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Der letzte Beweis: Krieg ist das Ende der Menschlichkeit

Der englische Journalist Robert Fisk beschreibt den Krieg aus der Opferperspektive, bei dem das grausame Gesicht dieses Verbrechens jenseits militärischer Triumphmeldungen sichtbar wird.

Der letzte Beweis: Krieg ist das Ende der Menschlichkeit

Von Robert Fisk - ZNet 11.04.2003

Eine Szene wie aus dem Krim-Krieg*. Ein Hospital voller schreiender Verletzter, Klinikflure, überströmt mit Blut. Ich trat in das Zeug, es blieb an meinen Schuhen kleben. Es hing an den Kleidern sämtlicher Ärzte dieser überfüllten Notfallambulanz. Es überschwemmte die Durchgänge, die Decken, die Laken. Die dunkle Seite von Sieg und Niederlage - es sind diese irakischen Zivilisten und Soldaten, die man gestern hier ins Adnan-Khairallah-Märtyrer-Hospital eingeliefert hat, in den letzten Stunden von Saddam Husseins Regime; manche hielten sogar noch ihre abgetrennten Gliedmaßen in Händen. Sie und die Toten, die binnen Stunden beerdigt wurden, sind der finale Beweis, dass Krieg das totale Versagen des menschlichen Geistes bedeutet. Als ich zwischen den Betten hindurchging, zwischen all den stöhnenden Frauen und Männern, die dort lagen (Dantes Besuch in der Hölle hätte gut zu diesen Szenen gepaßt), stellte ich mir erneut dieselben alten Fragen. Geschieht das alles wegen 11. September? Wegen der Massenvernichtungswaffen? Oder etwa im Namen der Menschenrechte?

Ein überfüllter Korridor, ein Mann mittleren Alters liegt auf einer durchweichten Krankenhausliege. Seine Kopfwunde ist nahezu unbeschreiblich. Aus seiner rechten Augenhöhle hängt ein Taschentuch, von dem Blut in Strömen auf den Boden rinnt. Auf einem dreckigen Bett ein kleines Mädchen mit einem gebrochenen Bein. Das andere Bein ist während eines amerikanischen Luftangriffs so schwer von einem Schrapnell getroffen worden, dass die Ärzte sich keinen andern Rat wussten, als es mittels eines Seils, das mit Betongewichten beschwert ist, ruhigzuhalten. Der Name des Mädchens: Rawa Sabri. Während ich weiter durch den Ort des Horrors wandere, gehen draußen rund um den Tigris amerikanische Granaten nieder - was die Verwundeten hier erneut an den tödlichen Terror erinnert, den sie vor Stunden durchlebten. Die Straße über die Brücke, über die ich gerade ins Hospital gekommen bin, auch sie gerät jetzt unter Beschuss. Kordit-Wolken ziehen über das Medical Center. Massivste Explosionen lassen Krankenzimmer und Flure erbeben. Ärzte stoßen hastig die Kinder von den Fenstern weg. Die Kinder kreischen auf.

Nein, bis hierher kam Florence Nightingale* nicht - in diesen Teil des alten Ottomanenreiches. Aber Dr. Khaldoun al-Baeri, der hiesige Krankenhausdirektor und Chefchirurg, ist durchaus ihr Pendant. Dieser Mann mit seiner sanften Stimme hat während der letzten 6 Tage kaum mehr als eine Stunde täglich geschlafen. Tag für Tag versucht er über 100 Menschen das Leben zu retten - mit einem einzigen Generator und der Hälfte seiner Operationssäle unbenutzbar (wie will man einen Menschen, der Blut spuckt, auf Armen in den 16. Stock tragen?). Jetzt klingt Dr. Baeri wie ein Schlafwandler, während er versucht zu beschreiben, wie schwierig es ist, einen oder eine Verletzte bei einer Thoraxverletzung vor dem Erstickungstod zu bewahren. Und dann erklärt er mir, nach 4 Operationen, bei denen er Metall aus dem Hirn seiner Patienten entfernen musste, sei er eigentlich zu müde zum Denken - zumindest in Englisch. Aber bevor ich gehe, sagt er plötzlich: ich weiß nicht, wo meine Familie ist. “Unser Haus wurde getroffen, und meine Nachbarn haben mir Bescheid geben lassen, man hätte sie irgendwohin geschickt - wohin weiß ich nicht. Ich habe zwei kleine Mädchen - Zwillinge. Ich sagte ihnen, sie müssten jetzt sehr tapfer sein, ihr Vater muss jetzt Tag und Nacht im Krankenhaus arbeiten, sie dürften nicht weinen, ich arbeite ja für die Menschheit. Und jetzt weiß ich nicht mal, wo sie sind”. Dr. Baeri verschluckt sich an seinen eigenen Worten. Er bricht in Tränen aus, kann sich nicht von mir verabschieden.

Ein Mann im zweiten Stock hat eine gefährliche Genickwunde. Anscheinend war es den Ärzten nicht möglich, die Blutung zu stillen. Der Lebenssaft rinnt aus seinem Körper - auf den Fußboden. Zudem hat ihm etwas Übles, Scharfes in den Bauch geschnitten. Trotz eines 15 cm dicken Verbandes quillt noch immer Blut hervor. Sein Bruder steht daneben, erhebt eine Hand in meine Richtung und fragt: “Warum? Warum?” Ein kleines Kind mit einer Nasensonde liegt auf einer Decke. 4 Tage hat es auf die Operation warten müssen. Die Augen sehen tot aus, so dass ich mich nicht getraue, die Mutter zu fragen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Ungefähr eine halbe Meile entfernt der Einschlag eines neuen Luftangriffs. Die Klinikflure erbeben - sehr lange, sehr dumpf, sehr massiv. Danach der anschwellende Chor des Kindergeschreis, des Kinderstöhnens, vor den Krankenzimmern. Einen Stock tiefer - im schlimmsten aller Notfallräume - hat man 3 Männer eingeliefert: verbrannt im Gesicht, an Armen und Beinen, auf der Brust. Man stelle sich vor: nackte Männer, deren Haut nur noch aus Blut und Gewebe besteht. Die Ärzte beschmieren das Ganze mit weißer Creme, während die Männer auf dem Bett sitzen und ihre enthäuteten Arme nach oben recken. Jeder ruft einen nichtexistenten Erlöser an, er möge ihn doch von diesen Schmerzen befreien. “Nein! Nein! Nein!” schreit ein junger Mann, während die Ärzte versuchen, seine Unterhose aufzuschneiden. Er kreischt und weint und wiehert wie ein Pferd, dabei wirkt er auf mich wie ein Soldat: kräftig, zäh, gut ernährt. Aber jetzt ist er nur noch ein Kind, das nach seiner Mutter weint: “Umma, Umma (Mama, Mama)”.

Als ich dieses schreckliche Krankenhaus verlasse, entdecke ich die amerikanischen Granaten, die vorhin in den Fluß aufschlugen. In der Nähe des Hospital-Verwaltungsgebäude sehe ich auf einem kleinen Rasenstück ein paar Militärzelte aufgeschlagen und - “Gott verdammt”, höre ich mich leise sagen -, ein Panzerfahrzeug mit aufmontiertem Gewehr, versteckt hinter Baumästen und Blattwerk. Das Fahrzeug steht zwar nur wenige Meter auf Krankenhausgelände, aber es nutzt das Krankenhaus als Versteck. Und noch etwas fällt mir auf - der Name des Hospitals: Adnan Khairallah war ja Präsident Saddams Verteidigungsminister. Angeblich hatte er sich mit seinem Präsidenten überworfen und kam daraufhin mysteriöserweise bei einem Hubschrauberabsturz ums Leben. Selbst in diesen letzten Stunden der ‘Schlacht um Bagdad’ werden die Opfer in ein Krankenhaus gebracht, das nach einem ermordeten Mann benannt ist.

Anmerkung d. Übersetzerin

*In den Lazaretten der Insel Krim starben während des Krim-Kriegs (1853-1856) extrem viele verwundete Soldaten. Die britische Krankenschwester Florence Nightingale (1820 - 1910), die als Freiwillige in den Lazaretten Dienst tat, war darüber so empört, dass sie auf eigene Faust die hygienischen, medizinischen und pflegerischen Bedingungen radikal änderte und so unzähligen Soldaten das Leben rettete. Nach England zurückgekehrt, begründete Florence Nightingale die moderne Krankenpflege.

Quelle: ZNet Deutschland vom 12.04.2003. Übersetzt von: Andrea Noll. Orginalartikel: “Final Proof That War Is About The Failure Of The Human Spirit”

Veröffentlicht am

12. April 2003

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