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“Protest überrollt den Apparat”

Interview mit dem Sozialforscher Dieter Rucht, in: Frankfurter Rundschau vom 18.2.03

Der Zulauf bei der Berliner Friedensdemonstration hat nicht nur die Veranstalter überrascht. Auch Protest-Beobachter, wie der Berliner Sozialforscher Dieter Rucht, waren erstaunt. Rucht ist Experte für soziale Bewegungen am Wissenschaftszentrum Berlin. Mit ihm sprach FR-Korrespondentin Vera Gaserow über die alte Friedensbewegung und neue Phänomene.

FR: Was war - abgesehen von der Teilnehmerzahl - das bemerkenswerteste Phänomen der Berliner Friedensdemonstration?

Rucht: Das war die Mobilisierung von Bevölkerungsteilen, die zum ersten Mal in ihrem Leben demonstriert haben. Außer wenn ein Problem sie nicht ganz persönlich betrifft, erwägt die Masse der Bundesbürger ja sonst kaum, jemals zu demonstrieren. Jetzt hat sich ein Teil von ihnen über die Schwelle gewagt. Das ist ein Phänomen, das in dieser Breite bisher nicht da gewesen ist. Das ist für mich das Neue, dass Menschen ohne politische Zusammenhänge oder politische Sozialisation von einem internationalen Ereignis so angesprochen werden, dass sie beschließen: hier kann ich nicht mehr nur zuschauen.

Wo sehen Sie den Unterschied zu der Friedensbewegung der 80er Jahre?

Die Friedensbewegung der 80er Jahre war gefangen in dem Ost-West-Gegensatz. Jetzt haben wir die merkwürdige Situation, dass man sich zu ideologischen und politischen Verbündeten, zu den USA und England, verhält. Diese Konstellation ist neu. Neu ist auch, dass die “üblichen Verdächtigen”, die Aktivisten mit Hammer und Sichel, roten Fahnen oder Gewerkschaftsemblemen nicht schwächer als früher vertreten waren, im Gegenteil. Nur die schiere Masse der Demonstranten hat diese Gruppen zu einem Randphänomen gemacht. Man hatte das Gefühl, das ist eine Demonstration, die einen großen Querschnitt der Bevölkerung spiegelt. Das ist in dieser Deutlichkeit ein Novum.

Die Friedensbewegung war längst totgesagt. Wundert es Sie, dass sie jetzt dennoch diese Mobilisierungskraft hatte?

Nein. Es gibt eine kleine Infrastruktur, in der über Jahrzehnte Erfahrung und organisatorisches Know-how gesammelt wurden. Die kann als Keim für große Mobilisierung dienen, wobei aber nicht Professionalität oder Geschick der Organisatoren entscheidend sind, sondern die politischen Rahmenbedingungen.

Die Veranstalter gehörten großenteils zu den Altvorderen der Friedensbewegung. Passen deren inhaltlichen und kulturellen Botschaften noch zu den Teilnehmern?

Insgesamt setzt sich ein Trend durch, den wir schon bei den Lichterketten beobachtet haben. Nicht mehr die klassischen Organisationen mit ihren Apparaten, langen Vorlaufzeiten und Streitereien über die richtigen Aufrufe bestimmen das Demonstrationsgeschehen. Die gab es in diesem Fall auch, aber die Stimmung hat sie überrollt. Von ein paar älteren Semestern abgesehen haben ja auch viele junge Leute, wie die von attac, mitgemischt. Die schleppen nicht den Ballast von 30 Jahren linker Organisationsgeschichte mit, sondern gehen da unverbraucht und unideologisch ran.

Werden wir ein Comeback der Friedensbewegung erleben?

Da bin ich skeptisch. Die 500000 sind an diesem Tag zu diesem Thema auf die Straße gegangen. Alles weitere wird jetzt davon abhängen, ob es zu diesem Krieg kommt und unter welchen Bedingungen, ob mit UN-Mandat oder ohne. Davon wird abhängen, ob es vielleicht sogar eine Vergrößerung dieser Mobilisierung gibt oder ob möglicherweise bei einem sehr kurzen Krieg alles schon vorbei ist, wenn die Demonstrationen dagegen beginnen sollen.

Denken Sie, dass sich die Leute längerfristig einbinden lassen werden?

Ich glaube kaum, dass die Leute sich in friedenspolitische Zusammenhänge einklinken. In der Regel ist es so, dass selbst die, die sich engagieren möchten, nicht die Strukturen dafür finden. Die Leute kommen zu zwei, drei Treffen, da wird nur gelabert, man kann konkret nichts tun, alles ist kompliziert, man ist sich nicht einig, und dann gibt es auch noch linke Gruppen, die alles auf ihre Mühlen umlenken wollen - da sind die Leute nach zwei, drei Treffen weg.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 18.02.2003. Wir veröffentlichen diesen Text mit freundlicher Genehmigung der FR.

Veröffentlicht am

18. Februar 2003

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