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Cemal Kemal Altun - “Zuflucht gesucht - den Tod gefunden”

Heiko Kauffmann (PRO ASYL) - Berlin 31. August 2003, Kirche zum Heiligen Kreuz

“Zuflucht gesucht - den Tod gefunden” - Fragen an die deutsche Flüchtlingspolitik

Beitrag zum 20. Todestag von Cemal Kemal Altun

“Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.” (Art. 1 (1) GG)
“Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.” (Art. 2 (2) GG)
“Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich … Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.” (Art. 3 (1), (3) GG)

Im Umgang mit Flüchtlingen und Minderheiten in Deutschland wurde und wird unschwer erkennbar, dass im Grundgesetz festgeschriebene Grundrechte und einige wesentliche, von der Bundesrepublik anerkannte und ratifizierte Menschen- und Völkerrechtsstandards in vielen Fällen nicht gewährleistet bzw. nicht umgesetzt werden. Die Würde von Flüchtlingen ist antastbar, ihre Freiheit verletzlich und ihre Gleichheit anfechtbar geworden. Cemal Kemal Altun wurde vor 20 Jahren Opfer dieser Diskrepanz zwischen den von der Verfassung verheißenen Rechten und der Realität ihrer Inanspruchnahme, Opfer der zunehmenden Kluft zwischen Recht und Humanität.

Trifft nicht auch heute im Fall vieler ?Abschiebehäftlinge’, deren Angst vor Abschiebung identisch ist mit ihrer Angst vor Verfolgung, Folter und Tod, zu, was Peter Doebel am Todestag von Cemal Altun im ?heute-Journal’ in seinem Kommentar fragte: “… Musste er bei uns an dieser Angst sterben? Steht nicht im Grundgesetz: Politisch Verfolgte genießen Asyl? Steht da nicht auch, dass hier jeder Mensch die Gerichte zu Hilfe rufen darf? Es steht da. Aber wir müssen darüber nachdenken, warum Cemal Altun diesen Garantien unserer Verfassung nicht getraut hat … Nachdenken müssen Gesetzgeber, Gerichte, Behörden. Sie alle haben dazu beigetragen, dass klare menschliche Grundsätze unseres Staates unter einer Fülle von Wenns und Abers, von Gesetzen und Verordnungen und undurchschaubaren Urteilen bis zur Unkenntlichkeit verschüttet werden.”

Bis heute bleiben Fragen an die deutsche Politik:

> Was bleibt von der menschlichen Würde, wenn man Flüchtlinge wie Cemal Altun, die ein Grundrecht in Anspruch nehmen, wie Schwerverbrecher gefesselt in Handschellen zur Verhandlung im Widerspruchsverfahren führt oder wenn “Ausländer”, bis heute, von Politikern ungestraft und absichtsvoll pauschal als “kriminell” und “illegal” herabgesetzt oder instrumentalisiert werden können in jene, “die uns nützen”, und jene, “die uns ausnützen” (Beckstein)?

> Was bleibt von der unverletzlichen Freiheit, wenn man Flüchtlinge wie Cemal Altun in über 13 Monaten Auslieferungshaft zermürbt oder wenn bis heute Flüchtlinge, die keine Straftat begangen haben, bis zu 1 1/2 Jahren in Abschiebegefängnissen - den dunkelsten Orten unserer Demokratie - in Verzweiflung gestürzt werden?

> Was bleibt von den Verfassungsnormen des Gleichheitsgrundsatzes, eines fairen Verfahrens und des Diskriminierungsverbots, wenn man - wie im Fall von Cemal Altun - Militärdiktaturen Akteneinsicht und Amtshilfe gewährt oder wenn man bis heute Flüchtlinge in Zwangsvorführungen Botschaftsangehörigen oder Vertretern von Unrechtsregimen zum Verhör in quasi “rechtsfreien Räumen” überlässt?

> Was bleibt vom Bestreben unserer Verfassungsväter und -mütter, mit dem Artikel 16, Recht auf Asyl - des alten, unversehrten Art. 16 - neue Maßstäbe internationaler Humanität und einer menschenrechtsorientierten Flüchtlingspolitik zu setzen - angesichts der Maxime deutscher Flüchtlingspolitik, von Zimmermann über Kanther bis hin zu Schily, Flüchtlinge abzuschrecken, ihnen den Zugang zu verwehren oder sie so schnell wie möglich wieder los zu werden, egal wohin mit allen Mitteln um fast jeden Preis.

Wenn ein Staat, der in seiner Verfassung ein kategorisches Nein zu Folter, Todesstrafe und unmenschlicher Behandlung sagt, bereit ist, wehrlose Menschen in seiner Obhut an Staaten auszuliefern, in denen ihre Unversehrtheit nicht gewährleistet ist, macht er sich mitschuldig. Nicht nur der Staat, der foltert, verletzt die Menschenrechte. Auch der Staat, der bereit ist, wehrlose Menschen in Staaten abzuschieben, in denen ihnen Haft, Folter, Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder die Todesstrafe drohen, verletzt die Menschenrechte.

Das galt vor 20 Jahren und das gilt auch noch heute. Seitdem hat sich für Flüchtlinge nichts zum Besseren, aber vieles zum noch Schlechteren entwickelt. Dazu stichwortartig ein kurzer Rückblick:
> 1980 brannten die ersten Flüchtlingsheime in Deutschland; die Sinusstudie belegte 1981 bei 13 Prozent der wahlberechtigten Bundesbürger ein “ideologisch geschlossenes rechtsextremistisches Weltbild”, über 6 Prozent der Wahlbevölkerung befürworteten rechtsextremistische Gewalttaten.
> 1981/82 verbreitete sich das von rechtskonservativen Hochschullehrern verfasste “Heidelberger Manifest” in dem - in der Form eines wissenschaftlich verkleideten Rassismus - auf demagogische Weise Ausländerfeindlichkeit geschürt und eine Pogromstimmung gegen Migrant/Innen und Flüchtlinge erzeugt wurde.

Gleichzeitig wuchs die Zahl von Anfeindungen, tätlichen Angriffen und einer systematischen Stimmungsmache gegen Migrant/Innen und Flüchtlinge weiter an.

Verfassungsschutz und Politik waren also durch diese Daten und Entwicklungen hinreichend vor der Gefahr eines gewalttätigen Rechtsextremismus in Deutschland gewarnt. Dass dies als wesentliche Herausforderung der Politik (der sozial-liberalen Regierung) erkannt wurde, bewies der damalige Innenminister Gerhard Baum noch kurz vor dem Regierungswechsel am 19. August 1982, als er der Öffentlichkeit eine umfassende Darstellung über den Zusammenhang zwischen Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit vorlegte und dazu erklärte: “Gerade in der Bundesrepublik ist der Rechtsextremismus, der sich auf Ausländerfeindlichkeit konzentriert, mit höchster Sensibilität und Aufmerksamkeit zu verfolgen. Schon einmal in der jüngsten deutschen Geschichte ist der Rassismus zum ?Staatsprinzip’ erhoben worden. Alle Anfänge eines neuen Rassismus müssen von allen Demokraten mit Nachdruck bekämpft werden.”

Diese eindringliche Mahnung hinderte weder den neuen Bundeskanzler kurz nach der Übernahme der Regierungsverantwortung im Oktober 1982, von einer “zu großen Zahl von Türken” in Deutschland zu sprechen, die halbiert werden müsste, noch seinen Innenminister Friedrich Zimmermann, die Stimmung weiter anzuheizen und die genannten Gefahren und Tätlichkeiten zu verharmlosen und “herunterzureden”: “Wer leichtfertig von Ausländerfeindlichkeit spricht, redet Ausländerfeindlichkeit herbei” erklärte Zimmermann in Zirndorf (DIE Welt, 14.12.1982)

In seinem am 1. März 1983 vorgelegten Ausländerbericht ist denn auch mehr von illegal eingereisten, kriminellen, das soziale Netz missbrauchenden Ausländern die Rede als etwa vom Ziel der Integration. Die amtliche Ausländerpolitik, Reden und Handeln der Regierungspolitiker, näherten sich vielmehr Forderungen aus dem ?Heidelberger Manifest’ immer mehr an, während die öffentliche Hetze, ausländerfeindliche Straftaten und rassistische Anschläge unvermindert anhalten -; in gleichem Maße nahmen Angst, Verunsicherung und Verzweiflung bei Migrant/Innen und Flüchtlingen zu.

Vor diesem Hintergrund sah sich die damalige Beauftragte der Bundesregierung, Liselotte Funcke, genötigt, am 2. Mai 1983 - also zu einem Zeitpunkt, als die Bundesregierung die Auslieferung Cemal Altuns bereits bewilligt hatte (21. Februar 1983) und am selben Tag, an dem die Europäische Kommission für Menscherechte in Straßburg die gegen die Auslieferung erhobene Beschwerde zuließ - einen politischen ?Brandbrief’ an Bundeskanzler Kohl zu richten, in dem es hieß:
“Die Ausländerpolitik ist zu einem brennenden außen- und innenpolitischen Thema geworden. In der deutschen Bevölkerung wird die Erwartung genährt, dass die Zahl der Ausländer fühlbar gesenkt werden würde oder könnte, im Ausland erzeugt die Diskussion um restriktive Maßnahmen Befürchtungen, Abwehr, Feindseligkeit und den Verdacht neuer nazistischer oder rassistischer Strömungen. In hohem Maße verunsichert aber sind die hier lebenden Ausländer durch ausländerfeindliche Parolen und Aktionen einerseits, aber auch nicht weniger durch täglich neue Vorschläge von Politikern, die eine Zurückdrängung, Begrenzung oder Abschiebung zum Ziele haben. Es ist zu befürchten und auch zu beobachten, dass extremistische Gruppen von Deutschen und Ausländern versuchen, diese Ängste und Unsicherheiten politisch in ihrem Sinne zu nutzen.”

Was hier vor 20 Jahren kritisiert wurde, gilt im Prinzip auch heute: Das ganze Elend und Unheil der deutschen ?Ausländer’- und Flüchtlingspolitik bestand und besteht darin, dass die Politik immer wieder einschneidende Maßnahmen gegen Rechtsradikalismus und Gewalt ankündigt, diese ?einschneidenden Maßnahmen’ aber nicht gegen die Täter und die Verursacher von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus richtet, sondern Maßnahmen gegen Migrant/Innen und Flüchtlinge ergreift.

Die Politik hat es über zwei Jahrzehnte versäumt, ernsthaft die Ursachen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt zu bekämpfen. Der sog. Asylkompromiss - die Grundgesetz-Änderung vor 10 Jahren sollte vornehmlich der “Eindämmung” rechter Gewalt dienen. Er bewirkte jedoch eine weitere “Eindämmung” der Rechte von Flüchtlingen und eine Aushöhlung des Flüchtlingsschutzes. Statt sich mit den Ursachen des Rassismus zu befassen und sich offensiv mit ihm auseinander zu setzen, wurden weitere Maßnahmen gegen Flüchtlinge und Minderheiten ergriffen, die gleichzeitig einen ?Wettlauf der Schäbigkeiten’ auf europäischer Ebene eröffneten.

Durch die 1993 in Kraft getretenen Verschärfungen im Asyl- und Leistungsrecht, durch eine immer engere Definition von politischer Verfolgung und restriktivere Auslegung von Verfolgungstatbeständen, durch immer höhere inhaltliche und formale Hürden bezüglich der Asylerheblichkeit, durch wirklichkeitsfremde Bewertungsmaßstäbe wurden immer mehr Flüchtlinge aus dem Schutzbereich des Asyls hinausgedrängt und ihnen die Anerkennung versagt.

Der von den Kirchen, von Menschenrechtsorganisationen und wiederholt auch von internationalen Gremien - wie dem UN-Ausschuss zur Beseitigung der Rassendiskriminierung und der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) - heftig kritisierte Umgang mit Flüchtlingen in Deutschland ist ein Spiegelbild des politisch und gesellschaftlich transportierten und akzeptierten Rassismus.

Strukturelle und institutionelle Ungleichheiten verletzen nicht nur die Menschenrechte der Flüchtlinge. Sie sind auch der Nährboden für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und rechtsextreme Gewalt. Wissenschaftliche Studien, aber auch gerade die historischen Erfahrungen aus dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte - belegen den Zusammenhang zwischen staatlichem, institutionellem Rassismus und dem alltäglichen Rassismus des Einzelnen.

Nelson Mandela erklärte in seiner Verteidigungsrede vor Gericht, 1962:
“Im eigentlichen Wortsinn bedeutet Gleichheit vor dem Gesetz das Recht auf Beteiligung an der Erstellung der Gesetze, denen man unterworfen ist, bedeutet eine Verfassung, die allen Gruppen der Bevölkerung demokratische Rechte garantiert.”
Cemal Kemal Altun hätte nicht sterben müssen, wenn diese Garantie demokratischer Rechte Maßstab deutscher Politik gewesen wäre.

Die Garantie demokratischer Rechte, die Verwirklichung humaner Lebensbedingungen für alle Menschen als Maßstab jeder Politik bedeutet konkret: das Recht jedes Menschen, überhaupt Rechte zu haben und sie in Anspruch nehmen zu können; das Recht jedes Menschen, menschenwürdig leben zu können; das Recht zu arbeiten wie ein Mensch; lernen zu können wie ein Mensch; zu wohnen wie ein Mensch; sich frei bewegen zu können wie ein Mensch; wie jeder - hier oder dort geboren - Schwarz oder Weiß, Christ oder Moslem, am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können!

Der Tod von Cemal K. Altun wurde 1983 von den verantwortlichen christdemokratischen Regierungspolitikern, von Kohl bis Zimmermann, als “bedauerlicher Einzelfall” bezeichnet, aber er war nur der erste von inzwischen weit über 100 Flüchtlingen, die sich aus Angst und Verzweiflung vor ihrer Abschiebung in das gefürchtete Verfolgerland selbst töteten. Sie alle hätten nicht sterben dürfen und müssen, wenn rechtsstaatliche und menschenrechtliche Grundsätze und Menschlichkeit den Umgang Deutschlands und seiner Behörden gegenüber Flüchtlingen bestimmen würden und nicht eine rechtlich abgesicherte, ?demokratisch’ legitimierte Erniedrigung von Menschen.

Freiheitsentzug ohne Straftatbestand, das gesamte gegenwärtige System der Abschiebungshaft ist für einen sich als rechtsstaatliche Demokratie definierenden Staat in jedem Fall wohl das eklatanteste und empörendste Beispiel eines institutionellen staatlichen Rassismus in Deutschland.

Diese Toten im Abschiebe-Gewahrsam oder aus Angst vor ihrer Abschiebung sind nicht nur Folge verschärfter Asylgesetze durch die Vorgängerregierung; sie werfen vielmehr auch ein grelles Licht auf die Kontinuität einer Politik der Abwehr, Ausgrenzung und Kriminalisierung von Flüchtlingen unter Rot-Grün. Die über 35 Toten seit dem Regierungswechsel im Herbst 1998 sind auch eine “Anklage” gegen die rot-grünen Nachfolger, die sich - wider besseres Wissen und gegen ihre eigenen Versprechungen, u.a. im Koalitionsvertrag von 1998 - bisher zu keiner Korrektur an diesem zermürbenden und tödlichen System der Abschiebungshaft und der Abschiebepraxis durchringen konnten.

Der Tod Cemal K. Altuns markierte eine tiefe Besorgnis auslösende Entwicklung des demokratischen Rechtsstaats Bundesrepublik Deutschland. Dies zeigt am Beispiel der Entwicklung der Asylpolitik. Das rechtsstaatliche Bewusstsein, die Identität der damals engagierten Anwälte, Menschenrechtler und kirchlichen Aktivisten gründete auf der Überzeugung, dass das Asyl- und Verfassungsrecht weitere restriktive Einschnitte kaum mehr zulassen würde. Sie forderten eine schnelle Änderung der das Grundrecht auf Asyl einschränkenden bzw. behindernden Gesetze und eine Veränderung der Behandlung von Asylsuchenden durch die Behörden. Dass die geforderte Änderung des Grundrechts auf Asyl sich in eine ganz andere Richtung - bis zu seiner völligen Demontage - entwickeln und die “Behandlung der Flüchtlinge” zu ihrem weitgehenden Ausschluss aus der Gesellschaft führen könnte, erschien 1983 selbst Christdemokraten noch unvorstellbar.

Gleichzeitig skizziert diese Entwicklung - in der Folge zunehmender weltpolitischer und wirtschaftlicher Umbrüche in den 80er / Anfang der 90er Jahre - das erfolgreiche Bemühen und die Beharrlichkeit der restaurativen politischen Kräfte, mit ihrem Abschottungskonzept einer “geistig-moralischen Erneuerung” und der Ideologie der “Homogenisierung des deutschen Volkes” den - aufgrund dieser neuen Herausforderungen vorgezeichneten und einzig gangbaren - Weg in eine interkulturelle demokratische und sozialintegrative Gesellschaft mit gleichen Chancen, Rechten und Perspektiven für alle Bürgerinnen und Bürger zu verbauen. Der repressive Umgang mit Flüchtlingen und Asylrecht wurde zunehmend zum Seismographen für das aufgeladene, Ressentiment-behaftete Klima im Land.

Er ging einher mit einer wachsenden Zahl rechtsextremistischer Gruppen, begleitet von immer zahlreicheren und heftigeren Angriffen auf Flüchtlinge und Minderheiten. In Dutzenden von Asylrechtsänderungen seit Beginn der 80er Jahre wurde das materielle Recht unerbittlich eingeschränkt. Flüchtlinge wurden “zu Objekten der Überwachung und Fürsorge” (Alfons Söllner).

Dies, obwohl sich die Kirchen, Verbände, Menschenrechts- und Flüchtlingsorganisationen, Gewerkschaften und Juristenvereinigungen in den vielen Anhörungen des Innenausschusses des Dt. Bundestages, in Expertenrunden und öffentlichen Stellungnahmen mehrheitlich immer für den Erhalt des Art. 16 GG, für eine Verbesserung des Flüchtlingsschutzes und der Behandlung von Flüchtlingen eingesetzt hatten. In der Tat legen die Archive des Dt. Bundestages beredtes Zeugnis von der fachlichen, rechtlichen, politischen und moralischen Kompetenz und Überzeugungskraft der Mehrheit dieser Experten ab. Die politischen Entscheidungen folgten indessen in der Regel den reaktionärsten Mindermeinungen, was die Zweifel an dieser Art “parlamentarischer Inszenierungen” und an der Legitimität solcher Entscheidungen weiter verstärkte.

Viele Vertreter/Innen dieser Gruppen hatten sich in der Folge den zivilen Gegenkräften außerhalb des Parlaments in der Flüchtlings- und Menschenrechtsarbeit angeschlossen. So geht etwa die Gründung von “Asyl in der Kirche” Berlin unmittelbar auf die Zusammenarbeit im Unterstützungskomitee für die Freilassung Cemal Altuns zurück. Und auch bundesweit setzten nach dem Tod von Cemal Altun Bemühungen um weitreichende Vernetzungen, Koordination und Zusammenarbeit in der Flüchtlingsarbeit ein: von ad-hoc-Bündnissen wie zum 40. Jahrestag der Befreiung mit Anzeigen “Hände weg vom Asylrecht” (initiiert u.a. von amnesty international, der AWO und terre des hommes und unterzeichnet von über 100 Persönlichkeiten, darunter der Abgeordnete Otto Schily), über die “Konferenzen der Freien Flüchtlingsstädte”, über regionale und landesweite Gründungen von Flüchtlingsräten, bis zu regelmäßigen Treffen der in der Flüchtlingsarbeit tätigen Verbände im Umfeld von UNHCR und ZDWF in Bonn. Nach diversen Anläufen in verschiedenen Richtungen mündeten diese Bestrebungen schließlich in der Gründung der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge PRO ASYL im September 1986. Damit war ein breites zivilgesellschaftliches Bündnis für den Erhalt des Art. 16 GG, gegen die beispiellose Instrumentalisierung von Flüchtlingen, gegen den Missbrauch sozialer Ängste, das Schüren von Vorurteilen, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus geschmiedet.

Nach der Niederlage im Kampf um den Erhalt des Asylgrundrechts vom 26. Mai 1993 intensivierte sich die Arbeit von PRO ASYL gegen die weitere Einschränkung des Asylrechts und des Flüchtlingsschutzes auf nationaler wie auf europäischer Ebene, wo ein Wettlauf zur Verhinderung von Fluchtbewegungen und um die Herabsetzung asylrechtlicher Standards begonnen hatte: Harmonisierung auf niedrigstem Niveau! Eine Asylpolitik, die nicht mehr vom Geist der Abwehr, Ausgrenzung und Kriminalisierung schutzsuchender Menschen - mit verheerenden Folgen für die Entwicklung und die Zukunft von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten - getragen war, schien erst mit dem Regierungswechsel zu Rot-Grün in Sicht zu kommen.

Die zentralen Forderungen anlässlich des Regierungswechsels 1998 von PRO ASYL, Menschenrechtsorganisationen, Kirchen, Gewerkschaften und Wohlfahrtsverbänden an die Bundesregierung und Rot-Grün bleiben nach dem (vorläufigen) Scheitern des Zuwanderungsgesetzes aktuell. Ihre Umsetzung, ergänzt um weitere Forderungen, die sich aus der Debatte über das neue Zuwanderungsgesetz ergeben, könnten erste Schritte auf dem Weg zu einer menschenrechtsorientierten Asyl- und Flüchtlingspolitik sein (vgl. PRO ASYL “Mindestanforderungen an neues Asylrecht”, 1998).

Dazu gehören: Die Rückkehr zu den internationalen Standards des Flüchtlingsrechts, die uneingeschränkte Geltung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention, die Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgungsgründe, die Umsetzung bindender Völkerrechtsdokumente - wie z.B. die UN-Kinderrechtskonvention und das Internationale Abkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung. Weitere Schutzanforderungen sind u.a.: Besserer Schutz besonders gefährdeter Flüchtlingsgruppen, eine Härtefall-Regelung im Ausländergesetz, eine “Altfall-Regelung”, Mindeststandards im Asylverfahrensrecht, ersatzlose Streichung des sogenannten Flughafenverfahrens, die Abschaffung der gegenwärtigen Abschiebungspraxis und die ersatzlose Streichung des Asylbewerberleistungsgesetzes.

Ohne in diesem Beitrag ausführlich auf das neue Zuwanderungsgesetz einzugehen (vgl. dazu: PRO ASYL: “Viel Schatten, wenig Licht”), ist im Ergebnis doch festzuhalten, dass auch Rot-Grün - gewiss neben wichtigen Verbesserungen, z.B. bei der Anerkennung nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung oder bei der Einführung einer ?Härtefallregelung’ - keine wirklich essentiellen, nachhaltigen Schritte unternimmt, um dieses im besten (Wort-) Sinne “Zuwanderungsbegrenzungsgesetz” vom Ruch eines vorurteilsbestimmten, interessengeleiteten Sondergesetzes für unerwünschte Personen zu befreien.

Alle politischen Richtungen sprechen zurzeit von dem Ziel der “Integration”. Die Regierungskoalition hat in ihrem Koalitionsvertrag von 2002 sogar ein “Jahrzehnt der Integration” ausgerufen. Wenn dies wirklich ernst gemeint ist, muss eine glaubwürdige Politik bei den Menschen ansetzen, die sich faktisch seit vielen Jahren in Deutschland aufhalten. Wir schlagen vor, dass Regierung und Opposition gemeinsam die Chance ergreifen, nach dem Scheitern des Zuwanderungsgesetzes die Neufassung mit einer Bleiberechtsregelung zu versehen oder sie unabhängig davon zu beschließen. Hier besteht dringendster politischer Handlungsbedarf für ein menschenwürdiges, gleichberechtigtes Leben von Hunderttausenden Menschen in Deutschland. Dieses Recht auf Bleiberecht, wie es von einem breiten Bündnis aus Kirchen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Menschenrechtsorganisationen und Betroffenen in einer bundesweiten Kampagne getragen wird, ist der aktuelle Prüfstein für die deutsche Flüchtlingspolitik 2003, endlich Lehren zu ziehen und den politischen Willen zu bekunden, sie wieder auf einen menschenrechtlich und grundgesetzlich geforderten Weg im Sinne von Art. 1,2 und 3 des Grundgesetzes zu führen (vgl. PRO ASYL “Hier geblieben! Recht auf Bleiberecht.”).

Schon zu Lebzeiten Cemal K. Altuns wurde die Asylpraxis in der Bundesrepublik Deutschland ihrem verfassungsrechtlichen Gebot nicht mehr in vollem Umfang gerecht. Seitdem hat sich für Flüchtlinge in Deutschland nichts zum Besseren, aber vieles zum Schlechteren gewendet.

Mit der allmählichen Ausgliederung von Flüchtlingen aus dem allgemeinen Recht, mit Dutzenden von Asylrechtsänderungen - jeweils als “Reform” deklariert - seit Beginn der 80er Jahre, mit der Installierung neuer Sondergesetze (Asylverfahrensgesetz, Asylbewerberleistungsgesetz), mit Sonder-Vorschriften, Sonder-Erlassen und Sonder-Richtlinien wurden und werden Flüchtlinge in Deutschland einer “faktischen Sonderbehandlung mit räumlicher Abtrennung aus der Gesellschaft unterworfen” (Sigrid Töpfer in Jäger/Kauffmann: “Leben unter Vorbehalt”). Sonderbehandlung: Unterbringung, “Residenz”pflicht, eingeschränkte Versorgung, medizinische Ausgrenzung, Lager, Kontrolle, Überwachung, Abschiebung. Verstöße führen zur Kriminalisierung und Illegalisierung von Betroffenen, zu Abschiebungshaft, Zwangsvorführungen bis hin zu Auslieferung oder Abschiebung. Längst arbeitet der “Rechtsstaat” mit dem Verfolgerstaat zusammen, erkundet Fluchtrouten, schließt “Rückübernahme-Abkommen”, führt Flüchtlinge in einem fortschreitenden Prozess der Segregation in immer extremere Räume der Gesellschaft bis hin zur ?externen’, geographischen Segregation militärisch bewachter Flüchtlingslager im Niemandsland zwischen Krieg und Frieden. “Regionalisierung” des Flüchtlingsproblems mit militärischen Mitteln, von Innenministern abgestimmte Aktionspläne zur Verhinderung der Aufnahme von Flüchtlingen, eine systematisch gegen Fluchtbewegungen und Flüchtlinge abgestimmte Militär- und Sicherheitspolitik, “heimatnahe” Unterbringung in Lagern (Blair-Konzept). Militärisch gesicherte exterritoriale Lager der Armut, Ausgrenzung, Recht- und Gesetzlosigkeit einerseits, Festungen des Wohlstands und der “Rechtsstaatlichkeit” andererseits: Droht dies zum Normalfall, zur Realität des Flüchtlings im 21. Jahrhundert zu werden?

Politische ?Stigmatisierungen’ von Minderheiten haben schon immer den Volkszorn angestachelt. Sie signalisieren dem Normalbürger, insbesondere den Verlierern gesellschaftlicher Deregulierungsprozesse: “Diese Menschen sind hier unerwünscht; sie gehören nicht dazu!” Von diesem Bewusstsein bis zur Tätlichkeit ist oft kein weiter Schritt!

So wichtig es war und ist, dass die Bundesregierung gegen einen in der Öffentlichkeit militant und gewalttätig auftretenden Rassismus mobil macht, so muss nach 5 Jahren Rot-Grün, angesichts einer unverändert hohen Zahl in der Öffentlichkeit kaum noch beachteter rechtsextremistischer Straftaten kritisch hinterfragt werden, ob das von ihr ins Leben gerufene “Bündnis für Demokratie”, ob Projektförderungen und Auszeichnungen mit Feiertagsreden am Verfassungstag, ob Appelle des Innenministers zur Wachsamkeit und Zivilcourage Einzelner nicht bei weitem zu kurz greifen, weil und insofern der staatliche, institutionelle Rassismus von der deutschen Politik systematisch ausgeblendet, ja geradezu tabuisiert wird?

Nach dem 3. Jahrestag des “Aufstands der Anständigen” - vom Bundeskanzler und von den Medien nach Anschlägen auf jüdische Flüchtlinge im Sommer 2000 aufwändig inszeniert -zieht Frank Jansen das bittere Fazit: “Der Aufstand gegen den Anstand geht weiter mit unverminderter Brutalität. Vom Aufstand der Anständigen hingegen ist fast nichts mehr zu spüren. In Medien und Politik werden rechte Gewalt und rassistische Schikanen meist nur noch als Randphänomen behandelt. Seit dem 11. September erscheinen sie noch kleiner … Die Bundesrepublik ist offenkundig wieder da, wo sie vor dem Sommer 2000 war in einem Zustand des Wegsehens, der Gleichgültigkeit und der Gewöhnung an den täglichen Angriff auf Menschenrechte im eigenen Land.” (Frank Jansen, “Aufstand gegen den Anstand”, Leitartikel in: “Der Tagesspiegel” vom 6.8.2003)
Ein vernichtendes Urteil über die Defizite und das Scheitern der Flüchtlings- und Menschenrechtspolitik der rot-grünen Regierung, die ja gerade in Berufung und aus der Betonung einer größeren Beachtung der Menschenrechte ihre Legitimation beziehen wollte.

Der notwendige offene gesellschaftliche Diskurs im Zusammenhang mit der Einwanderungsdebatte und der allseits geforderte Paradigmenwechsel sind nicht eingetreten. Sie wurden durch die restriktiven Entwürfe Schilys, der dieser Debatte schnell den Deckel überstülpte, aktiv verhindert. Allenfalls wurde der unheilvolle deutschnationale Geist Kanthers und dessen Ziel der “Homogenität des dt. Volkes” durch ein ökonomistisch bestimmtes, neoliberales Menschenbild ersetzt: “würdig” ist, was “nützlich” ist.

Von einem Innenminister, der glaubt, Rassismus und Rechtsextremismus allein durch die Zivilcourage der Bürger/Innen eindämmen zu können, ist zumindest selbst soviel an eigener Courage zu erwarten, dass er - als Innenminister - wenigstens das hält, was er als oppositioneller Abgeordneter versprochen hatte: “… Abschiebungshaft muss rechtsstaatlichen und humanitären Grundsetzen genügen. Leider entspricht die gängige Abschiebepraxis diesen Anforderungen allzu häufig nicht. Das müssen wir ändern. Nicht zuletzt mahnen uns die tragischen Todesfälle in der Abschiebehaft, die Abschiebepraxis zu überprüfen. Die Menschenrechte sind unteilbar, auch bei uns zuhause.” (Schily in “Die Woche”, 24.3.95)

Schily selbst weiß also um den Skandal der von ihm zu verantwortenden Politik. Zwar ist es ihm gelungen, das Thema ?Rassismus’ aus dem öffentlichen Diskurs und im Alltag mehr und mehr zu verdrängen - allerdings um den Preis eines Gesetzes, “das Zuwanderung so sehr begrenzt, wie es sich rechtskonservative und rechtsextreme Kreise nur wünschen könnten … Dies geschah jedoch zu Lasten demokratischer Einwanderungspolitik.” (Siegfried Jäger, Mediale Feindbildkonstruktionen nach dem 11. Sept. 2001, Vortrag bei der Jahrestagung der “Deutschen Vereinigung für politische Bildung”, 7.3.03 Braunschweig, unveröffentlichtes Manuskript). Siegfried Jäger zieht das Fazit: “Rassismus ist zwar im öffentlichen Diskurs und im Alltag zurückgedrängt worden; dafür hat er sich aber in der Mitte der Gesellschaft fortsetzen können. Wir können davon ausgehen, dass ein institutioneller Rassismus gestärkt worden ist und durch das neue Einwanderungsgesetz vertieft wird.” (ebenda)

Kaum unverschlüsselt übt denn auch das Deutsche Institut für Menschenrechte bei der Vorstellung seiner Ende Juli 2003 veröffentlichten Studie “Diskriminierung und Rassismus” deutliche Kritik an der Politik der Bundesregierung: Es fehle in Deutschland “an der Entschlossenheit bei der umfassenden Bekämpfung des Übels; es fehlten korrigierende Eingriffe des Staates und es fehle an der Bereitschaft des Gesetzgebers, auf diesem Gebiet seine Hausaufgaben zu machen.” (FR, 1.8.2003)

Auch die vom Europarat eingesetzte Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) hatte der Bundesregierung schon im Juli 2001 - gegen den wütenden Protest von Innenminister Schily - bescheinigt, “dass Themen wie Rassismus, Antisemitismus, Fremdenhass und Intoleranz erst als solche erkannt und bekämpft werden müssen.”
Die harsche Kritik des Innenministers und sein (peinlicher) Versuch der Zurückweisung dieses Berichts belegen nicht nur, dass hier der wunde Punkt der regierungsamtlichen Ausländer- und Flüchtlingspolitik getroffen wurde. Er unterstreicht die Zweifel und die berechtigte Kritik von Menschenrechts- und UN-Organisationen, wenn es etwa heißt: “Der bevorstehende Gesetzesrahmen und die politischen Maßnahmen haben sich als unzureichend bei der wirksamen Bekämpfung dieser Probleme erwiesen. Besonders besorgniserregend sind die Situation von und die Einstellung gegenüber denen, die als “Ausländer” betrachtet werden, die unzureichenden Maßnahmen für die Integration und die fehlende Anerkennung, dass die deutsche Identität mit anderen Identitätsformen als den traditionellen einhergehen kann.” (zit. nach Berichten der Süddeutschen Zeitung, FR, TAZ, DIE WELT, FAZ, Rhein. Post vom 9. Juli 2001)

Lehrt nicht gerade auch die unheilvolle Seite der deutschen Geschichte, dass jeder Terror im Kleinen anfängt? Dass, was heute nur nach Schikane und Benachteiligung aussieht, morgen schon gezielte Ausgrenzung und systematische Diskriminierung sein kann? Dass, wo heute “nur” Vorurteile geschürt und Wählerstimmen mobilisiert werden, morgen schon der “Volkszorn” zuschlagen kann?

Alisa Fuss, die verstorbene ehemalige Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte, Berlin, die den Holocaust überlebte, weil sie Deutschland als Kind verlassen konnte, drückte dies einmal in eindringlichen, einfachen und klaren Worten aus, als sie (sinngemäß) sagte: “Wer die Lehre aus dem Holocaust beherzigen will, muss heute Gesetzen und einer Politik misstrauen, welche Menschen nach Eigenschaften, Herkunft oder Religion mit dem Ziel ihrer Herabsetzung, Beeinträchtigung, Kränkung oder Entwürdigung unterscheidet.” Sie hat sich bis zu ihrem Tod für das Andenken und das Vermächtnis Cemal Altuns eingesetzt.

Und Hermann Langbein, Auschwitz-Überlebender und Chronist des Widerstandes in den Konzentrationslagern, erklärte kurz vor seinem Tod: “Ja, nie wieder Auschwitz, aber das ist keine Sache von salbungsvollen Reden. Die Rassenideologie ist wieder auf dem Vormarsch, in Deutschland, in Österreich; die Menschen werden wieder eingeteilt. Die Lehre von Auschwitz ist: die Menschen nie mehr einteilen. Und: die Verantwortung für sein eigenes Handeln erhalten.”

Deshalb müssen wir heute erkennen, dass auch die Demokratie, der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat brüchig wird, wenn Schutz und Hilfe suchende Menschen das, was ihnen in Deutschland nach der Flucht widerfährt, als unerwartete Fortsetzung erlebter Schikanen und Verletzungen im Herkunftsland erfahren müssen. Eine Demokratie wird brüchig, wenn einem politischen Flüchtling sein Tod in diesem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat ihm als letzter und einziger Weg in die Freiheit erscheint.

Der Tod Cemals war ein “Zeichen an der Wand”, ein letztes verzweifeltes Zeichen an die Politik innezuhalten und umzukehren. Die Verantwortlichen haben dieses Zeichen nicht verstanden und keine Lehren aus seinem Tod gezogen. Die verhängnisvolle institutionelle Maßnahmepolitik gegen Flüchtlinge nahm ihren unheilvollen Lauf. Die deutsche Asylpolitik ist für viele Flüchtlinge zum Inbegriff einer amtlich legitimierten Herabsetzung und “Entwürdigung” von Menschen geworden - Ausdruck einer demokratisch abgesicherten, rechtlich verbrämten Menschenverachtung.

Das ganze gegenwärtige System der Abschiebungshaft und der Abschiebepraxis, Freiheitsentzug ohne Straftatbestand, Strafe ohne Rechtsgrund und ohne Rechtsschutz ist in einer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie das eklatanteste Beispiel eines institutionellen staatlichen Rassismus.

Deshalb ist es an der Zeit, dass die Zivilgesellschaft bewusster, hellhöriger, sensibler, wachsamer und widerständiger wird, wenn mit den Mitteln des Rechts oder durch rassistisch geprägte Sondergesetze die systematische Ausgrenzung von Menschen betrieben wird.
Cemal Altuns Tod mahnt uns noch entschiedener und offensiver die Strukturen und Mechanismen von Ausgrenzungs- und Diskriminierungsstrategien anzuprangern und zu bekämpfen, auch wenn sie von der Politik verschleiert, geleugnet und mit dem Hinweis auf Mehrheitsentscheidungen auch noch gerechtfertigt werden.

Der Kampf gegen Rassismus, der Schutz der Menschenwürde beginnt bei den Rahmenbedingungen, bei den politischen und rechtlichen Vorgaben für bzw. gegen Flüchtlinge und Minderheiten und Migrant/Innen in diesem Land. Erst die Defizite und Mängel in diesem Bereich, das Wegsehen, Verdrängen und Bagatellisieren der Politik ermutigen rechtsextremistische Täter und geben ihnen das Gefühl, in Übereinstimmung mit einem Mehrheitskonsens zu handeln. Um die Schutzlosigkeit und Rechtlosigkeit der Flüchtlinge zu überwinden, ist die Politik deshalb gefordert, durch gesetzgeberische Maßnahmen sicherzustellen, dass sie niemals mehr als Menschen zweiter Klasse behandelt werden können.

“Die Ignoranz der Justiz und der Opportunismus der Bundesrepublik Deutschland waren stärker als sein Durchhaltevermögen und unser Engagement” hieß es in der Traueranzeige für Cemal Kemal Altun. Im Gedenken an Cemal Altun und Hunderte von Flüchtlingen, welche in Deutschland Freiheit und Zuflucht suchten und den Tod gefunden haben, erklären wir: Wir werden mit aller Entschiedenheit gegen den rassistischen Bazillus in Politik und Gesellschaft kämpfen und niemals mehr zulassen, dass sich die Ignoranz von Politik und Justiz und der Opportunismus der politisch Verantwortlichen gegen die Menschenwürde und die Menschenrechte durchsetzen können!

Quelle: PRO ASYL

Veröffentlicht am

22. September 2003

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