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Überlegungen zum Gewaltverzicht ein Jahr nach dem Luftkrieg gegen Jugoslawien

Ullrich Hahn setzt sich aufgrund der Verunsicherung, welche der Einsatz der Bundeswehr gegen Jugoslawien bei vielen Kriegsdienstverweigerern auslöste, mit der Frage eines prinzipiellen Gewaltverzichts auseinander. Er kommt zum Ergebnis, daß der prinzipielle Verzicht auf militärische Gewalt auch nach rationaler Abwägung des Für und Wider begründbar und damit “politikfähig” ist.

Überlegungen zum Gewaltverzicht ein Jahr nach dem Luftkrieg gegen Jugoslawien

Von Ullrich Hahn

a)
In der Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr gegen Jugoslawien hat mich am wenigsten die Haltung der rot-grünen Bundesregierung erstaunt. Die staatsmännische Fortführung der alten Außen- und Militärpolitik war schon in den Koalitionsvereinbarungen festgelegt, der Einsatz der Bundeswehr im Kosovokonflikt im Voraus im Oktober 1998 durch den Bundestag gebilligt. Die moralische Fallhöhe der Regierung war für mich im März 1999 schon so gering, dass sich meine Enttäuschung sehr in Grenze hielt.

b)
Überrascht war ich jedoch über die Verunsicherung, die der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr bei vielen Kriegsdienstverweigerern auslöste. Und bedenklich fand und finde ich, dass sich die öffentlich geäußerte Kritik von Seiten der Friedensorganisationen (von der Sprachlosigkeit der Kirchen ganz zu schweigen) fast ausschließlich auf situationsbezogene Einwände beschränkte (kein UN-Mandat, versäumte Alternativen wie z.B. die OSZE, fehlerhafter Einsatz der Bomben auch gegen “Unbeteiligte”, unverhältnismäßige Kosten etc.). Die Summe dieser Einwände lässt offen, dass es andere, völkerrechtlich korrekte und deshalb dann in diesem Sinne berechtigte Militäreinsätze geben könne, denen dann nichts mehr entgegengehalten werden kann?

c)
Einen Grund für diese Beschränkung auf zweckrationale, situationsbezogene Argumente nannte mir bei einer öffentlichen Veranstaltung der Badische Landesbischof: Ein prinzipieller Gewaltverzicht ohne Berücksichtigung der konkreten Situation sei nicht politikfähig.

Diese Beobachtungen führen mich zu folgenden Feststellungen und Fragen, ob nicht auch unabhängig von meiner eigenen religiös verankerten Gewaltlosigkeit der prinzipielle Verzicht auf militärische Gewalt auch nach rationaler Abwägung des Für und Wider begründbar und damit “politikfähig” ist.

1.
Zunächst einmal: Der Krieg gegen Jugoslawien hat keine neuen ethischen Fragen aufgeworfen. Die Rechtfertigung militärischer Einätze zum Schutz von Menschenrechten hat eine lange Geschichte, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, als wohl erstmals die in den amerikanischen und französischen Revolutionen formulierten Menschenrechtserklärungen auch zur Rechtfertigung der zu ihrem Schutz eingesetzten militärischen Gewalt dienten (die Geschichte “gerechter Kriege” zu Gunsten anderer hoher Zwecke war damals schon über lOOO Jahre älter).

Der große Krieg gegen das faschistische Deutschland begann fast 60 Jahre vor diesem ersten Krieg unter Beteiligung der Bundeswehr; die Befreiung von Ausschwitz durch die Rote Armee erfolgte im Januar 1945, also 54 Jahre vor dem 24. März 1999.

Jeder, der seither in Deutschland den Kriegsdienst aus Gewissensgründen verweigert hat (darunter auch mehr als 60 Abgeordnete des deutschen Bundestages nach derem eigenen Bekenntnis im vor diesem Krieg erschienenen Bundestagshandbuch), musste sich notgedrungen mit der Frage auseinandersetzen, ob es gerechtfertigt sein könnte, militärische Mittel zum Schutz oder zur Befreiung in ihrer Existenz bedrohter Menschen einzusetzen. Wer dies bejahte, musste und muss nach geltendem Recht als Kriegsdienstverweigerer abgelehnt werden.

Ganz unabhängig davon, ob der Vergleich des Kosovo mit Ausschwitz auch nur entfernt berechtigt war, hat er ethisch keine neue Frage aufgeworfen, sondern nur an die Fragen erinnert, die in den mündlichen Gewissensprüfungen der Kriegsdienstverweigerer regelmäßig gestellt wurden und die sich jeder ernsthafte Kriegsdienstverweigerer selbst zu stellen hatte und hat.

Verunsicherung gegenüber der betont moralischen Begründung des Militäreinsatzes von Seiten der Bundesregierung stellt - ganz ungeachtet des fraglichen Tatsachengehaltes dieser moralischen Kiegserklärung - vieles in Frage, was lange zuvor aus pazifistischer Sicht gegen Militär und Gewalt gesagt und geschrieben wurde.

2.
Es erscheint deshalb notwendig, sich und anderen, insbesondere der Friedensbewegung und in den Kirchen, erneut die Tragweite eines Verzichts auf militärische Gewalt bewusst zu machen:

a)
Gewaltverzicht bedeutet den Verzicht auf das wirksamste Mittel, welches der jeweils physisch stärkeren Seite zur Durchsetzung der eigenen Position zur Verfügung steht. Das gilt unabhängig davon, in welcher Beziehung eine Seite physisch stärker ist: Durch ihre Körperkraft, ihre Waffen, die Zahl ihrer Anhänger.

b)
Es gibt sicher auch den situationsbezogenen, vorläufigen Verzicht auf Gewalt, wenn aufgrund einer rationalen Lagebeurteilung feststeht, dass mit dem Einsatz der Gewalt der erwünschte Erfolg nicht zu erzielen ist, weil die eigenen Kräfte nicht ausreichen oder etwa bei einer Geiselnahme trotz überlegener Gewalt das Leben der Geisel mit diesen Mitteln nicht zu bewahren ist.

Diese Art des Verzichts gilt dann aber nur auf Zeit, bis eine erforderliche Nachrüstung erfolgt ist (so die deutsche Politik nach Versailles) oder der Zeitpunkt zum Eingreifen für die eigenen überlegenen Kräfte günstiger ist (so oft beim Einsatz polizeilicher Gewalt mit “finalem Todesschuss” bei einer Geiselbefreiung) .

c)
Erst der Verzicht auf Gewalt aus einer Position der Stärke, wenn die Möglichkeit bestünde, mit ihrer Hilfe tatsächlich ohne negative Folgen für die eigene Seite die Oberhand zu gewinnen, ist eine Entscheidung, die den Charakter der Umkehr zu einem grundsätzlich anderen Verhalten in sich trägt.

d)
Von einem wirklichen Gewaltverzicht kann jedoch nur dann geredet werden, wenn er auf Dauer angelegt ist. Wer die Gewalt nur manchmal gebrauchen will, “wenn es wirklich Not tut”, gebraucht sie als eine vorhandene Möglichkeit immer. Auch der schlimmste Gewalttäter hat seine Gewaltmittel nicht dauernd im Einsatz. Er braucht Zeiten der Ruhe und nutzt im übrigen die Angst, die er mit der Möglichkeit seiner Gewalt, seines Drohpotentials, verbreitet, um ihre Früchte genießen zu können.

Wer die Gewalt nur manchmal gebrauchen will, muss sie immer bereit halten. Die Kriterien für ihren (situationsbezogenen) Einsatz mögen dann von denen eines Gewalttäters verschieden sein, die Grundentscheidung ist die gleiche.

e)
Das Bereithalten gewaltsamer Mittel als ultima ratio entfaltet dabei schon vor dem Einsatz eine doppelte Wirkung:

- nach außen, als ständig einsetzbares Drohpotential, das in der Lage ist, die politische Gegenseite bei aller sonstigen Friedlichkeit der Politik gefügig zu machen;

- nach innen, weil die ratio dieses Gewaltpotentials materielle Mittel und die Fantasie für eine andere Politik bindet, absorbiert, erstickt.

Es ist Illusion, eine zivile Politik, eine zivile Konfliktlösung, einen zivilen Friedensdienst neben und mit dem Militär entwickeln zu können. Dies geht nur gegen das Militär und gegen eine Politik, die sich dessen Einsatz offen hält.

Festzuhalten ist für die Seite der Befürworter eines Gewaltverzichts: Wer auf Gewalt verzichtet, verzichtet auf eine reale Möglichkeit und damit auf ein Mittel, welches unter Umständen zur Durchsetzung erstrebenswerter Ziele geeignet sein könnte. Und möglicherweise gibt es nicht immer geeignete Alternativen als Ersatz für die Gewalt.

In der deutschen Sprache und in unserer Alltagsvorstellung steht dafür der Begriff des “Vermögens”: Verzichte ich auf mein Vermögen, so vermag ich danach mit den nicht mehr vorhandenen Mitteln auch nichts mehr zu bewirken. Verzicht meint keine alternative Vermögensanlage mit einem jederzeitigen Zugriff “in der Not”, sondern einen dauerhaften, gewollten Verlust.

3.
Auf der anderen Seite gilt: Wer den Einsatz militärischer Gewalt auch nur unter bestimmten Bedingungen und zur Verfolgung guter Ziele bejaht, legitimiert die Existenz des Militärs auf Dauer mit allen damit nicht zu trennenden Bedingungen und Auswirkungen, von der Rüstungsforschung, der Rüstungsindustrie, der Waffenwirkung, bis zu den unvermeidbaren Irrtümern bei ihrem Einsatz mit den dann hinzunehmenden “Kollateralschäden” (aus der jüngeren Geschichte z.B. die Folgen des Dioxin-Einsatzes in Vietnam, gegen den die “Fehlschüsse” in Jugoslawien noch sehr harmlos sind). Auch die jetzt von Seiten des Verteidigungsministers geforderten immensen Mittel zur Aufrüstung der Bundeswehr für ihre bessere Eignung gerade für solche “ultima ratio-Einsätze” in aller Welt mit den erforderlichen Transportkapazitäten, einer eigenen Satellitenaufklärung etc. gehören zu diesen Bedingungen der Bejahung militärischer Einsätze. Diese Legitimation auch der Voraussetzungen und Folgen ist vergleichbar mit der Entscheidung für die Atomenergie: Der “billige Strom” aus dem KKW bedingt, vom Uranabbau und der Aufbereitung des Brennstoffs angefangen, über die Freisetzung der damit verbundenen radioaktiven Strahlung und all ihrer menschlichen Opfer (z.B. unter den Helfern beim Unfall in Tschernobyl) bis hin zur ungelösten Entsorgung und dem Aufwand der Sicherungsmaßnahmen gegen eine Abzweigung und Verwendung des anfallenden Plutoniums für den Bau von Atomwaffen eine Reihe von aktuellen menschlichen und materiellen Kosten und politischen Risiken, die diesem Strom aus der Steckdose zunächst nicht angesehen werden.

Wer sich für ein solches Mittel entscheidet, legitimiert auch das damit verbundene System mit seinen vielfältigen Folgen (siehe zum Bedenken der Folgen auch l. Samuel 8: Die Warnung des Propheten vor der Wahl des Königs).

4.
Die Legitimation militärischer Gewalt unter bestimmten Bedingungen als ultima ratio setzt voraus, dass die Entscheidungsträger und die sie legitimierende Bevölkerungsmehrheit (d.h. die Regierung, die Abgeordneten des Bundestages, das “Volk” i.S.v. Art. 20 II GG) sichere Kenntnis über den Sachverhalt haben, der die Bedingungen erfüllt, unter denen der militärische Einsatz nur erlaubt sein soll. Wann war dies jemals der Fall?

Erst lange im Nachhinein, aus historischem Abstand, erfahren wir, welche der zur Einstimmung in den Krieg verbreiteten Nachrichten wahr und welche gelogen waren.

Informationen der anderen Seite gelten in der Vorkriegssituation ohnehin als unglaubwürdig; sie sind es nicht einmal wert, auf der eigenen Seite verbreitet zu werden (wann und wo wurden wir z.B. darüber informiert, aus welchen Gründen Russland und China im UN-Sicherheitsrat einem militärischen Einsatz der NATO in Serbien nicht zustimmen wollten; wann wurden wir über den Inhalt des westlichen Vertragsentwurfs von Rambouillet informiert und über die Gründe der serbischen Seite, diesen Vertrag nicht zu unterschreiben; wann und wo erhielten wir Kenntnis von der Resolution der serbischen Nationalversammlung vom 23.03.1999 mit dem Angebot einer weiteichenden Autonomie für den Kosovo und dem Appell an UN und OSZE, eine ausreichende internationale Präsenz im Kosovo sicherzustellen?) .

Informationsvermittler sind in solchen Krisenzeiten regelmäßig die Geheimdienste der eigenen Seite, deren nicht nachprüfbare Information, die zuvor natürlich geheim gehalten war, nun plötzlich auf den Tisch gelegt wird, etwa auch in Form von höchst interpretationsdürftigen Luftaufnahmen, und vom staunenden Zuschauer auf Pressekonferenzen und zu Hause vor dem Bildschirm nicht nachgeprüft, sondern nur vertrauensvoll geglaubt werden kann.

Wohl von jedem kriegerischen Einsatz wissen wir im Nachhinein von schwerwiegenden Propagandalügen der eigenen Seite (1939: Nach dem Überfall polnischer Soldaten auf den Sender Gleiwitz wird “ab 5.45 Uhr zurückgeschossen”; 1965: “Im Golf von Tonking wurden Einheiten unserer (US) Marine von Nordvietnam angegriffen”; 1990: Beim Einmarsch des Irak nach Kuweit wurden von irakischen Soldaten in Krankenhäusern Säuglinge aus den Brutkästen geworfen; 1999: Es besteht ein “Hufeisenplan” der serbischen Regierung zur Vertreibung der Kosovoalbaner und die unter ihnen verübten Massaker nehmen das Ausmaß eines Völkermordes an).

Da es bei der Entscheidung über einen Kriegseinsatz gar nicht möglich ist, sich selbst am Ort des Geschehens ein eigenes Bild zu machen, werden die Entscheidungsträger im Parlament und die um Unterstützung der eigenen Politik aufgerufene Öffentlichkeit zum Spielball fremdbestimmter Informationen und gegebenenfalls manipulierter Emotionen.

Aus vielen Strafprozessen und staatsanwaltschaftlichen Ermittlungserfahren wissen wir, wie schwierig schon die Rekonstruktion eines Tötungsdelikts ist, bei dem sich der Täter (z.B. ein Polizist) auf Notwehr oder Nothilfe beruft. Wer ist denn dort bereit, sich alleine auf die Aussage des Täters/Schützen zu verlassen und welch ungutes Gefühl bleibt zurück, wenn die Staatsanwaltschaft in solchen Fällen das Verfahren auf Grundlage der Aussage etwa des beteiligten Polizeibeamten (d.h. der Seite der “Guten”) einstellt.

Wer den Einsatz militärischer Gewalt unter bestimmten Bedingungen rechtfertigt, muss ein nahezu grenzenloses Vertrauen auf die Wahrhaftigkeit und Lauterkeit der eigenen Seite setzen.

Nicht ganz umsonst geht der staatlichen Informationspolitik vor der Entscheidung zum militärischen Einsatz in der Regel eine dauerhafte Öffentlichkeitsarbeit voraus, welche zum Ziel hat, die moralische Integrität des eigenen Militärs als über jeden Zweifel erhaben hinzustellen. Kritik, die das Tabu des ehrenvollen Kriegshandwerks zu durchbrechen sucht (“Soldaten sind potentielle Mörder”), wird als Beleidigung verunglimpft und verfolgt; Hilfseinsätze einzelner Truppenteile bei Überschwemmungen etc. werden herausgestellt und breit vermarktet. Die Frage, in welchem Verhältnis die Kosten des Militärs zu dem Ertrag ihrer humanitären Einsätze stehen und welche zivilen Alternativen statt des Militärs finanziert werden könnten, wird nur selten gestellt (erinnert sei an den Somalia-Einsatz der Bundeswehr, wo beim Abzug Brunnen und andere zivile Einrichtungen im Wert von ca. DM 3.000.000,00 zurückgelassen wurden, während der Einsatz ca. DM 130.000.000,00 kostete, ohne zu einem dauerhaften Frieden in diesem Land beigetragen zu haben).

5.
Trotz der dargestellten Argumente sei ein vollständiger Verzicht auf den Einsatz militärischer Gewalt nicht politikfähig und deshalb keine politisch verantwortbare Position. Welche Sicht von Politik steht hinter dieser Aussage und welche Art von Politik bleibt damit für diejenigen von uns, die als prinzipielle Kriegsdienstverweigerer nicht nur manche, sondern alle Kriegseinsätze als Unrecht verwerfen?

a)
Politikfähig im oben genannten Sinne ist wohl nur, was aktuell mehrheitsfähig ist und sei es durch die notwendigen Abstriche einer zuvor vertretenen Minderheitenmeinung im Rahmen einer Regierungskoalition.

Feste Grundsätze sind in einer solchen Politik von Übel. Von Dauer ist allein der Opportunismus im Sinne eines “ich stehe hier, ich kann auch anders. Der Wähler helfe mir!”

b)
Möglicherweise steht geistesgeschichtlich hinter einer solchen Politikauffassung auch noch eine Traditionslinie der Aufklärung des 18. Jahrhunderts, die über Hegels fortschrittswirkendem Weltgeist bis zur Geschichtsspekulation von Karl Marx reichte, wonach nur eine bestimmte, durch die Kraft der Umstände nicht aufzuhaltende Entwicklung politikfähig und gleichzeitig auch mehrheitsfähig sein könne.

Die angeblichen Sachzwänge verdrängen dann die Wahrnehmung von Entscheidungsalternativen, rechtfertigen den eigenen Opportunismus und vermeiden geradezu die Übernahme von politischer Verantwortung, auf die verbal ständig verwiesen wird.

c)
Politik, wie wir sie als Kriegsdienstverweigerer aus der Position des Gewaltverzichts entwickeln und leben können, muss ausgehen von den Möglichkeiten einer Minderheit, die aufgrund ihrer Überzeugung jedenfalls aktuell nicht erwarten kann, Mehrheit zu werden (die Illusionen einer großen Friedensbewegung 1983 sind jedenfalls spätestens nach dem 24.03.1999 wieder auf das Realmaß zusammengeschrumpft).

d)
Auch eine Minderheit kann jedoch bewusst an der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung teilhaben, wenn sie für ihre Position wirbt und nicht schon den erreichbaren Kompromiss als Lösung vertritt. Die verschiedenen Kompromisse werden sich im Laufe einer geschichtlichen Entwicklung von allein einstellen. Sie müssen nicht von der politisch handelnden Minderheit selbst formuliert und vertreten werden.

e)
Zu den politischen Methoden der Minderheit gehören neben dem Dialog mit der Gegenseite auch der zivile Ungehorsam, sowohl als Konsequenz aus der eigenen Haltung gegen die Einvernahme in die Position der Mehrheit als auch als Mittel, das bekämpfte Unrecht aufzudecken, bewusst zu machen und ins öffentliche Gespräch zu bringen. Weiter das öffentliche Beispiel anderen Lebens und Zusammenlebens: Das öffentliche Modell der gelebten Alternative ist seit biblischen Zeiten die bevorzugte Methode einer Minderheit, sich ohne Gewalt und Zwang mit der eigenen Auffassung zu Gehör zu bringen und gleichzeitig die Bereitschaft und Fähigkeit unter Beweis zu stellen, Verantwortung im Sinne von Eigenverantwortung in und für die Gesellschaft zu übernehmen (siehe im Buch Jesaja das Modell der “Stadt auf dem Berg” des kleinen Gottesvolkes als Einladung für die Völker der Welt zu sehen, wie es auch gehen kann).

f)
Die Politik der Minderheit schließt nicht aus, punktuell mit anderen Gruppen zusammen zu arbeiten und teilweise und zeitweise sogar mehrheitsfähig zu sein (z.B. bei der Kampagne für ein Verbot der Landminen). Der Verzicht auf die der Minderheit wesentlichen Positionen im Rahmen einer Koalition zur Teilhabe an einer Mehrheitsherrschaft dürfte für eine gewaltverzichtende Minderheit aber wohl ausgeschlossen sein, wenn sie sich selbst und ihr Anliegen nicht aufgeben oder für erledigt erklären will.

6.
Ein ideengeschichtliches Beispiel, dass der Verzicht auf ein zuvor für die Verfolgung gesellschaftlich wichtiger Ziele als notwendig angesehenes Gewaltmittel durch beharrliche Aufklärung und Meinungsbildung zur allgemeinen Forderung erhoben und in weitem Umfang auch durchgesetzt werden konnte, ist die Abschaffung der Folter. Über lange Zeiträume notwendig, um Verdächtige und schweigende Zeugen zum Reden zu bringen, um damit Straftaten aufzuklären, wird heute nicht nur die Notwendigkeit der Folter sondern auch grundsätzlich ihre ethische Rechtfertigung verworfen, selbst wenn sie sich im Einzelfall als einziges Mittel erweisen würde, um z.B. bei einer Geiselnahme den Aufenthaltsort der verschleppten Geiseln von einem gefassten Mittäter der Geiselnehmer zu ermitteln.

Bei der Folter haben wir - zumindest in den westlichen Ländern - eine Art von dauerhaftem Verzicht erreicht, wie ich sie auch für das Militär als erstrebenswert ansehe.

Seit der Aufklärungsschrift des deutschen Juristen Christian Thomasius “de tortura” 1705 bis zur Überwindung der Folterpraxis in Deutschland hat es ca. anderthalb Jahrhunderte gedauert. Aber schon der erste Schritt gegen die Folter bestand darin, nicht die Bedingungen für ihre Anwendung zu verfeinern, sondern ihr vom ersten Augenblick an jegliche Legitimation zu entziehen.

Ullrich Hahn ist Rechtsanwalt und Vorsitzender des Internationalen Versöhnungsbundes - Deutscher Zweig .

Veröffentlicht am

12. September 2001

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