Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Friedensmacht Europa

Die neue Ordnung im Nahen und Mittleren Osten nach dem Irak-Krieg / Mohssen Massarrat über die Vorreiterrolle Europas

Während in Irak noch die Bomben fallen, wird parallel schon über die Nachkriegsordnung im Nahen und Mittleren Osten diskutiert. Mohssen Massarrat unterbreitet dazu den Vorschlag einer “Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO)”. Sie könnte zugleich den Einfluss der Europäer gegen das Weltmachtstreben der USA stärken. Wir dokumentieren eine für die Frankfurter Rundschau aktualisierte Fassung eines Kapitels aus dem neuen Buch des Verfassers, das soeben unter dem Titel “Amerikas Weltordnung. Hegemonie und Kriege um Öl”, VSA-Verlag, Hamburg 2003, erschienen ist. Der Autor ist Professor für Politik und Wirtschaft am Fachbereich Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück.

Die Vereinigten Staaten sind nach dem Golf-Krieg 1991, nach dem Kosovo- und dem Afghanistan-Krieg nun mit ihrem Krieg gegen Irak im Begriff, ihre unilaterale Weltordnung und ihre absolute Weltherrschaft mit aller Wucht und ohne Rücksicht auf politisch, ökonomisch und kulturell destabilisierende Folgen für den Mittleren Osten und Europa durchzusetzen.

Die absolute Weltherrschaft der USA wird hinsichtlich ihrer flächendeckenden Auswirkungen auf das Zusammenleben der Völker, auf die Verstärkung globaler Ungerechtigkeiten und Umweltkrisen imperialistischer sein als alle bisher in der Weltgeschichte bekannten imperialistischen Systeme. An dieser Entwicklung ist Europa selbst nicht unbeteiligt.

Europa hat Amerikas Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien nicht verhindert, sondern mit unterstützt und ihn trotz der damit einhergehenden Verletzung des Völkerrechts legitimiert. So hat Europa im Jugoslawien-Krieg indirekt Amerikas Streben nach der absoluten Weltherrschaft zu Lasten des eigenen Anspruchs auf die multilaterale Weltordnung den Weg bereitet. Innerhalb der deutschen SPD wurde dieser Fehler - selbst wenn man dies öffentlich nicht zugeben mag - erkannt. Die Kurskorrektur im Falle des Irak-Krieges durch ein klares Nein zum neuen Kriegsvorhaben der Vereinigten Staaten war ein wichtiger Schritt für eine europäisch eigenständige Außen- und Friedenspolitik.Hat nun Europa überhaupt eine andere Perspektive, als sich der absoluten Weltherrschaft der USA zu fügen oder wird Europa in der Lage sein, in der sich anbahnenden Krise nach dem Irak-Krieg eigene moralische und politische Ressourcen für eine multilaterale Weltordnung zu mobilisieren? Auf diese Fragen gibt es unterschiedliche Antworten:

Das immer noch dominante kurzsichtige Denken neigt eher zu der ersten Alternative und hofft, unter Amerikas sicherheitspolitischem Schirm und dank dessen direktem Zugriff auf die irakischen Ölquellen nach einem militärischen Sieg in Irak an den zu erwartenden niedrigen Ölpreisen mit partizipieren zu können. Durch diese Haltung wird Europa unvermeidlich noch tiefer als bisher in die hegemonialpolitische Einkreisungs- und Zangenpolitik der USA hineingeraten. Die zweite Antwort zielt auf eine multilaterale und gerechtere Weltordnung, in der Europa eine wichtige Rolle spielen könnte. Diese Perspektive ist nicht nur möglich, sondern auch unerlässlich.

Die erste Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Europa die Fesseln der militärischen Logik sprengt, die ohnehin nur den Trugschluss zulässt, dass Amerika alles und Europa nichts ist. Keine auch noch so mächtige Militärmacht der Welt war je im Stande, gleichzeitig auch eine moralische Macht zu sein. Amerikas gegenwärtige Militärmacht würde in sich zusammenfallen, sobald die Mehrheit der Amerikaner ihr die moralische und politische Legitimation entzieht. Genau in dieser Binsenweisheit liegt für das militärisch schwache Europa die Chance, moralische Macht und Handlungsstärke zu gewinnen.

1. Europa braucht Identität stiftende Projekte für die multipolare Weltordnung

Europas Weg für eine multilaterale Weltordnung müsste so beschaffen sein, dass er gleichzeitig auch bei der amerikanischen Bevölkerung auf Zustimmung stößt und den Handlungsspielraum der Protagonisten einer unilateralen Weltordnung auch in den Vereinigten Staaten sukzessiv einengt. Anderenfalls besteht die realistische Gefahr, dass Amerikas kriegsbefürwortendes Lager mit Unterstützung der Bevölkerung alle Möglichkeiten nutzt, um die multilaterale Perspektive für die Welt über Jahre oder Jahrzehnte zu blockieren. Dies impliziert ernsthafte Initiativen für Identität stiftende weltpolitische Projekte, die einerseits den Dissens mit den Kräften des Unilateralismus in den USA vor Augen führen und andererseits den Konsens mit Amerikas Bevölkerung fördern.

In diesem Sinne ist der Vorschlag von Micha Brumlik, dem “amerikanischen Neo-Imperialismus den europäischen Neo-Neutralismus” entgegenzusetzen und “die Mitgliedschaft im militärischen Teil der Nato ruhen und (…) die entsprechenden bilateralen Übereinkünfte überprüfen (zu) lassen” (tageszeitung vom 16. Januar 2003) kontraproduktiv. Derart symbolische Aktionen werden eher dazu führen, auf beiden Seiten des Atlantiks Gegenkräfte zu mobilisieren. Es erscheint sinnvoller, diese “Nebenkriegsschauplätze” gar nicht erst entstehen zu lassen.

Die Nato hat seit dem Krieg der USA in Afghanistan ohnehin an Bedeutung verloren. Gegenwärtig befindet sie sich sogar in einer ernsthaften Krise. Die offensichtliche Instrumentalisierung der Türkei, um die übrigen europäischen Nato-Mitglieder in die Falle einer Beteiligung an Kriegsvorbereitungen gegen Irak zu locken, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Deutschland und Frankreich sich um eine Verhinderung des Krieges bemüht hatten, verstärkt den Bedeutungsverlust dieser Institution, die ein Produkt des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung war.

In Amerikas unipolarer Weltordnung wird sich die Nato - noch deutlicher als es bisher erkennbar wurde - in ein eigenes globales Machtinstrument verwandeln und dadurch die ihr ursprünglich zugedachte Funktion, die Sicherheit Europas zu garantieren, vollends verlieren. In einer multipolaren Weltordnung wäre die Nato ohnehin ein Fremdkörper. Dagegen entspricht die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) weitestgehend den Anforderungen der Multipolarität. Daher stünde die Wiederbelebung der in den letzten Jahren zurückgedrängten OSZE gerade jetzt auf Europas außenpolitischer Agenda. Dieses auf die Zukunft gerichtete Projekt gezielt und offensiv weiter zu entwickeln, schafft eine unvergleichbar stärkere Dynamik für eine multipolare Weltordnung als eine lähmende und perspektivlose Beschäftigung mit der Nato.

Europa verfügt über ein beträchtliches moralisches Kapital, das es bei Konflikten, die wie im Nahen Osten nach Lösungen verlangen, produktiv einbringen und dafür auch um weltweite Unterstützung werben kann. Dieses Kapital schöpft Europa aus den schrecklichen Folgen seiner zwei Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und den positiven Integrationsleistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Mit ihrer Irak-Politik erklären die Vereinigten Staaten Europa und der ganzen Welt den Krieg. Europas Antwort darauf muss Frieden heißen. Dazu gehört unmittelbar das Festhalten an dem - durch die USA schwer angeschlagenen - UN-System und der UN-Charta. Dazu gehören auch ernsthafte friedenspolitische Initiativen für eine Neuordnung des Mittleren und Nahen Ostens.

2. Plädoyer für eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten (KSZMNO)

Die Irak-Krise bietet Europa die historische Chance, mit einer mittelfristig angelegten Initiative für die Neuauflage einer Helsinki-Konferenz für den Nahen und Mittleren Osten seine friedensgestaltenden Potenziale zu mobilisieren und für den Aufbau einer multilateralen Weltordnung einen richtungsweisenden und praktischen Weg zu beschreiten. Der Israel-Palästina-Konflikt würde so erstmals - oder richtiger: endlich - in einen für die Lösungsperspektive adäquaten politischen Kontext gestellt. Der Israel-Palästina-Konflikt ist Bestandteil eines tiefgreifenden Konflikts zwischen Israel, dem Westen, insbesondere den USA einerseits, und Palästina, den arabischen Nachbarn und den islamischen Staaten in der gesamten Region Mittlerer und Naher Osten andererseits.

Der arabische Nationalismus und der islamische Fundamentalismus haben ihre Wurzeln u. a. auch in der fünfzigjährigen israelischen Besatzungspolitik. Die Rüstungseskalation in der Region verschärfte zusätzlich diese Wechselwirkung und schuf ein instabiles System, in dem Bestrebungen nach dem Zugriff zu Massenvernichtungsmitteln in mehreren Staaten der Region geradezu heraufbeschworen wurden. Die militärische Überlegenheit Israels und insbesondere die Atomwaffenpotenziale, über die Israel heute als einziger Staat in der Region verfügt, sind eine wesentliche Quelle der Instabilität des gesamten Nahen und Mittleren Ostens.

Israel begründet seine militärische Überlegenheit mit dem eigenen Sicherheitsbedürfnis. Allein durch das arabische Bevölkerungsübergewicht fühlt sich Israel einer latenten Bedrohung ausgesetzt. Andererseits fühlen sich die Bevölkerungen in den arabisch-islamischen Staaten der Region gerade auf Grund der eigenen militärischen Niederlagen im letzten halben Jahrhundert generell und durch Israels Massenvernichtungsmittel auf besondere Weise latent bedroht und der Gefahr von andauernden Demütigungen ausgesetzt. Ohnmachtgefühle und Demütigungen sind aber der Nährboden für das Gedeihen von Misstrauen. Feindschaft und Hass gegen Israel begünstigen die diktatorischen Systeme sowie Nationalismus und Fundamentalismus in der gesamten Region.

Das Regime von Saddam Hussein, das seine Atomwaffen-Programme innenpolitisch stets offensiv mit den israelischen Bedrohungspotenzialen legitimierte, ist insofern auch Teil des regionalen Gesamtkonflikts. Der Krieg der USA gegen Irak mit all seinen Auswirkungen für Europa und den Weltfrieden macht einerseits schlagartig klar, welchen Stellenwert ein dauerhafter Nahost-Frieden für Europas Weg zu einer multilateralen Weltordnung besitzt und führt andererseits vor Augen, weshalb Europa ein existenzielles Interesse daran hat, eine den gesamten Raum erfassende Friedenskonzeption zu entwickeln.

Die bisherige Politik der Balance of Power, nämlich das große Bevölkerungsübergewicht in den arabischen Nachbarstaaten Israels durch militärische Überlegenheit einschließlich der Abschreckungspotenziale durch Massenvernichtungsmittel auszugleichen, ist auf der gesamten Linie gescheitert. Der Glaube, die Sicherheit Israels mitten in der arabischen Welt könne durch atomares Drohpotenzial gewährleistet werden, hat sich angesichts der bisherigen Erfahrungen als Irrweg erwiesen.

Auch die hohen Schutzmauern, die Israel gegenwärtig mit beträchtlichem Aufwand gegen terroristische Anschläge errichtet, werden die Sicherheit Israels nicht erhöhen, den Graben zwischen Juden und Arabern jedoch vertiefen. Diese Mauern werden Israel stärker als bisher von der arabischen Welt isolieren und die bisher dominante Haltung der Israelis gegenüber den Arabern, “Wir wollen mit euch nichts zu tun haben”, in jeder Hinsicht zementieren.

Eine einseitige Abrüstung Iraks mit oder ohne Krieg wird die gegenwärtig bestehende, atomar gestützte Machtasymmetrie zu Gunsten Israels verstärken und auch in Zukunft bei den Arabern und Moslems als eine neue Demütigung empfunden werden, die ihnen in ihrer Wahrnehmung der Westen gezielt zufügt.

Diese Machtasymmetrie wird weiterhin als Hauptquelle des latent gewaltträchtigen Konflikts in der gesamten Region bestehen bleiben und in mehreren Richtungen Probleme heraufbeschwören: Entstehung neuer Terrorwellen, Stärkung der fundamentalistischen Strömungen und Bestrebungen, weiterhin in den Besitz von Massenvernichtungsmitteln zu gelangen.

Aus diesem Grund und angesichts der Abrüstung von Massenvernichtungsmitteln in Irak ist es gerade jetzt das Gebot der Stunde, mit einer Initiative zur Errichtung einer gerechten Ordnung im Nahen und Mittleren Osten der sich zuspitzenden Eskalation und Perspektivlosigkeit entgegenzuwirken.

Bei dieser Neuordnung müsste die Schaffung einer Massenvernichtungswaffen freien Zone und eines Systems der gemeinsamen regionalen Sicherheit die zentrale Rolle spielen. Der Artikel 14 der UN-Sicherheitsrats-Resolution 687 vom 3. April 1991, der “Schritte in Richtung auf das Ziel der Schaffung einer Zone im Nahen Osten, die frei ist von Massenvernichtungswaffen und allen Flugkörpern zu deren Einsatz” festschreibt, liefert für diese Neuordnungsperspektive einen wichtigen ersten Anhaltspunkt. Die europäischen Erfahrungen mit der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit könnten dabei in eine Initiative für den Mittleren und Nahen Osten einfließen. Die Helsinki-Konferenz 1973-75 war ein wichtiger Schritt für eine gesamteuropäische Friedens- und Sicherheitspolitik, der allerdings durch Amerikas Kriege und Bestrebungen nach einer unilateralen Weltordnung vorerst zurückgedrängt wurde.

Zahlreiche Konflikte in dieser Region, wie der Israel-Palästina-Konflikt, der Kurdistan-Konflikt, die Konflikte bei der Nutzung von Gewässern und Ölquellen, sind allesamt grenzüberschreitende Konflikte. Sie können nur innerhalb von kooperativ angelegten regionalen Ordnungsrahmen dauerhaft geregelt und gelöst werden. Die Dringlichkeit einer Konferenz, die mittel- und langfristig zur Entstehung einer Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit Mittlerer und Naher Osten (OSZMNO) führen müsste, steht wie in keiner anderen Konfliktregion der Welt daher auf der weltpolitischen Agenda. Langfristig zu erreichende Ziele dieser Organisation sind:
(a) Abschaffung aller Massenvernichtungsmittel, Abrüstung aller Waffensysteme auf ein niedriges Niveau und Etablierung von Strukturen der gemeinsamen Sicherheit;

(b) dauerhafter Frieden zwischen Israel und Palästina durch Gründung eines lebensfähigen Palästinenser-Staates einerseits und umfassende Sicherheitsgarantien für Israel andererseits;

© dauerhafte Regelung des Kurdistan-Konflikts;

(d) ökonomische Kooperation und präventive Konfliktregelung durch gemeinsame Nutzung grenzüberschreitender Gewässer angesichts zunehmender Süßwasserknappheit (Türkei/Syrien/Irak oder Israel/Libanon/Palästina/Jordanien);

(e) endgültige Regelung der offenen Fragen der vergangenen Kriege zwischen Iran-Irak und Irak-Kuwait;

(f) gemeinsame Regelung für Grundfragen zum Schutz von Menschenrechten und Minderheiten.

Die Grundvoraussetzung für den ersten Schritt und einen Erfolg versprechenden Beginn der Konferenz ist die Bereitschaft Israels zur Teilnahme an der Konferenz und zum Zusammenleben mit den anderen Völkern in der Region. Das arabisch-islamische Bevölkerungsübergewicht könnte sich dabei als entscheidendes Hindernis erweisen. Dieses Hindernis könnte durch eine umfassende Sicherheitsgarantie für Israel durch den UN-Sicherheitsrat überwunden und auf dieser Grundlage dann auch die Mehrheit der israelischen Bevölkerung für die Perspektive einer KSZ bzw. OSZMNO gewonnen werden.

Umgekehrt ist die Aussicht auf die langfristige Abrüstung israelischer Massenvernichtungsmittel für die arabisch-islamischen Staaten ein wichtiges, vielleicht sogar das entscheidende Argument, um sie für die Idee der gemeinsamen Sicherheit und ökonomischen Kooperation zu gewinnen.

Die KSZMNO - käme sie zu Stande - würde den wirkungsvollsten politischen Rahmen für die Demokratisierung in der gesamten Region schaffen, da so allen extremistischen und konfliktträchtigen Ideologien, dem islamischen Fundamentalismus, dem arabischen Nationalismus, aber auch den in Israel vorherrschenden extremistischen Ideologien der Boden entzogen würde. Es ist ganz und gar ausgeschlossen, dass durch einen militärischen Sieg in Irak “ein Fenster der demokratischen Transformation der gesamten Region geöffnet werden könnte”. Eine solche, inzwischen auch von George W. Bush aufgestellte Behauptung, die von Ronald D. Asmus, einem der außenpolitischen Berater Bill Clintons, von Herfried Münkler und Dan Diner in der Frankfurter Rundschau vertreten wurde, dient letztlich dazu, den Krieg der USA zu legitimieren.

Der Krieg selbst würde - wie alle anderen militärischen Interventionen im Nahen und Mittleren Osten zuvor - die Perspektive einer zivilgesellschaftlichen Transformation auf Jahre wenn nicht sogar Jahrzehnte hinausschieben.

Nicht nur regional, sondern auch global hätte die KSZMNO positive Auswirkungen weit über die Friedens- und Demokratisierungsfrage hinaus. Dies gilt insbesondere für die Perspektive einer neuen globalen Energie- und Klimapolitik. Den Interventionsmöglichkeiten der USA oder in Zukunft vielleicht auch Russlands oder Chinas, sich auf konfliktträchtigen Wegen den Zugang zu den Ölquellen zu verschaffen, wäre ein dauerhafter Riegel vorgeschoben. Die Voraussetzungen für den gerechten Handel auf den Weltenergiemärkten würden sich deutlich verbessern und letztlich auch steigende Preise für fossile Energieträger zur Folge haben, die einerseits klimapolitisch erwünscht sind und andererseits angemessene Einnahmen hervorbringen könnten, die die ökonomische und soziale Transformation in der gesamten Region begünstigen würden.

Die Bereitschaft, endlich das Kyoto-Klimaprotokoll zu implementieren und dabei die Ölproduzenten des Mittleren Ostens mit ihrem 67-Prozent-Anteil an Weltölressourcen in das Kyoto-Protokoll einzubinden, darüber hinaus auch eine gemeinsame Strategie für den Einstieg in das Zeitalter von regenerativen Energien anzuvisieren, würde durchaus in die Reichweite des Realisierbaren geraten.

3. Europäische Verantwortung

Es zeigt sich, dass das Projekt KSZMNO sowohl friedenspolitisch wie aber auch umwelt- und klimapolitisch von grundlegender Bedeutung ist und welcher grundlegender Stellenwert ihm für die praktische Gestaltung einer multilateralen Weltordnung zukommt. Solange die Vereinigten Staaten bei ihrem gegenwärtigen Kurs der Etablierung ihrer unilateralen Weltordnung bleiben, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach europäische Initiativen einer KSZMNO mit allen Mitteln torpedieren. Die einzige weltpolitische Macht, der die Verantwortung für eine KSZMNO zukäme, nämlich die Europäische Union, hätte im eigenen Interesse die schwere Last des Projektes zu tragen.

Eine Initiative der EU zu einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittleren und Nahen Osten böte vor dem Hintergrund der Irak-Krise für Europa die historische Chance, eine eigene außen- und friedenspolitische Identität zu gewinnen und im Wettstreit um eine bessere Weltordnung mit den Vereinigten Staaten mit einer positiven Alternative offensiver als bisher auf der weltpolitischen Bühne aufzutreten. Durch den deutsch-französischen Schulterschluss gegen den Irak-Krieg stieg das Ansehen der Europäischen Union weltweit und vor allem in der arabisch-islamischen Welt beträchtlich.

Der demonstrativ enthusiastische Empfang von Jacques Chirac Anfang März in Algerien ist ein deutliches Zeichen für die neue Entwicklung. Hier entsteht allmählich das Bewusstsein, Europa ist auf dem besten Wege, seine Hörigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten abzubauen. Die Europäische Union steht vor der richtungsweisenden, mehr noch epochal bedeutenden Bewährungsprobe, ihr Selbstbewusstsein unter Beweis zu stellen und sich dabei auf die eigene moralische Kraft und Frieden stiftende Ressourcen zu stützen.

Auch der Krieg der USA gegen Irak darf Europa nicht davon abbringen, sich der Herausforderung zu stellen.

Dieser Weg ist sicherlich nicht frei von Risiken einer europafeindlichen amerikanischen Politik, die allen liberalistischen Postulaten zum Trotz auch auf einen “transatlantischen Wirtschaftskrieg” ausgedehnt werden könnte. Sich davon abschrecken zu lassen, käme einem Kotau vor Amerikas Unilateralismus gleich. Der Aufbau einer multilateralen Weltordnung hat zweifelsohne ihren Preis. Es müsste Europas Diplomatie daher darum gehen, diesen Preis erträglich zu machen.

Der langfristig zu erwartende friedenspolitische, ökonomische und ökologische Ertrag für Europa und die Welt insgesamt legitimiert das kalkulierbare Risiko eines Konflikts mit den Vereinigten Staaten. Es geht schließlich um nicht weniger als darum, anstelle einer unilateralen eine multilaterale Weltordnung zu etablieren.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 27.02.2003. Wir bedanken uns bei Mohssen Massarrat für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung.

Veröffentlicht am

21. April 2003

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