Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Visionär der Gewaltlosigkeit - Martin Luther King

Von Hans-Eckehard Bahr (der Text wurde im Januar 2004 in Radio Berlin-Brandenburg gesendet)

1. Sprecher: Der Sommer in Amerika ist 1966 besonders heiß. Zugleich werden die Proteste gegen den Vietnam-Krieg immer heftiger. Viele Menschen sind aufgebracht, seitdem sie im Fernsehen seit Wochen schon entsetzliche Bilder sehen: Bilder von brennenden Menschen im Reisfeld, von Bomben-Teppichen auf radelnde Vietnamesen. Aber auch das andere: Die eigenen, amerikanischen Soldaten, wie sie einen der ihrigen nach Hinten ziehen, auf einer Zeltplane, blutverschmiert.

Wenig später, im Frühjahr 1967, reist Martin Luther King nach New York. Der schwarze Pfarrer ist zu dieser Zeit schon eine moralische Autorität ersten Ranges in den Vereinigten Staaten. Er hat die schwarzen Landsleute angeführt, ist mit ihnen jahrelang durch die Wohnviertel der Weißen gezogen, hat die Bürgerrechte für die Seinen erstritten, aber ohne jede Gewalt. Und jetzt, seit 1967 wird er zum schärfsten Kritiker der Vietnampolitik seines Landes. Leidenschaftlich engagiert er sich für ein Ende des Krieges in Südostasien. Der Sprecher der Schwarzamerikaner wird nun zur Leitfigur der neuen Friedensbewegung in Amerika. Vor einer dicht gedrängten Menschenmenge ruft er am 4. April 1967 in der Riverside Church:

Zitator 1: “Es kann eine Zeit kommen, in der Schweigen Verrat bedeutet. Diese Zeit ist für uns mit der Vietnamfrage gekommen. Immer wieder werden wir mit der grausamen Ironie konfrontiert, Schwarze und Weiße beobachten zu müssen, wie sie gemeinsam töten und sterben für eine Nation, die es nicht fertig gebracht hat, sie in den gleichen Schulen nebeneinander sitzen zu lassen. Wir sehen, wie sie miteinander in brutaler Solidarität die Hütten eines armen Dorfes niederbrennen, aber es ist uns klar, dass sie niemals in einem gleichen Häuserblock in Detroit wohnen würden. Angesichts solch grausamer Ausnutzung der Armen konnte ich nicht schweigen … Und ich wusste, dass ich niemals wieder meine Stimme gegen Gewalttaten der Unterdrückten in den schwarzen Ghettos erheben könnte, bevor ich nicht eindeutig den größten Gewaltausüber in der heutigen Welt angeredet habe, und das ist meine eigene Regierung …”

1. Sprecher: King deutet die Kriegsführung Amerikas als eine Art Obsession. Die Führungsspitzen seien geradezu besessen von der Idee, man müsse erst das Böse in fremden Ländern ausrotten, um dann das Gute dorthin zu bringen.

Wenig später höre ich Präsident Nixon die Bürger Amerikas aufrufen:

Zitator II: “Unsere Glaubensüberzeugungen müssen verbunden sein mit einem Kreuzzugseifer, um die Schlacht für den Frieden zu gewinnen”.

1. Sprecher: Glaubens-Überzeugungen? Kreuzzugs-Pathos? Lange vor George Bushs Aufruf zum Kreuzzug gegen “das Böse” vom September 2001 wird also in Amerika die Außenpolitik auch religiös begründet. Von einer Sekten-Religiösität her allerdings, die Gute und Böse sauber trennbar hält.

Zitator 2: “Unsere Erfahrung ist, dass wir nicht nur uns, sondern auch die Welt retten können”.

1. Sprecher: So Walter Russel Mead, Berater George Bushs am 7. Februar 2002, (FR 8. 2. 02).

Sätze, die das alte Sendungsbewusstsein Amerikas erkennen lassen, ein Bewusstsein, das von Anfang religiös geprägt ist. Nationaler Sendungsglauben und politisches Missionsbewusstsein formen Denken und Handeln der amerikanischen Gesellschaft bis heute. Und nie ist von amerikanischer Machtpolitik das trans-rationale, das religiöse Antriebsmoment einfach abzuziehen. Wer es unterschätzt, wird schwerlich den Gang amerikanischer Geschichte begreifen, wird gerade die heutige Politik der USA nur als kühle Machtpolitik deuten können und sie damit europäisch missverstehen.

Zitator 2: God bless America

1. Sprecher: Für Präsident Bush junior gilt das ungebrochen. Sein Glaube an die heilspolitische Sendung seiner eigenen Nation ruht ganz in der konservativ religiösen Tradition des Landes. Religion und Nation, nach Henry Kissinger jedenfalls gehört das eng zusammen. Bis heute herrscht - so Kissinger -

Zitator 2: “Das traditionelle Gefühl einer universellen moralischen Sendung Amerikas.”

1. Sprecher: Auch die Folgen solcher missionarischer Politikbegründung gelten dann: Das Sendungsbewusstsein kann leicht umschlagen in offene Machtpolitik. Und das jedem Land gegenüber, das für böse, für terroristisch erklärt wird.

Jedenfalls, je naiver man überzeugt ist von der moralischen Rechtschaffenheit der eigenen Absicht, desto müheloser kann man gegen das vermeintlich Böse ungeniert mit nackter Gewalt vorgehen.

Schon Blaise Pascal hat es scharfsinnig durchschaut. Der Philosoph hält fest:

Zitator 2: “Niemals tut man so gründlich das Böse, wie wenn man es mit gutem Gewissen tut.”

1. Sprecher: 1983 begann Präsident Reagan seine Total-Verurteilung der SowjetUnion als “Reich des Bösen”.

Die Metapher “Reich des Bösen” ist biblisch, stammt aus der sogenannten “Offenbarung des Johannes”. Hier, im letzten Buch der Bibel, ist beiläufig die Rede von der Entscheidungsschlacht zwischen Gott und dem Reich des Satans, die in der Endzeit stattfindet, in der Zeit von Armaggedon.
In einem Gespräch mit amerikanischen Journalisten erläuterte Reagan sein Weltbild so:

Zitator 2: “Wie Sie wissen, gehe ich immer wieder auf die Anzeichen zurück, die Armaggedon ankündigen. Ich ertappe mich dabei, dass ich frage, ob wir die Generation sind, die erlebt, wie das auf uns zukommt”.

1. Sprecher: Unsere Zeit als Endzeit der Entscheidungskämpfe zwischen Gott und Satan? Die Gegner Amerikas auch die Feinde Gottes? Auch Präsident Bush junior spricht vom weltgeschichtlichen “Kampf gegen das Böse”, im gleichen Freund-Feind-Stil. In seiner Berliner Rede vor dem Parlament deutet er am 22. Mai 2002 die “neue Bedrohung” als eine totale. Der Feind erscheint satanisch. Bush wörtlich:

Zitator 2: “Wir stehen vor einer aggressiven Kraft, die Tod verherrlicht, (die) Mittel für ihre Zwecke sucht, (um) Mord in großem Maßstab zu verüben”.

1. Sprecher: Dagegen setzt Präsident Bush in Berlin dann die Guten, die Amerika-treuen Nationen, die freilich alle diese Waffen schon haben, aber - so George Bush -

Zitator 2: “Wir bauen eine Welt der Gerechtigkeit”… und mit unseren Freunden werden wir das Haus der Freiheit bauen - für unsere Zeiten und für alle Zeiten”.

1. Sprecher: Weiterhin also die Zweiteilung der Völkergemeinschaft in Gute und Böse, in Erwählte und Verdammte? Auf beiden Seiten, nicht nur im Westen? Weiterhin also apokalyptische Sekten-Mentalität hüben wie drüben, bei den islamischen Fundamentalisten wie in den Zentren westlicher Macht? Hört das dualisierte Weltbild mit seinem Zwang zum Feindbild noch immer nicht auf?

Zitator 2: Die amerikanische Phantasie aber malt sich nicht allein den Sieg Über die Gegner aus, sondern auch ihre Erniedrigung.

1. Sprecher: So kommentiert Martha Nussbaum, Professorin für Jura und Ethik an der juristischen Fakultät der Universität Chicago heute die Situation. Erniedrigung, ja bewusste Demütigung des Gegners - wie erklärt die amerikanische Professorin diese Züge? Martha Nussbaum bemängelt, dass die amerikanische Öffentlichkeit - anders als die europäische - zu wenig über das Leben außerhalb der eigenen Grenzen wisse. Und das der amerikanische Patriotismus daher zum Mitgefühl gegenüber den Menschen anderer Länder nicht fähig sei.

Das ist eine scharfe Selbstkritik, wie sie nur die Amerikaner selber vollziehen können. Ich als Deutscher habe noch das Bild des anderen Amerika vor Augen. Was wäre im Nachkriegsdeutschland gewesen, hätten nicht gerade die Hilfslieferungen aus Amerika den schlimmsten Hunger verhindert? Nicht Morgenthau hat gesiegt mit seinem Plan, Deutschland in eine Agrarlandschaft zu verwandeln, zu einer Wüste zu machen. Gesiegt hat der Großmut vieler Bürger Amerikas uns gegenüber, den besiegten Feinden von gestern.

Wir sollten uns erinnern: Es gibt ein ganz anderes Amerika. Ein Land mit unerhörter moralischer Lebenskraft. Von Präsident Lincoln bis zu John F. Kennedy, von der katholischen Bischofskonferenz bis zu Jimmy Carter gibt es ein anderes, menschenfreundliches Amerika, das auch aus religiösen Wurzeln lebt. Freilich aus einem Christentum der Friedfertigkeit gegenüber anderen. Das Toleranz als obersten Wert festhält, nicht bloße Macht. Und eben dieses Amerika wird heute noch repräsentiert im Leben des großen Schwarzamerikaners Martin Luther King.

“Worin”, fragt Abraham Lincoln schon 1858, “worin besteht das Bollwerk unserer Freiheit?” Die Antwort, die dieser Präsident der Vereinigten Staaten gibt, repräsentiert das andere Amerika Martin Luther Kings. Wilsons Antwort könnte auch von King stammen.

Wilson wusste, schon vor eineinhalb Jahrhunderten - wörtlich:

Zitator 2: “Das Bollwerk der amerikanischen Freiheit in Festungen, Armeen und Flotten? Sie sind kein Schutz gegen eine Wiederkehr der Tyrannei in unserem schönen Land. Sie alle können auch gegen unsere Freiheiten gebraucht werden.”

1. Sprecher: Es war der schwarze Pfarrer Martin Luther King, der das Bild einer alle Völker umfassenden Gemeinschaft entwarf, ganz in der Tradition Abraham Lincolns. Ich habe einen Traum, rief er 1963 in Washington den zweihunderttausend Amerikanern zu, die am Denkmal Abraham Lincolns zusammengekommen waren.

Zitator 1: “… Ich habe einen Traum, dass eines Tages auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne früherer Sklavenhalter und früherer Sklaven brüderlich am Tisch zusammen sitzen werden.”

1. Sprecher: King sah alle, Schwarze und Weiße, Moslems und Christen, Linke und Rechte an einem “Tisch der Brüderlichkeit”. Er war beflügelt von dieser politischen Vision einer Weltgemeinschaft gleichberechtigter Menschen. Eine Vision, die tief verwurzelt ist in der amerikanischen Verfassung. Schon in der Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es ja:

Zitator 2: “Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Dass alle Menschen gleich geschaffen sind, dass sie von ihrem Schöpfer ausgestattet sind mit gewissen unveräußerlichen Rechten, dass zu ihnen Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören.”

1. Sprecher: “Tisch der Brüderlichkeit”, eine Ziel-Erinnerung an die Grundrechte also. An die unabgegoltenen Verheißungen der amerikanischen Verfassung. Brüderlich am Tisch zusammensitzen - das ist zugleich ein symbolisches Bild auch der Bibel für die Menschenrechte. Die festliche Tafel, der Tisch, an dem alle Platz haben, auch die von den Hecken und Zäunen, die zunächst gar nicht eingeladen waren. Die Letzten aber werden die Ersten sein, heißt es im Neuen Testament.

Die Vision eines großen Gottes-Festes mit allen Menschen, mit Gerechten u n d Ungerechten wird da hochgehalten. Schon der Prophet Jesaja hat es so gesehen:

Zitator 2: “Jahwe-Zebaot wird für alle Völker ein Festmahl geben” (Jesaja 25,6).

1. Sprecher: Essen, am gleichen Tisch zusammensitzen, auch mit den sogenannten Bösen - in diesem Bild wird im Neuen Testament das Reich Gottes umschrieben. (Das Reich Gottes ist demnach nicht eine andere, jenseitige Welt hinter der sichtbaren, sondern eine neue Qualität irdischer Verhältnisse).

Tisch der Brüderlichkeit - table of brotherhood - für den schwarzen Friedensnobelpreisträger King ist das eben keine Utopie weit, weit weg. Nein, die Aufhebung der Rassengegensätze in den USA und das Ende des mörderischen Krieges zwischen Amerikanern und Asiaten - das sah er unmittelbar vor sich, als politisches Nahziel seit 1963.

Das absolut Neue: Brüderlichkeit, in den Halleluja Gottesdiensten der Schwarzen jahrhundertelang in eine Himmels-Überwelt verschoben, King nahm diese Vision beim Wort, übersetzte sie zurück in die Gegenwart.

Was niemand für möglich gehalten hatte, das geschah in den Sechziger Jahren in den Vereinigten Staaten. Schwarze, seit alters gedemütigt, gingen auf die Straße, verlangten ihre Menschenrechte. Und tatsächlich, 1964 schon wurde die Rassentrennung in allen öffentlichen Einrichtungen aufgehoben.

Kein Freund-Feind-Gegensatz mehr - vor dem Gesetz. Eine Welt ohne Tränen für Alle - auch für die Weißen - beschwor Peter Seeger, der Sänger der Bürgerrechtler in seinem Song “Oh, Freedom … “:

“No more Weeping … over me”.

1. Sprecher: Und dann, der zweite große Erfolg von Martin Luther Kings gewaltfreier Aktivität: Der Krieg in Vietnam wurde beendet.

Zitator 2: Erstmals in der Neuzeitgeschichte der Staaten konnte in den späten sechziger Jahren das andere Amerika, das Amerika Kings, machtvoll in Erscheinung treten. Die Friedensinitiativen in der amerikanischen Gesellschaft, allen voran die der Kirchengemeinden, konnten auch die schweigenden Mehrheiten der Bevölkerung für ihre Ziele gewinnen. 68 Prozent der Amerikaner waren schließlich gegen die Kriegsführung ihrer eigenen Regierung.

Etwas Neues, in der internen Geschichte der Staaten noch nie Dagewesenes war in Amerika zu beobachten. Die traditionell unscheinbare Friedensbewegung der Quäker und Mennoniten weitete sich enorm aus. Über pazifistische Kleingruppen in den Kirchengemeinden hinaus wurde sie zu einer großen innenpolitisch folgenreichen Strömung in den USA. Die Regierung Nixon konnte einer derart breiten Vertrauensaufkündigung gegenüber schließlich nicht länger die Pose der unbeeindruckbaren Zentralgewalt einnehmen. Der Vietnamkrieg musste beendet werden. Der politische Kreuzzug gegen das Böse jener Jahre brach zusammen, von innen und - ohne jede Gewalt.

1. Sprecher: Es gibt also diese zwei Seiten Amerikas: Die sendungsbewusste Großmacht, die sich heute unter Präsident Bush ermächtigt fühlt, das Böse bei den anderen auszurotten, notfalls auch präventiv zuzuschlagen. Und es gibt das ganz andere Amerika, das Toleranz als obersten Wert festhält, das Amerika Martin Luther Kings, ein menschenrechtlich orientiertes, selbstkritisches Amerika, das viele Völker der heutigen Welt immer wieder zur Bewunderung gebracht hat.

Aber - wo ist das andere Amerika heute? Ist es nicht verstummt mit dem Tod Martin Luther Kings?

Am 3. April 1968 war Martin Luther King nach Memphis/Tennessee gekommen. Er war zu dieser Zeit schon weltberühmt. Nicht nur, weil er seine schwarzen Landsleute in einer riesigen Bürgerinitiative vertrat. Dr. King war auch ein leidenschaftlicher Vertreter einer internationalen Friedenspolitik ohne militärische Gewaltdrohung und er war der Fürsprecher der Armen der Dritten Welt in den reichen Städten des amerikanischen Nordens geworden. Hier in Memphis wollte er sich für die Ärmsten der schwarzen Bevölkerung einsetzen, für die Rechte der 1.300 Arbeiter der Müllabfuhr.

Am Abend des 3. April beschwor King in der Mason Temple Church seine Mitbürger, nun auf die Straße zu gehen.

Zitator 1: “Jetzt werden wir wieder marschieren.” … “Wir müssen es, um jedem vor Augen zu führen, dass hier 1.300 von Gottes Kindern leiden. Manchmal sind sie hungrig, manchmal erleben sie dunkle und traurige Nächte und fragen sich, wie diese Sache ausgehen wird … Und wir müssen unserer Nation sagen: wir wissen, wie sie ausgeht. Denn wenn Menschen ergriffen sind von dem, was recht ist, und wenn sie dafür Opfer zu bringen bereit sind, dann gibt es keinen Halt kurz vor dem Sieg.”

1. Sprecher: Die Gemeinde brach in Beifall aus, als der Redner mit großem Pathos ausrief:

Zitator 1: “Wir meinen es ernst, und wir sind entschlossen, unseren rechtsmäßigen Platz in Gottes Welt zu gewinnen. … Wir haben uns nicht in negativem Protest oder irgendwelchem negativen Streitereien mit irgend jemandem angelegt. Wir sagen nur, dass wir entschlossen sind, Menschen zu sein. Wir sind entschlossen, jemand zu sein. Wir sagen, dass wir Gottes Kinder sind. Und deshalb nicht leben müssen, wie wir gezwungen werden zu leben.”

1. Sprecher: Doch dann geschah etwas Merkwürdiges. “Ich verließ Atlanta heute früh”, fuhr King, leiser werdend, fort.

Zitator 1: “Und dann landete ich in Memphis. Und einige sprachen von den Drohungen, die im Umlauf waren und von dem, was mir von einigen unserer kranken weißen Brüdern widerfahren könnte.”

1. Sprecher: Erregung entstand bei den letzten Worten Kings “Unsere kranken weißen Brüder”? Sollte man die Gegenseite so großmütig mit einbeziehen? Sie, die offenbar erneut Gewalt gegen den Gewaltfreien im Schilde führte? King aber ließ sich nicht unterbrechen. Er rief:

Zitator 1: “Schwierige Tage liegen vor uns, aber das macht mir jetzt wirklich nichts aus. Denn ich bin auf dem “Gipfel des Berges gewesen.”

1. Sprecher: Das Bild des kämpfenden Mose beschwörend, als er das Volk Israel aus Ägypten herausführt, und dann, auf dem Gipfel des Berges” das Ziel erblickt, dass gelobte Land, so endete Martin Luther King seine letzte, große Vision. “Ich mache mir keine Sorgen”, rief er an diesem Vorabend seines Todes.

Zitator 1: “Wie jeder andere würde ich gerne lange leben. Ein langes Leben hat seinen Wert. Aber darum bin ich nicht besorgt. Ich möchte nur Gottes Willen tun. Er hat mir erlaubt, auf den Berg zu steigen. Und ich habe hinüber gesehen. Ich habe das gelobte Land gesehen. Vielleicht gelange ich nicht dorthin mit euch. Aber ihr sollt heute Abend wissen, dass wir, als ein Volk in das gelobte Land gelangen werden. Und deshalb bin ich glücklich heute Abend. Ich mache mir keine Sorgen wegen irgendetwas. Ich fürchte niemanden. Meine Augen haben die Herrlichkeit des kommenden Herrn gesehen.”

1. Sprecher: Einen Tag später, am 4. April 1968, 18.35 Uhr, fällt ein Schuss. In Hals und Nacken getroffen bricht Dr. King auf dem Balkon des “Lorraine Hotel” in Memphis zusammen. Ralph Abernathy und Jesse Jackson drücken ein Handtuch auf die Wunde. Sie können ihn nicht mehr retten. Um 19.05 Uhr gibt Paul Hess, der Leiter des St. Joseph Hospitals, den Tod Kings bekannt.

Martin Luther Kings Stimme ist tot. Wurde auch sein Traum zerfetzt? Es ist ein Wunder, aber in den 34 Jahren seit dem gewaltsamen Tod des schwarzen Pfarrers hat die Zahl derjenigen, die seinem Beispiel folgten, in vielen Ländern überraschend zugenommen. In einer Übersicht heißt es:

Zitator 2: Nelson Mandela ist einer der vielen Bewunderer Martin Luther Kings und seiner gewaltfreien Politik. Und - Nelson Mandela hat in Südafrika gesiegt, nicht die Apartheid, nicht die Freund-Feind-Gewalt-Politik.

Das Vorbild Kings hat schließlich auch zu einer überraschend gewaltfreien Überwindung der östlichen Staatsdiktaturen in Europa geführt, zum einzigartigen zivilen Widerstand der Bürger, gerade erst vor 14 Jahren. Dieser unblutige Sturz der Macht in Warschau, in Prag und Ostberlin. Diese Fähigkeit der Menschen in Leipzig, den jungen Volkspolizisten im Oktober 1989 ohne Angst entgegenzugehen, und Rache gerade nicht auszuüben. Martin Luther King hätte seine Praxis der Versöhnung in Leipzig wieder gefunden. Jedenfalls, ohne die ständige Erinnerung an King wären die Leipziger Montagsgebete nicht so unblutig verlaufen. Geist des gewaltfreien Amerika - auch hier, in der jüngsten deutschen Zeitgeschichte.

Das Auftreten all dieser gewaltfreien Initiativen, vom Kirchen-Protest gegen den Vietnamkrieg in Amerika bis zu den Bürgerrechtsbewegungen in Leipzig, in Dresden, das ist die helle Gegenmelodie zum dumpfen Gewaltgedröhne in unserem Jahrhundert, die mozartsche Melodie. Es ist eine leise, aber Unüberhörbare Melodie, die ins Bessere zieht, von den Tagen Kings her bis heute.

1. Sprecher: Auf Einladung Willy Brandts kam King 1964 auch nach Berlin. Er besuchte den Ostteil der Stadt. Er sprach in der Waldbühne. Was würde King sagen, käme er heute wieder in unserer Hauptstadt?

Zitator 1: “Ach, ihr Deutschen - würde er (vielleicht) sagen - seid doch nicht so angstvoll. Die Völker haben sich doch mit euch versöhnt, die Russen, die Polen, nicht nur die Franzosen. Und ihr - habt ihr nicht eure eigenen Machthaber 1989 abgesetzt, ohne dass die Spree sich rot färbte? Ihr werdet doch eure Dämonen von heute auch bändigen, ohne Gewalt anzuwenden.”

1. Sprecher: In diesem Moment kramt King einen Zettel aus seiner Brusttasche und tritt noch einmal vors Mikro:

Zitator 1: “In diesem Jahr feiert ihr doch einen interessanten großen Deutschen, den Dichter Johann Gottfried Herder, diesen protestantischen Superintendanten. Und dieser Mann hat uns daran erinnert:

Zitator 2: “Ohne Begeisterung geschah nichts Großes und Gutes auf der Erde. Die man für Schwärmer hielt, haben dem menschlichen Geschlecht die nützlichsten Dienste geleistet. Trotz Spott, trotz jeder Verfolgung und Verachtung drangen sie durch, und wenn sie nicht zum Ziel kamen, so kamen sie doch weiter und brachten weiter.”

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Hans-Eckehard Bahr.

Veröffentlicht am

23. April 2004

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