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Bagdad, Blut und Verbände

Von Robert Fisk - ZNet 30.03.2003

Bagdader Vorort Shu’ale: Das Stück Metall misst nur einen Fuß, aber die Nummern, die darauf stehen, sind der Schlüssel zum jüngsten Gräuel auf Bagdad. Bis gestern Nachmittag waren mindestens 62 Zivilisten tot. Die Kodes auf diesem Stück Metall verraten die Identität des Schuldigen. Gestern taten Amerikaner und Briten ihr Möglichstes, zu suggerieren, eine irakische Abfangrakete hätte diese dutzende von Menschenleben ausgelöscht, wobei stets hinzufügt wird, man würde “noch ermitteln” - in diesem Blutbad. Aber die Kodierung ist nicht arabisch sondern westlich. Und noch etwas: Viele der Überlebenden sagen aus, sie hätten das Flugzeug gehört.

Im Al-Noor-Hospital spielten sich gestern Morgen entsetzliche Szenen ab - Szenen der Agonie und des Leids. Die zweijährige Saida Jaffar ist völlig einbandagiert, ein Schlauch läuft in eins ihrer Nasenlöcher, ein zweiter in ihren Bauch. Alles, was ich von ihr sehen kann, sind Stirn, Kinn und zwei kleine Augen. Neben ihr ein Haufen alter Verbände und Tupfer, übersät mit Blut und Fliegen. Nicht weit von ihr liegt der dreijährige Mohamed Amaid in einem dreckigen Bett - Gesicht, Bauch, Hände und Füße, alles dick in Verbänden. Eine große, dicke Masse geronnenes Blut ist am Fußende zu erkennen. In diesem Hospital gibt es keine Computer, und die Röntgenapparate sind denkbar primitiv. Aber die Rakete war computergesteuert, und jene wichtige Scherbe von ihrem Rumpf besitzt einen Computercode. Es ist für die Amerikaner sicher leicht, ihn zu identifizieren, zu checken - wenn sie es denn wollen. Die erste Nummer lautet: 30003-704ASB 7492. Das ‘B’ ist etwas zerkratzt und könnte auch ein ‘H’ sein. Ich halte das für eine Seriennummer. Dann folgt ein weiterer Kode - von den Waffenherstellern als ‘Lot number’ bezeichnet. Sie lautet: MFR 96214 09. Das Stück Metall mit den beiden Kodes wurde nur Minuten nach dem Einschlag, der Raketen-Explosion, gefunden - am Freitagabend. Ein alter Mann fand das Stück. Sein Haus liegt nur rund 100 Meter neben dem Krater. Selbst die irakischen Behörden wissen nichts von dem Metallstück. Die Rakete wirbelte Metallbrocken durch eine hauptsächlich aus Frauen und Kindern bestehende Menschenmenge. Aber auch durch die billiggebauten Backsteinwände der Häuser hier drang das Metall, riss Glieder und Köpfe ab. In einer Backsteinhütte an der Hauptstraße, gegenüber dem Markt, wurden zum Beispiel 3 Brüder - der Älteste 21, der Jüngste 12 - in ihrem Wohnzimmer niedergemäht. Zwei Türen weiter traf es 2 Schwestern auf die gleiche Weise: auch sie tot. “Wir haben noch nie solche Wunden gesehen”, sagt mir Dr. Ahmed, Anästhesist im Al-Noor-Hospital später. “Diese Leute sind von dutzenden kleiner Metallteile durchbohrt”. Stimmt. Ein alter Mann, den ich in einem der Krankenzimmer besuche, hat 24 Löcher in der Rückseite seiner Beine, im Po - manche davon haben den Durchmesser einer Pfund-Münze. Später zeigt mir sein Arzt eine Röntgenaufnahme, auf der noch mindestens 35 Metallsplitter im Körper des alten Mannes zu erkennen sind.

Wie beim Sha’ab-Schnellstraßen-Massaker vom Donnerstag - dem mindestens 21 irakische Zivilisten zum Opfer fielen (getötet bzw. verbrannt durch zwei Raketen, die von einem amerikanischen Jet abgeschossen wurden) , traf es auch hier wieder ein Armenviertel. Shu’ale ist eine arme Gegend, die von Schia-Muslimen (Schiiten) bewohnt wird. Die Lebensmittelgeschäfte sind eingeschossig, aus Wellblech und Beton. Die Wohnhäuser sind aus Backstein und haben nur zwei Räume. Hier leben exakt die Menschen, von denen die Herren Bush und Blair dachten, sie würden sich in einem Aufstand gegen Saddam erheben. Gestern zumindest galt der Zorn dieser Slumbewohner aber den Amerikanern und Briten: alte Frauen, Väter und Brüder, die Angehörige verloren haben - sie alle nahmen kein Blatt vor den Mund. Dabei war keiner der ansonsten so allgegenwärtigen Regierungs“Betreuer” weit und breit zu sehen. “Es ist ein Verbrechen”, murmelt mir eine Frau zornig zu. “Ja, ich weiß, sie sagen, sie hätten es auf das Militär abgesehen. Aber sehen Sie hier etwa Soldaten? Sehen Sie hier Raketen?” Die Antwort lautet nein - obgleich einige wenige Journalisten berichteten, sie hätten am Donnerstag in der Nähe des Sha’ab-Viertels eine Scud-Rakete auf einem Transporter gesichtet. Und rund um Shu’ale hatte es Abwehrfeuer gegeben. Gestern Morgen habe ich einen amerikanischen Jet über den Ort des Massakers düsen hören und sah gerade noch, wie eine Boden-Luft-Rakete versuchte, ihn abzuschießen - ihr Ziel jedoch verfehlte. Ihr Schweif zischte über die Häuser des Slums hinweg in den dunkelblauen Himmel. Ein paar Blocks weiter fing ein Flak-Geschütz - Baujahr circa 1942 - gleichfalls an, nach oben zu schießen. Aber selbst wenn es wirklich zuträfe, dass die Irakis ihre Waffen nahe der Vororte postieren bzw. transportieren, ist das etwa eine Entschuldigung, dass die Amerikaner in dichtbevölkerte zivile Viertel feuern - mitten am Tag - in Gebiete, von denen die Amerikaner genau wissen, die Hauptstraßen und Märkte sind voller Menschen? Der Angriff letzte Woche auf die Straße in Sha’ab, war ein Angriff auf eine Hauptstraße um die Mittagszeit, während gerade ein Sandsturm fegte. Dass dabei dutzende Zivilisten sterben würden, muss klargewesen sein - egal, worauf der Pilot zu zielen meinte. “Ich hatte 5 Söhne, jetzt habe ich nur noch 2 - und wie soll ich wissen, dass wenigstens sie überleben?” fragte mich gestern ein Mann mittleren Alters mit Brille im kargen Beton-Hinterzimmer seines Hauses. “Einen meiner Buben hat es ins Herz und in die Nieren getroffen. Seine Brust war voller Schrapnells. Es kam direkt durch die Fenster. Alles was ich noch sagen kann: Ich bin traurig, dass ich noch lebe”. Der Nachbar unterbricht ihn, sagt, er habe das Flugzeug mit eigenen Augen gesehen. “Ich habe das Flugzeug von der Seite gesehen. Mir ist aufgefallen, nachdem es die Rakete abgefeuert hat, hat es den Kurs geändert”.

Ausschau nach Flugzeugen halten, ist in Bagdad inzwischen zum zentralen Bestandteil des Lebens geworden. Ich wende mich hier an jenen nachdenklichen Leser, der mir die Frage gestellt hat, ob ich die amerikanische Maschine denn auch wirklich und mit meinen eigenen Augen über der Stadt gesehen hätte. Nein, das habe ich leider nicht, trotz meiner tigerscharfen Augen, ebensowenig die Flugzeuge, die für die übrigen (mindestens) 65 Luftangriffe verantwortlich sind. Man hört sie, vor allem nachts, aber sie fliegen extrem schnell - mit Überschallgeschwindigkeit. Tagsüber halten sie sich normalerweise über den Wolken auf - jenen Wolken aus schwarzem Rauch, die über Bagdad hinwegziehen. Einmal, nur einmal, habe ich eine Cruise Missile gesehen (Cruise- bzw. Tomahawk-Raketen fliegen etwa 250 Stundenkilometer schnell). Ich sah, wie sie die Straße hinunterzischte Richtung Tigris. Aber was wirklich nicht zu übersehen bzw. zu missinterpretieren ist, ist jener graue Rauch, der wie der Finger einer Totenhand aus der Stadt Bagdad nach oben schießt, dazu der Erschütterungslärm (des Einschlags). Und, wie gesagt, die Computer-Kodes auf den Bombenstücken sprechen eine sehr beredte Sprache - so man die Teile denn entdeckt. Bei der Shu’ale- Rakete ist eine Kodierung vorhanden, also kein Problem.

Auch gestern Morgen - den ganzen Morgen - machten die Amerikaner weiter. Rastlos bombardierten sie Ziele an Bagdads Peripherie. Dort heben die irakischen Truppen gerade die vorgerückten Verteidigungslinien der Stadt aus. Aber auch das Stadtzentrum wurde erneut bombardiert. Auf dem Dach des irakischen Informationsministeriums explodierte eine luftgestützte Rakete und zerstörte ein paar Satellitenschüsseln. Während eines langen Angriffs schwankte das Bürogebäude, auf dem ich stand und mir das Bombardement ansah - buchstäblich - für mehrere Sekunden. Selbst im Al-Noor-Hospital wackelten gestern die Wände - während die Opfer des Markt-Angriffs noch ums Überleben kämpften. Da ist Hussein Mnati, 52, der mich nur anstarrt, sein Gesicht gespickt mit Metallstücken - während in der Stadt die Bomben explodieren. Ein 20-jähriger sitzt im Bett daneben, mit dicken, blutdurchtränkten Verbänden um den Stumpf seines linken Arms. 12 Stunden ist es jetzt her, da hatte er noch einen linken Arm, eine linke Hand, Finger. Nun gibt er nüchtern wieder, was er weiß. “Ich war auf dem Markt, ich fühlte nichts”, sagt er zu mir. “Die Rakete kam, ich stand rechts von ihr, dann hat mich die Ambulanz ins Hospital gefahren”. Vielleicht haben sie ihm Schmerzmittel gegeben, dass er die Amputationsschmerzen weniger spürt, jedenfalls will er jetzt reden. Als ich ihn nach seinem Namen frage, setzt er sich aufrecht ins Bett und schreit mich an: “Mein Name ist Saddam Hussein Jassem”.

Quelle: ZNet Deutschland vom 31.03.03. Übersetzt von: Andrea Noll. Original: Baghdad, blood and bandages

Veröffentlicht am

01. April 2003

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