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11. September: Tag des Terrors und der Gewalt. Putsch vor 30 Jahren in Chile

Von Michael Schmid

11. September - dieses Datum ist in den vergangenen beiden Jahren der Inbegriff geworden für “Terroranschläge in den USA”. Danach schrieb die indische Schriftstellerin Arundhati Roy: “Die Anschläge vom 11. September waren die monströse Visitenkarte einer aus den Fugen geratenen Welt. Die Botschaft könnte … durchaus unterzeichnet sein von den Geistern der Opfer von Amerikas alten Kriegen … die Millionen, die in Jugoslawien, Somalia, Haiti, Chile, Nicaragua, El Salvador, Panama, in der Dominikanischen Republik starben, ermordet von all den Terroristen, Diktatoren und Massenmördern, die amerikanische Regierungen unterstützt, ausgebildet, finanziert und mit Waffen versorgt haben.”

Arundhati Roy drückt damit das aus, was viele Menschen in Chile, Lateinamerika und eine ganze Generation von Linken weltweit an diesem 11. September 2001 auch empfanden: ein anderer 11. September, jener des Jahres 1973 mit einem blutigen Militärputsch in Chile, hat die Welt ähnlich brutal verändert wie die Terrorschläge in den USA im Jahr 2001. Und nun ist dieses Erinnerungsdatum, angesichts der Verdrängungswut kapitalistischer Hegemonie ohnehin schon ziemlich in den Hintergrund gedrängt, nach dem Terror in den USA endgültig in Gefahr, seine Beerdigung zu bekommen. Damit dies nicht geschieht, ist es umso wichtiger, die Ereignisse vom 11. September 1973 in Chile entschieden vor dem großen Vergessen zu bewahren.

Vor 30 Jahren wurde in Chile die rechtmäßig gewählte sozialistische Regierung der “Unidad Popular” unter Salvador Allende durch einen Putsch des Militärs weggefegt. Drei Jahre nachdem diese mit ihrem historischen Wahlsieg begonnen hatten, einen friedlichen Wechsel in eine humane, sozialistische Gesellschaft auf parlamentarischem Weg umzusetzen. Auch damals wurden mit Flugzeugen Regierungsgebäude zerstört: die Moneda in Santiago de Chile. Angeführt wurde der Putsch vom Oberbefehlshaber des chilenischen Heeres, Augusto Pinochet. Entscheidenden Beistand fand dieser bei der US-Regierung und dem amerikanischen Geheimdienst CIA. Während des gewaltsamen Umsturzes hatten nicht nur US-Kriegsschiffe vor der chilenischen Küste operiert, auch der US-Geheimdienst war aktiv gewesen, wie später eingestanden wurde. Der Friedensforscher Johan Galtung äußerte in einem Spiegel-Interview, Henry Kissinger, gegen den kürzlich wegen Beihilfe zum Mord an einem chilenischen Allendetreuen General Anklage vor einem Washingtoner Bundesgericht erhoben wurde, sei der Bin Laden Chiles. Die Vorwürfe gegen Bin Laden seien im Vergleich zu den Anklagen gegen Kissinger ganz klein.

Mit dem Putsch vom 11. September 1973 wollten die USA, das chilenische Militär und die Oberschicht endlich Schluss machen mit dem Projekt eines chilenischen Sozialismus und mit den sozialen Reformen, die das Land seit 1970 erlebte. So wurde das dreijährige Projekt eines chilenischen Sozialismus unter dem offenen Applaus von bürgerlichen und konservativen Kräften durch den Kugel- und Bombenhagel der Militärs gestürzt. Der amtierende Präsident Salvador Allende starb in den Trümmern des brennenden Regierungspalastes La Moneda, die lange Nacht der blutigen Diktatur begann. Unzählige demokratisch engagierte Menschen wurden verhaftet, gefoltert, in Konzentrationslager gesteckt, sofort umgebracht, “verschwanden” für immer einfach in Polizeihaft oder wurden später aus geheimen Massengräbern freigeschaufelt. Was an sozialen Bewegungen vorhanden war, wurde zerschlagen, tausende politisch Verfolgter flüchteten ins Ausland.

Dieser 11. September vor 30 Jahren war in vielerlei Hinsicht einschneidend. In erster Linie für die chilenische Linke, dann für andere Länder Lateinamerikas, denn der Diktatur in Chile folgten eine ganze Reihe weitere Militärdiktaturen nach. Einschneidend war dieser Tag auch für die emanzipatorischen Bewegungen in der Welt, deren Hoffnungen auf einen demokratischen Sozialismus mit menschlichem Antlitz einmal mehr von Militärstiefeln zertreten wurden. Und dann wirkte sich der Militärputsch noch in anderer Hinsicht für nahezu den ganzen Globus aus: Chile wurde zum ersten Experimentierfeld für das neoliberale Wirtschaftsmodell der von Milton Friedman ausgebildeten “Chicago Boys”. Sie konnten nun mit Unterstützung des Diktators General Augusto Pinochet und des sich neu formierenden Kapitals das ganze Programm ihrer Doktrin durchsetzen: Privatisierung der Sozialsysteme, öffentlichen Dienstleistungen und der Bildung, Deregulierung sowie die Zerschlagung von Arbeiter- und Landarbeitergewerkschaften. Die Folgen der neoliberalen Offensive sind heute praktisch auf dem ganzen Planeten zu spüren.

Der 11. September 1973 mit dem gescheiterten chilenischen Weg zum Sozialismus war auch für mich ganz persönlich von großer Bedeutung: gerade erst begonnen, mich politisch zu sozialisieren und für emanzipatorisch-sozialistische Ansätze zu interessieren, wurde dieser blutige Putsch zu einem zentralen Markierungsstein des Schreckens und der brutalen Gewalt, welcher mich zutiefst bestürzte. Der chilenische Versuch des Wechsels in eine humane, sozialistische Gesellschaft war am 11. September 1973 blutig gescheitert und damit war ich um eine große Hoffnung ärmer.

Für mich folgten Jahre der Teilnahme an Solidaritätsaktionen am 11. September. In meiner Heimatstadt lernte ich politisch Verfolgte aus Chile persönlich kennen, die durch die Flucht vor ihren Henkern heimatlos geworden, hier Exil gefunden hatten. Durch sie, allesamt unter der Diktatur eine zeitlang inhaftiert, ist mir dieses Verbrechen des Putsches und der Folgen der grausamen Militärdiktatur nochmals besonders nahe gekommen. Es folgten Jahre der Freundschaft mit verschiedenen Chilenen. Und eine enge Zusammenarbeit für die Sache der Gerechtigkeit und des Friedens. Wir organisierten nun gemeinsam Solidaritätsveranstaltungen. Dabei fasziniert mich besonders die Verbindung von politischen Hintergrundinformationen mit Musik und Empanadas. Und tief beeindruckt hat mich dabei immer wieder, wie diese Menschen trotz ihrer schweren Schicksalsschläge doch freudige Feste mit Musik und Gesang feiern konnten. Ja, dieser Lebensmut ist es wohl gewesen, der letztlich die Diktatur nach 17 Jahren auch stürzen half. Kein noch so brutales Regime hat also auf Dauer Bestand, wenn die Menschen sich ihre Hoffnungsfunken nicht endgültig nehmen lassen. Auch dessen können wir uns an diesem 11. September, dem 30. Jahrestag des Putsches der chilenischen Militärs, bewusst werden.

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Veröffentlicht am

10. September 2003

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