Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

Ihre Spende ermöglicht unser Engagement

Spendenkonto:
Bank: GLS Bank eG
IBAN:
DE36 4306 0967 8023 3348 00
BIC: GENODEM1GLS
 

Vor 20 Jahren über 100 Kilometer Menschenkette

Vor 20 Jahren, im sogenannten “Heißen Herbst” 1983, fand in Süddeutschland eine aufsehenerregende Aktion statt: eine einhundert Kilometer lange Menschenkette von Stuttgart bis Neu-Ulm. Hunderttausende reichten sich die Hände und verbanden den Raketenstandort Neu-Ulm mit dem EUCOM in Stuttgart. Aus Protest gegen die damals kurz bevorstehende Stationierung neuer atomarer Mittelstreckenraketen. Der 20. Jahrestag am 22. Oktober: ein Anlass, nochmals an diese riesige Volksversammlung zu erinnern. Wir machen dies hier mit einem Artikel, den Uli Beer Bercher zum 10. Jahrestag der Menschenkette geschrieben hat.

Menschenkette Stuttgart / Neu-Ulm

Von Uli Beer Bercher

Es war nicht die erste - und es war auch nicht die längste. Aber es war sicher die Schönste: Die Menschenkette von Stuttgart bis Ulm am 22.10 1983. Inspiriert von einer wenigen Kilometer langen “human chain”, die die britische Friedensbewegung einmal organisiert hatte, schlug Ulli Thiel von der DFG-VK im Sommer 83 eine einhundert Kilometer lange Menschenkette zwischen Stuttgart und Neu-Ulm vor, um zwei Aktionsformen miteinander zu verbinden, die im heißen Herbst kontrovers gegeneinander diskutiert wurden: Eine Großblockade der Raketenstellungen in Neu-Ulm und die traditionelle Großkundgebung in Stuttgart. Gegen die Kette sprachen eigentlich vier gewichtige Argumente: Sie war keine kraftvolle Großkundgebung, wie wir sie alle kannten. Sie war auch keine Blockade, die doch die einzig wahre, radikalere Aktionsform war. Und außerdem war sie größenwahnsinnig: So viele Menschen würden sich niemals mobilisieren lassen, und die generalstabsmäßig Verteilung so vieler Menschen entlang einer hundert Kilometer langen Strecke könnten wir nie leisten. Und das letzte Argument lieferte der damalige Kultusminister und VfB-Präsident Mayer-Vorfelder: Zur gleichen Zeit wie der geplante Kettenschluss sollte der VfB gegen Bayern München spielen - beide Ereignisse zur gleichen Zeit überforderten die Polizei, die Friedensbewegung solle ihre Kette doch um einen Tag verschieben. Wo kämen wir denn hin, wenn der Frieden auf einmal wichtiger wäre als eine Fußballspiel ! Ja, wo kämen wir da hin … Sicher nicht nach Somalia. Aber das ist ein anderes Thema.

Die vier Argumente erwiesen sich nicht als durchschlagend: Die Kette wurde nach harten und langen Diskussionen beschlossen. Von den Funktionären und Platzhirschen der neuen Friedensbewegung eher zähneknirschend als kleineres Übel geduldet (weil weder Groß-Demo noch Blockade), stieß sie bei den Medien und an der Basis der Friedensbewegung auf helle Begeisterung: Die Kette regte die Phantasie vieler Menschen an, die Mobilisierung war bald ein reiner Selbstläufer. In Freiburg beispielsweise war der erste Sonderzug ausverkauft, bevor auch nur ein einziges Mobilisierungsplakat die Stadt verschönerte.

Kein Selbstläufer war die Organisationsarbeit im Vorbereitungsbüro: Regionen und Städte auf Streckenabschnitte verteilen, Züge buchen, Fahrpläne planen, Busparkplätze organisieren, Auftaktkundgebungen vorbereiten, tausend Kleinigkeiten für eine ganze Veranstaltungskette.

Dafür kam der politische Krach in den Vorbereitungs- und Trägergremien wie von selbst: Um Rednerinnen aus der damals noch existierenden DDR, um die Erwähnung von SS 20 auf “offiziellen” Plakaten der Kette, um “Friedensverhandlungen” mit der Polizei - und um tausend andere hochwichtige Dinge, deren Stellenwert heute für Außenstehende nicht mehr nachvollziehbar ist.

Trotzdem kam die Kette zustande - und der Minister musste sich von der Polizei überzeugen lassen, dass dieses eine Mal der Frieden doch ein bisschen wichtiger sei als der Fußball. Das VfB-Spiel wurde um ein paar Stunden verschoben. Und alles klappte wie am Schnürchen: Endlose Züge und Buskolonnen brachten mehrere hunderttausend Menschen an die Strecke von Stuttgart über Urspring bis Neu-Ulm. Zum verabredeten Zeitpunkt bewegten sich Ketten von den zahllosen Auftaktkundgebungen aus aufeinander zu - und dann kam der große Moment Hunderttausende reichten sich die Hände und verbanden den Raketenstandort Neu-Ulm mit dem EUCOM, dem europäischen NATO-Kommando in Stuttgart. Nirgendwo gab es Lücken, im Gegenteil: An manchen Stellen standen die Menschen in Dreierreihen oder wanderten großzügig über die gesperrten Straßen. Die Kette erfreute sich ausgesprochener Medien-Aufmerksamkeit: Es gibt eine lückenlose Photo-Dokumentation der gesamten Kette ebenso wie eine vollständige Video-Aufnahme aus der Luft - und unzählige Photos, Filme, Videos, lyrische bis enthusiastische Berichte in der Presse. Bild war ebenso dabei wie die Internationalen Medien bis nach Japan. Die Kette - der süddeutsche Höhepunkt des “Heißen Herbstes” 1983, stellte die gleichzeitig stattfindenden Aktionen in Bonn und Hamburg weit in den Schatten, sie war ein echtes Medien-Ereignis.

Sie demonstrierte unübertrefflich die Phantasie, das Engagement und die Organisationsfähigkeit der Friedensbewegung - und ihre Machtlosigkeit. Nach der Kette konnte nichts mehr kommen: Radikalere Aktionsformen, die mehr Druck auf die Regierungen ausgeübt hätten (Blockaden mit hunderttausenden Teilnehmerlnnen etwa), waren nicht durchsetzbar - und auf den zeichenhaften Protest der Millionen reagierte die Regierung nach dem Motto: “Die demonstrieren, wir regieren”. Der Bundestag beschloss die Stationierung der Mittelstreckenraketen, und der langsame Zerfall der Friedensbewegung begann.
Und ihre verdeckte Wirkungsgeschichte: Die Zahl der Kriegsdienstverweigerung wuchs unter dem Einfluss der Friedensbewegung auf ein Ausmaß, dass die Bundeswehr zum erstenmal in ihrer Geschichte in Personal-Engpässe brachte. In der Regierungkoalition setzten sich, unterstützt von einer abrüstungswilligen Bevölkerungsmehrheit, kompromissbereitere Kräfte (Genscheristen) gegen die “Stahlhelmer” durch, und sie sorgten dafür, dass Gorbatschows Abrüstungsangebote auf die Resonanz stießen, die letztlich zur Abrüstung der Mittelstreckenraketen und dem Ende des kalten Krieges führten.

Was blieb sonst: Für viele eine prägende Erinnerung. Noch heute kann man an manchen friedensbewegten Stammtischen Menschen von “damals” schwärmen hören, von den Zeiten der Menschenkette. Und zahllose Nachfolge-Aktionen: Menschenketten für und gegen alles und jedes, “Rands across America” mit Ronald Reagan in der Kette gegen die Armut in der USA (nicht vollständig - und nicht sehr erfolgreich) und Menschenketten für die Unabhängigkeit der baltischen Staaten, Ketten gegen Umweltzerstörung, Militär, für Demokratie und gegen Faschismus. Irgendwann zwischen “Hands across America” und den Lichterketten habe ich aufgehört, mitzuzählen.

Erstaunlich viele der Organisatoren sind heute immer noch aktiv (…). Und das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis: Die Kette hat vielen Kraft für den langen Atem gegeben - sie hat mitgeholfen, den Kern einer Bewegung zu schaffen, die auch jetzt noch da ist: Kleiner, weniger sichtbar als 1983, aber arbeitend. Man wird wieder von ihr hören.

Dieser Artikel wurde von Uli Beer-Bercher (DFG-VK Karlsruhe) für die “Friedensblätter” zum 10. Jahrestag der Menschenkette geschrieben.

Veröffentlicht am

11. Oktober 2003

Artikel ausdrucken

Weitere Artikel auf der Lebenshaus-WebSite zum Thema bzw. von