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Alt-Amerika - Neu-Europa

Wolfgang Ullmann - in: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 13 vom 19.03.2004

Vor einem Jahr begann der Irak-Krieg - Die Demokratie wurde zum Werbegeschenk imperialen Managements degradiert

Wer wissen will, wie Demokratie im 21. Jahrhundert zu Stande kommt, sei aufgefordert, das Titelblatt der Süddeutschen Zeitung vom 9. März 2004 einer intensiven Betrachtung zu würdigen. Unter der Schlagzeile Irak macht erste Schritte zur Demokratie wird er ein Buntbild finden. Die Bildunterschrift lautet: “Jedes Mitglied des irakischen Regierungsrates erhielt für die Unterschrift einen eigenen Füllfederhalter. Im Bild Ratspräsident Bahr el Ullum, der von einem US-Berater unterwiesen wird.”

An den Schmalseiten des Unterzeichnungstisches sieht man die aufgereihten Füllfederhalter für die übrigen Mitglieder des Regierungsrates. Alle werden ein Souvenir an diesen denkwürdigen Anfang irakischer Demokratie unter der Federführung unterweisender US-Beamter erhalten. Wenn man wie der Verfasser als Parlamentarier Gast bei Lobby-Empfängen gewesen ist, dann kennt man diese kleinen Geschenke. Wenn es nicht gerade Füllfederhalter sind - ein Kugelschreiber mit Firmennamen fällt allemal bei solchen Gelegenheiten ab.

Aber das Bagdader US-Werbegeschenk sollte ja wohl nicht der Füllfederhalter, sondern die Demokratie für ein Volk sein, das sich nur zu gern über die Befreiung aus Jahrzehnten entwürdigender Tyrannei freuen würde, wenn sie nicht in das terroristische Chaos von Bagdad und Kerbala geführt hätte. Und wenn diese Befreiung nicht mit der Gewissheit verbunden wäre, dass der Erdölreichtum von einer westlichen Macht ausgebeutet werden soll, im offenen Widerspruch zu Artikel 1 Abs. 2 des UN-Paktes über soziale und kulturelle Rechte, nach dem “alle Völker das Recht haben, über ihre natürlichen Ressourcen zu ihren eigenen Zwecken zu verfügen”.

Freilich, man braucht diese Worte nur zu formulieren, um im Geist die tadelnden Einsprüche gegen ihre mangelnde politische Korrektheit zu hören. Das alles sei wieder einmal die typische linke “Bedenkenträgerei”. Ein großartiges Konzept, die Greater Middle East Initiative werde Missmut verbreitend auf materielle Hintergrundinteressen herabgeredet.

Selbst die dem Irakkrieg so ablehnend gegenüberstehende Bundesregierung habe sich einer Initiative, den terrorismusgeschüttelten Mittleren Osten durch Modernisierung und Demokratisierung zu befrieden, nicht entziehen können. Überdies habe der deutsche Außenminister in dieser Initiative, wie er das jüngst auf der Münchner Sicherheitskonferenz formulierte, eine weltpolitische Chance für die EU erkannt. Werde in ihrem Rahmen doch am allerbesten erkennbar, welch erheblichen Nutzen für einen außenpolitischen Machtzuwachs der EU eine Mitgliedschaft der Türkei bedeuten könne.

Wer also sollte an diesem weltpolitischen Konzept von Modernisierung und Demokratisierung islamischer Staaten herum zu mäkeln Anlass und ein Recht haben? Alle, die sich weigern zu akzeptieren, dass Demokratie zum Werbegeschenk eines maroden Kapitalismus und seines imperialistischen Managements degradiert wird.

Wer hat das Recht, von Europäern wie Irakern das Verschließen der Augen zu verlangen? Sollen sie nicht sehen, dass diejenigen, die sich anmaßen, als Akteure der Modernisierung einer ganzen Kultur aufzutreten, mit denjenigen identisch sind, die in ihrem eigenen Land am archaischen Racherecht der Todesstrafe festhalten, vorwissenschaftlich - obskure Bibelauslegungen zur öffentlichen Norm erheben, rechtsstaatliche Prinzipien, wo sie das für richtig halten, außer Kraft setzen, die freie Meinungsäußerung den Gewinninteressen der Medienunternehmen opfern und gerade durch die Rechtfertigungsversuche des Irak-Krieges ein singuläres Beispiel öffentlichen Betruges und schamloser Meinungsmanipulation geliefert haben? Haben sie nicht selbst durch die schmachvollen Umstände der Festnahme Saddam Husseins der betrogenen Weltöffentlichkeit vorgeführt, dass Saddam Hussein nie etwas anderes war als eine Marionette der verheerenden Nah- und Mittelostpolitik der USA?

Nein - wer nur Werbegeschenke zu verteilen hat, kann gewiss nicht der Protagonist der Demokratie des 21. Jahrhunderts sein. Diese neue Demokratie einer von Nihilismen, Fundamentalismen und staatlichen wie nichtstaatlichen Terrorismen aller Art verheerten Völkergemeinschaft setzt zu ihrer Etablierung zuallererst eine hinlängliche Verbreitung der Einsicht voraus, dass es ein hilfloser Anachronismus und im Effekt ein zerstörerischer Revisionismus ist, unter den Bedingungen der bereits seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts eingetretenen Globalität immer noch von Globalisierung zu sprechen, so als ob diese Globalität erst herzustellen sei.

Alle Imperien mit globalen Herrschaftsansprüchen sind gescheitert. Das Osmanische Reich, das chinesische, das zaristische und auch das Deutsche Kaiserreich erlitten dieses Schicksal kurz vor oder nach dem I. Weltkrieg. Nach 1945 folgten die Kolonialimperien der westeuropäischen Staaten, die zu Staaten neben anderen Staaten wurden. Und just auf diesem historischen Hintergrund sollten die USA, die nie ein “Reich”, sondern zu ihrem eigenen Glück immer schon ein Staat waren, sich kraft ihrer Eigenschaft als “einzig verbliebene Supermacht” in ein Weltimperium verwandeln, dem die EU nach den Machtphilosophien des deutschen Außenministers Paroli zu bieten hätte? Welch anachronistischer Fehlschluss!

Bezeichnend für den revisionistischen Charakter dieser Spekulationen ist es, dass die Vereinten Nationen und die Aufgabe einer Verfassungsgebung für ganz Europa so gut wie keine Rolle in diesen Konzepten spielen. Dabei sind die vor beiden Institutionen beziehungsweise Initiativen liegenden Aufgaben mit Händen zu greifen. Der UN-Sicherheitsrat muss - je eher desto besser - aus dem Gremium privilegierter Kernwaffenbesitzer in ein Gremium der Vertreter befriedeter Regionen der Völkergemeinschaft werden, nachdem der Versuch gescheitert ist, den Kernwaffenbesitz auf die fünf Ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates zu begrenzen. Und was die EU-Verfassung angeht, so ist ebenfalls klar: Eine wirkliche Osterweiterung der EU wird erst mit dem Beitritt der Türkei eingetreten sein. Dann erst ist klargestellt, dass das ehemals Oströmische Reich ein Bestandteil Europas und der Islam eine europäische Religion geworden ist. Glaubt denn im Ernst jemand, dass der Kulturen- und Völkerhass in Ex-Jugoslawien je ein Ende nehmen wird ohne diese Klarstellung? Und auch dies muss man wissen: Der Beitritt der zehn neuen Mitglieder am 1. Mai wird - genau wie im Fall des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik - so lange ein bloßer Anschluss bleiben, wie Westeuropa nicht durch Integration osteuropäischer Kultur die seit dem frühen Mittelalter bestehende Spaltung Europas aufgehoben hat. Was im Maastricht-Vertrag genau so vorgesehen ist.

Das Attentat von Madrid aber hat die letzten Unklarheiten darüber beseitigt, dass Bush, Cheney und die anderen Kreuzzugspolitiker in Washington mit ihrem “Krieg gegen den Terror” bis jetzt nur zu dessen Ausbreitung beigetragen haben. Aznars Unterstützung dieser Politik hat den Terror nach Spanien und damit in die EU gelenkt. Aber damit ist eben auch die These der Friedensbewegung neu bestätigt, dass der Kampf gegen den Terror erst dann erfolgreich geführt werden kann, wenn er statt staatlichen Gegenterrors als Kampf gegen die Ursachen des Terrors geführt wird, nämlich als Kampf gegen die Diskriminierung des Islam und seiner kulturellen Traditionen. Die Rechtsgrundlagen der UNO und der Europäischen Union bieten Muslimen und Nichtmuslimen eine Basis, um diesen Kampf gemeinsam und siegreich führen zu können.

Der Gedanke, das neue Gesamteuropa könnte ein weltpolitisches Gleich- oder gar Gegengewicht zu den USA sein oder werden, ist eine der zahlreichen Absurditäten der derzeit herrschenden politischen Philosophie. Das neue Europa des Verfassungskonvents gehört konkurrenzlos zusammen mit den USA der Unabhängigkeitserklärung. Mit dem ersten Satzes der US-Verfassung “Wir das Volk”. Mit dem Amerika Washingtons, Jeffersons, der Federalist Ilanrs und Abraham Lincolns. Freilich nicht mit der Bush-Administration, ihren Wahlfälschungen und Verrätereien an allen Traditionen der Gründerväter der Vereinigten Staaten. Gibt es dafür eine schönere Veranschaulichung als das Nebeneinander der aus Frankreich stammenden Freiheitsstatue und des aus Russland stammenden Schwerter-zu-Pflugscharen-Denkmals vor dem Palast der Vereinten Nationen in New York?

Quelle: FREITAG. Die Ost-West-Wochenzeitung 13 vom 19.03.2004. Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor.

Veröffentlicht am

23. März 2004

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