikas. Aber ein Mann muss schon der allerschlimmste Kollaborateur sein, um die Flagge seines Landes zu ändern”.

Am 30. Juni werden die USA den Irakern sehr wenig übergeben. Die ‘Sicherheit’ bleibt fest in amerikanischer Hand - ebenso die Kontrolle über das Geld. Einer der größten Fehler der USA war es, nicht schon früher Wahlen abzuhalten. Privat geben britische und amerikanische Offizielle zu, dies wäre durchaus möglich gewesen. Auf die Weise wäre jedenfalls eine legitimierte irakische Behörde zustandegekommen, der die irakischen Sicherheitskräfte echte Loyalität entgegenbringen hätten können.

Dr. Mahmoud Othman, Mitglied des Regierungsrats: “Iraker werden nie gegen andere Iraker kämpfen, solange sie unter Befehl eines Amerikaners stehen”. Das zeigte sich in aller Deutlichkeit, als die Hälfte der von den Amerikanern trainierten Sicherheitskräfte Anfang April desertierte oder meuterte. Den USA schwimmen im Irak die Felle davon. Was Falludscha und Nadschaf angeht, schafften sie es nicht, ihre militärische Stärke zum Tragen zu bringen, außerhalb Kurdistans besitzen sie sehr wenig politische Unterstützung. Sie können nicht mehr gewinnen. Dies könnte zu einer der außergewöhnlichsten Niederlagen in der Geschichte werden.

Quelle: ZNet Deutschland vom 05.05.2004. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “Disgrace”.

Veröffentlicht am

05. Mai 2004

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