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Den Gegenpol besetzen - Chancen für eine multilaterale Weltordnung

Die Frage nach der Zukunft des Irak eröffnet mehr Chancen für eine multilaterale Weltordnung, als allgemein angenommen wird

Von Mohssen Massarrat

Trotz des Desasters im Irak bleiben die USA absehbar ökonomisch und erst recht militärisch mächtig genug, ihren Unilateralismus mit Hilfe einer Allianz der Willigen quer über den Globus für Jahre in der jetzigen oder in abgeschwächter Form fortzusetzen. Nicht zuletzt der Verlauf der Debatte um eine neue Irak-Resolution zeugt davon. Für eine multilaterale Ordnung besteht nur dann eine reale Chance, wenn in Amerika selbst die politische Legitimation des Unilateralismus zu bröckeln beginnt und die Argumente des Multilateralismus überzeugen.

Die Gegensätze zwischen Unilateralisten und Multilateralisten sind in den USA viel größer, als sich das im außenpolitischen Erscheinungsbild des Landes widerspiegelt. Die EU täte daher gut daran, alles zu unterlassen, was die US-Unilateralisten und ihre Alliierten in Europa stärkt, denn tatsächlich verläuft die Trennlinie nicht zwischen den USA und Europa - auch nicht zwischen Demokraten und Republikanern -, sondern zwischen Unilateralisten und Multilateralisten in der ganzen Welt. Europa verfügt dabei über ein beträchtliches moralisches Kapital, das es aus Verlusterfahrungen (Habermas) in der ersten und Integrationsleistungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schöpft.

Das Nein von Schröder und Chirac zum Irak-Krieg - aus welchen Motiven es auch ausgesprochen wurde - und die überwältigend positiven Reaktionen bei Kriegsgegnern in den USA, in der arabisch-islamischen und Dritten Welt überhaupt haben erkennen lassen, welches politisches Gewicht Europa als treibende Kraft einer gerechteren Weltordnung haben könnte, würde es aus dem Schatten der USA treten und - um nur ein Beispiel zu nennen - mit nichtmilitärischen Konzepten Konflikte wie im Nahen Osten zu bewältigen versuchen. Das würde dem “alten Kontinent” Identität stiftende Projekte verschaffen und den Geist einer multilateralen Weltordnung nach innen und außen erlebbar machen.

Ein konstruktiver Umgang mit der Irak-Frage wäre in dieser Hinsicht ein erster nötiger Schritt, denn die US-Regierung ist offenbar außerstande, sich von hegemonialen Interessen zu lösen. Darum wird sie von einer Mehrheit der Iraker als imperialistische Besatzungsmacht wahrgenommen, die vorzugsweise sich selbst schützt. Da unter diesen Umständen keine funktionierende Ordnungsmacht entstehen kann, ist es nur eine Frage der Zeit, dass die amerikanischen Truppen den Irak verlassen müssen. Jedweder Kompromiss im UN-Sicherheitsrat, der den US-Anspruch auf den Irak legitimiert, verlängert das Leid der Menschen - der Iraker und der US-Soldaten.

Deutschland und Frankreich sollten daher, ohne die USA vorzuführen, auf der absoluten Zuständigkeit der Vereinten Nationen auch als Ordnungsmacht beharren. Für die Sicherheit der Bevölkerung ist nicht die Anzahl der Soldaten entscheidend, sondern das Vertrauen in ihre Legitimität. Diesen Zweck könnte ein durch die UN autorisiertes und von islamischen Staaten wie Saudi-Arabien, Ägypten, Pakistan und Jordanien rekrutiertes Friedenskorps erfüllen, das neutrale europäische Staaten wie Schweden, Norwegen oder Österreich ergänzen. Die Mission einer solchen Ordnungsmacht bestünde darin, den Irakern so rasch wie möglich durch ein Übergangskabinett, eine verfassungsgebende Versammlung und Wahlen die Souveränität zurück zu geben. Je präziser und entschiedener dabei verfahren wird, desto besser wird dies für multilaterale weltpolitische Optionen sein.

Gleiches gilt für die Konflikte zwischen Israelis und Palästinensern, in Afghanistan oder Kurdistan. Die regionalen Kriege des vergangenen Jahrzehnts sind Symptome komplexer Konfliktstrukturen in den sensibelsten Zonen der Welt. Nur die Neuauflage einer Helsinki-Konferenz mit dem Ziel, eine Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (OSZMNO) zu etablieren, böte die Chance, diesen Großraum langfristig zu befrieden. Europa - im besonderen die EU - hätten als Inspiratoren eines solchen Projekts eine vorzügliche Gelegenheit, im Nahen Osten endlich eine von den US-Interessen unabhängige Position zu beziehen und die von Habermas und Derrida geforderte Kompetenz für eine Frieden stiftende Weltinnenpolitik innerhalb einer neuen Weltordnung zu beweisen. Auch das iranische Atomprogramm ließe sich in diesem Kontext verhandeln und könnte die EU darin bestärken, eine bislang wenig professionelle und opportunistisch an den USA ausgerichtete Position aufzugeben.

Es ist insofern an der Zeit, die OSZE nicht länger wie ein Vehikel der NATO zu behandeln, sondern zu revitalisieren. Der Nordatlantikpakt passt ohnehin weder in Amerikas unilateralistische Ordnung noch in die Architektur einer multipolaren Weltgebäudes, das als einen seiner tragenden Pfeiler auf den weltweiten Abbau von Massenvernichtungsmitteln angewiesen ist. Die völlige Abschaffung von Kernwaffen bezeichnet Joseph Rotblat, Träger des Friedensnobelpreises und Symbolfigur der Pugwash-Bewegung, als eine der nach wie vor dringendsten Menschheitsaufgaben, die auf die Agenda jeder Politik gehöre. Und die wirksamste Methode zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen ist nun einmal deren vollständige Vernichtung, zu der sich im Prinzip alle Atommächte im Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen verpflichtet haben. Es ist nicht nur unglaubwürdig und moralisch verwerflich, sondern auch praktisch wirkungslos, die Nicht-Atomstaaten daran binden zu wollen, das Monopol von Atomwaffenstaaten aber nicht anzutasten. Europa sollte aus Eigeninteresse zum Wortführer eines neuen Abrüstungsprozesses werden, denn mit den bestehenden Atomarsenalen und asymmetrischen Abhängigkeitsstrukturen wird die Lebensdauer des US-Hegemonialsystems nur verlängert.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass ein multipolarer Weltentwurf selbstredend eine gerechte Weltwirtschaftsordnung braucht. Ein System, das die eigene Wohlstandsvermehrung dadurch institutionalisiert, dass es andere daran hindert, ihren Hunger zu stillen, verwirkt seine moralische Legitimation. Die EU sollte endlich aufhören, ihre internen Wachstums- und Verteilungsprobleme mittels Handelsbarrieren und Subventionen vor allem im Agrarsektor zu Lasten der schwächsten Glieder in der Hierarchie der Weltökonomie zu lösen.

Eine multipolare Weltordnung kann durchaus Realpolitik sein, wenn der Wille dazu vorhanden ist. Stehen nicht Multilateralisten in Europa und Verfechter einer gerechteren Weltordnung in der ganzen Welt vor der schwierigen, jedoch perspektivreichen Aufgabe, durch eine eigene Gerechtigkeits- und Friedensethik die Herzen von Milliarden Menschen zu gewinnen? Gelingen kann das allerdings nur, wird die kulturelle Hegemonie der reichen Weltelite und des Unilateralismus gebrochen.

Quelle: Freitag - Die Ost-West-Wochenzeitung , Ausgabe 43 vom 17.10.2003. Wir bedanken uns bei Mohssen Massarrat für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Veröffentlicht am

20. Oktober 2003

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