Lebenshaus Schwäbische Alb - Gemeinschaft für soziale Gerechtigkeit, Frieden und Ökologie e.V.

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Militärische Gewalt als ultima ratio?

Pazifistische Positionen in der aktuellen Diskussion

Theodor Ebert - Vortrag beim Kontaktkreis Dekade “Gewalt überwinden” im Kirchenkreis Vlotho am 7.3.2002.

Die Debatte um den ‘gerechtfertigten Krieg’
Von den Regierenden in den USA und in Deutschland wird behauptet,
- erstens, dass die terroristischen Anschläge des 11. September die Welt verändert hätten;
- zweitens, dass jetzt eine Allianz gegen den Terror weltweit für Sicherheit und den Schutz der Menschenrechte sorgen müsse und
- drittens, dass der Kampf gegen den rücksichtslosen Terror mit allen erforderlichen Mitteln - und dies seien auch militärische - geführt werden müsse.

Die Fernsehbilder vom brennenden und einstürzenden World Trade Center haben der Behauptung, dass es des Militärs zur Terrorbekämpfung bedürfe, in den USA und in Deutschland Plausibilität verschafft. Und diese Argumentation trifft auf so geringen Widerspruch, weil die militärische Überlegenheit der Vereinigten Staaten von Amerika so groß ist, dass sie bei minimaler Gefahr für Leib und Leben der eigenen Soldaten alles durchsetzen können, was sie für opportun halten. Und opportun ist, was für die USA günstig ist. Und dieses Günstige wird dann unter Berufung auf die globale Gültigkeit der Menschenrechte begründet - vielleicht ist dies aber auch nur eine ideologische Verbrämung von Interessenpolitik. Doch dies will ich vorläufig offen lassen. Traditionelle Imperialismuskritik, die mir nicht überholt scheint, ist nicht mein Spezialgebiet.

Die Lage nach dem 11. September ist aber gar nicht so neu, wie behauptet wird. Auch die Argumente, die jetzt in der öffentlichen Debatte vorgetragen werden - nur etwas unverschämter als früher -, sind im Grundsätzlichen nicht neu. Dies ließe sich an einer ganzen Reihe von Texten untersuchen und zeigen. Ich werde mich im Folgenden auf einen einzigen, doch repräsentativen und den in pazifistischen Kreisen am meisten diskutierten beschränken. Alles, was Dr. Ludger Volmer, grüner Staatsminister im Auswärtigen Amt, in Fortsetzung der Beschlüsse des Rostocker Parteitags der Grünen zur Kritik des Pazifismus und zur Rechtfertigung militärischer Mittel in seinem Beitrag “Was bleibt vom Pazifismus?” in der Frankfurter Rundschau vom 24.1.2002 gesagt hat, ist in seiner Argumentationsstruktur bekannt.

Die Debatte um die Zulässigkeit militärischer Mittel als letzten Ausweg hat es innerhalb des Pazifismus in den Jahren 1995/96 bereits gegeben. Stellvertretend hat sie Pax Christi, die katholische Friedensorganisation, für die anderen Pazifisten geführt. Und es ist schmerzhaft, nun feststellen zu müssen, dass alles bereits wieder vergessen scheint oder auch von den Regierenden nicht zur Kenntnis genommen wurde, gerade auch von den Grünen, die schließlich 1998 auch von den Pazifisten gewählt worden sind. Auch von mir. Und nun tut es mir leid, es aussprechen zu müssen, dass wir - was den Pazifismus anbelangt - von Ignoranten regiert werden.

Warum redet Dr. Volmer, bevor er mit einem Artikel über das, was er politischen Pazifismus nennt, an die Öffentlichkeit tritt, nicht mit Friedens- und Konfliktforschern, die seit Jahrzehnten als Pazifisten ausgewiesen sind und an der ursprünglichen Verankerung des Prinzips der Gewaltfreiheit im Parteiprogramm der Grünen direkt oder indirekt mitgewirkt haben? Sie lassen sich in der Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung in ausreichender Zahl finden. Wir hätten ihn leicht auf einschlägige Untersuchungen in den Zeitschriften “Antimilitarismus-Information”, “Gewaltfreie Aktion”, “Wissenschaft und Frieden” oder in den Jahrbüchern der AFK hinweisen können. Ich habe auf der Buchmesse am 12. Oktober 2001 mein neues zweibändiges Werk “Pazifismus. Erfahrungen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert” vorgestellt, in dem meine Vorlesungen und Artikel aus den letzten Jahren noch einmal übersichtlich und handlich zusammengestellt werden.

Wenn im Deutschen Bundestag über die Genforschung und die Verwendung embryonaler Stammzellen abgestimmt werden soll, dann machen sich die Abgeordneten und die Regierung kundig und setzen entsprechende Kommissionen ein. Wenn es um die Kriegführung und Milliardenprojekte auf dem Gebiet der Rüstung geht, dann leistet sich die Regierung eine Staunen erregende Ignoranz auf dem Gebiet des Pazifismus. Da bildet sich jedes Regierungsmitglied oder jeder Abgeordnete ein, selbst Fachmann oder Fachfrau zu sein. Wenn sich die konservative Opposition so verhält, dann darf einen dies nicht wundern, aber wenn dies die Grünen tun, die doch den Pazifismus der gewaltfreien Aktion absichtlich und als etwas ganz Neues ins Parteiprogramm geschrieben haben und gar einen Petra-Kelly-Preis vergeben, dann darf einen dies nicht nur wundern, es muss einen geradezu ärgern.

Pazifisten warnten vor dem Terrorismus
Sie sind vermutlich heute Abend hierher gekommen, weil Sie erwarten, von mir etwas Neues zu hören zu der Frage, ob und wie man in schwierigen Situationen Politik mit gewaltfreien Mitteln machen kann. Diese Neugierde ist legitim, denn es gibt in der Politik immer wieder neue Herausforderungen, auf die man mit revidierten, angepassten Methoden reagieren muss. Ich leugne gar nicht, dass der Terrorismus eine Herausforderung darstellt; ich kann allerdings darauf hinweisen, dass ich bereits vor Jahren darauf aufmerksam gemacht habe, dass die militärisch Unterlegenen sich nicht einfach unterwerfen werden, sondern - um ihren Stolz und ihre Identität zu wahren - auch zu terroristischen Mitteln greifen werden bis hin zum Selbstmordattentat. Das lässt sich in den Schriften zum Pazifismus und zur Bearbeitung von Konflikten mit gewaltfreien Mitteln nachlesen. Ich erlaube mir mal, zwei Absätze aus meinem Vorwort zum zweiten Band von “Pazifismus” vorzulesen, und dieses Vorwort war vor dem 11. September in Druck gegangen:

“In modernen Industriegesellschaften kann man wegen deren enormer Störanfälligkeit keine Kriege führen, selbst wenn es noch nicht zum Einsatz der immer weiter proliferierenden Atomwaffen kommen sollte. Auch im Rahmen begrenzter konventioneller Kriege (wie dem Kosovo-Krieg) sind die Umweltschäden bei der Zerstörung großindustrieller Anlagen größer als bei friedenszeitlichen Unfällen, die wir bereits als Katastrophen empfinden und auch so bezeichnen… Weitaus Schlimmeres wäre in amerikanischen oder europäischen Großstädten und Industriegebieten möglich. Solche Anschläge lassen sich kaum verhindern, wenn sie von Fanatikern ins Auge gefasst und entschlossen betrieben werden.

Wer sich einbildet, auch in Zukunft ließe sich aus großer Höhe mit Bomben politischer Gehorsam erzwingen, unterschätzt die Möglichkeiten, die fanatische Terroristen haben, in fahrlässiger Weise. Jedes Atomkraftwerk ist eine stationäre Atombombe, die von Terroristen mit geringem Aufwand in ein Tschernobyl verwandelt werden kann. Wir haben allen Grund, schleunigst über zivile Alternativen zu militärischen Einsätzen nachzudenken und die vorhandenen Ansätze solch ziviler Alternativen zu entwickeln.”

Die Frage ist dann aber: Welche praktischen Konsequenzen zieht man aus einer Lageanalyse? Aus einer richtigen Diagnose und Prognose folgt nicht eigendynamisch auch bereits die Therapie. Die meisten starken Raucher wissen, dass sie durch Rauchen ihr Leben wahrscheinlich um etwa zehn Jahre verkürzen, und sie rauchen trotzdem weiter. Wir wissen viel über die gefährlichen oder gar katastrophalen Folgen unserer Handlungen oder Versäumnisse und machen dennoch weiter wie bisher, eben weil eine Verhaltensänderung kurzfristig mit unangenehmen Entzugserscheinungen verbunden wäre und weil die anderen ‘Abhängigen’ in unserer Umgebung auch weiter machen wie bisher. Und die Politiker bilden da keine Ausnahme.

Das Hauptproblem ist, dass bei Verhaltensänderungen die kurzfristig auftretenden Mangel- und Entzugserscheinungen als besonders hart empfunden werden und darum die längerfristigen, aber dann katastrophalen Gefahren verdrängt werden. Und so unterbleiben die notwendigen Vorkehrungen und Verhaltensänderungen. (…)

Ich möchte jetzt aber zunächst noch einmal zurückkommen auf die Frage, wie man mit einer Lageanalyse umgeht und wie man von einer Diagnose und Prognose zur Therapie kommt.

Ursachen des Terrorismus
Krankheiten erkennt man zunächst an Symptomen. Das gilt auch für die Erkrankung politischer Systeme. Ein solches Symptom für die Krankheit eines politischen Systems ist der Terrorismus. Die amerikanische Diagnose ist: Die Ursache des Terrorismus ist die Ausbildung von Terroristen. Darum müssen die Ausbildungsstätten beseitigt, ausradiert werden, zum Beispiel in Afghanistan oder wo auch immer. (…) Wir halten es wahrscheinlich alle für ausgeschlossen, dass man auf diese Weise die Motivation zum Terror - und auf die kommt es an! - beseitigen kann.

In Israel lässt sich im Moment beobachten, dass militärische Schläge gegen den Terrorismus nicht geeignet sind, weitere Selbstmordattentate zu verhindern. Was Israel auf kleinstem Raum erfahren muss, werden die USA und ihre Verbündeten wahrscheinlich global kennen lernen.

Heißt dies, dass Pazifismus gleichbedeutend ist mit Kapitulation vor dem Terrorismus? Oder bedeutet Pazifismus - und nun greife ich auf die Situation in Jugoslawien zurück -, bedeutet Pazifismus Wegschauen angesichts von Völkermord und Vertreibung?

So behauptet Volmer: “Wer den Antimilitarismus retten wollte, musste das faschistische und völkermörderische Treiben gegen die Kosovo-Albaner hinnehmen.” Aber ist es denn nur Wortklauberei, wenn man daran zweifelt, dass man das Milosevic-Regime als “faschistisch” bezeichnen sollte und dass vor Beginn des Angriffs der Nato auf Jugoslawien im Jahre 1999 im Kosovo ein “Völkermord” stattgefunden hat? Wer ungenau diagnostiziert, taugt kaum zum Therapeuten. Auch Volmers Diagnose des Terrorismus scheint mir wenig geeignet, die Grundlage für eine Therapie abzugeben. “Mit extremer verbrecherischer Energie kämpft eine international vernetzte Nichtregierungsorganisation gegen die moderne globalisierte Welt. Eine verbrecherische Schattengesellschaft will die Grundlagen der Moderne unterminieren. Diese ‘privatisierte Gewalt’ (Eppler) ist nicht als falsches Feindbild abzutun.”

Bei der Suche nach Therapien in bedrohlicher Lage ist es sicher nicht hilfreich, die Lage zu verharmlosen; doch Volmers Rede von Faschismus, Völkermord und verbrecherischer Schattengesellschaft scheint mir weniger einen analytischen als ideologischen Charakter zu haben. Volmers Vokabular will suggerieren, dass nur militärische Mittel als ultima ratio angemessen sind. Dies darf man bezweifeln. Doch selbst, wenn Volmers Diagnose stimmen sollte, wäre damit noch nicht ausgeschlossen, dass es außer militärischen auch noch andere gewaltfreie Mittel gibt, die bei konsequenter Anwendung Abhilfe schaffen könnten.

Diese Vorwürfe gegen die Pazifisten haben teilweise einen diffamierenden Charakter. Auch Pazifisten sind dafür, dass man durch rechtsstaatliche Vorsichtsmaßnahmen terroristische Anschläge zu verhindern sucht, und sie haben auch in Jugoslawien nicht weggesehen, sondern haben über nichtstaatliche Organisationen einzugreifen versucht und humanitäre Hilfe geleistet. Dennoch kann der Eindruck der Untätigkeit oder der Erfolglosigkeit der Bemühungen entstehen, weil die Pazifisten nicht für jede schreckliche Situation, für deren Entstehung sie in der Regel nicht verantwortlich sind, eine kurzfristige Lösung haben. Nota bene, die Taliban und Al Qaida wurden nicht von Pazifisten aufgerüstet, sondern von den USA im Konflikt mit der UdSSR. (…)

Voraussetzungen einer pazifistischen Strategie
Wenn man über pazifistische Strategien und gewaltfreie Alternativen nachdenkt, dann muss man in längeren Zeiträumen rechnen als dies Ludger Volmer tut und man muss den Pazifisten gedanklich die Möglichkeit einräumen, ihre eigenen Vorkehrungen auf schwierige Situationen zu treffen. Wenn eine deutsche Regierung auf längere Sicht solche pazifistische Strategien verfolgen würde, könnte sie dies kurzfristig in Schwierigkeiten bringen, weil sie damit den Erwartungen ihrer bisherigen militärischen Bündnispartner nicht entspricht. Solche politischen Einwände Volmers gegen eine pazifistische Strategie hätte ich verstanden. Deutschland kann nicht so einfach aus der Nato austreten. “Raus aus der Nato” oder “BoA! BoA!”, Bundesrepublik ohne Armee sind zunächst einmal nur Parolen. Es sind aus meiner Sicht auch politische Zielsetzungen. Doch als reine Parolen bieten sie in sich noch keine handhabbare politische Strategie.

Wenn man eine pazifistische Strategie erwägt und zielstrebig verfolgt, ist eine ganz wichtige Frage: Auf wie viel Solidarität mit dieser schwierigen pazifistischen Politik kann man im eigenen Volk rechnen, und in welchen Schritten lässt sich das Ziel erreichen? Auch Pazifisten müssen Realos sein. Ich leugne die Schwierigkeiten nicht. Was ich Volmer und anderen grünen Politikern vorwerfe, ist, dass sie der Solidarität ihrer Wähler wenig zutrauen und es vorziehen, die Mitglieder und Wähler der Grünen mit der Ideologie des neuen politischen Pazifismus der militärischen Mittel zu verdummen.

Es ist bezeichnend, dass Ludger Volmer in seiner Darstellung der historischen Entwicklung des Pazifismus sich mit den modernen Formen des Pazifismus, der Politik verantwortlich mit gewaltfreien Machtmitteln zu gestalten sucht, gar nicht befasst. Volmers auf Max Weber zurückgreifende Gegenüberstellung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik ist überholt. Sie ignoriert die grundlegenden Forschungen des Amerikaners Gene Sharp und zum Beispiel auch die Erörterungen des Hearings der Fraktion der Grünen im Bundestag am 16. Juni 1984, das von Petra Kelly und Roland Vogt vorbereitet, aber eben von keinem der Realos besucht worden war. Dort hätten sie Gene Sharp, Adam Roberts, Johan Galtung und andere Forscher befragen können. Mit großer Mühe und fast ohne Unterstützung der Fraktion der Grünen im Bundestag ist es mir dann gelungen, noch vor dem Mindener Kongress “Wege zur Sozialen Verteidigung” dieses Hearing schließlich zu dokumentieren. Woher weiß denn Ludger Volmer, dass die Vertreter gewaltfreier Politik zu den aktuellen Problemen keinen Rat gewusst hätten? Er und andere Realos wollten die Pazifisten gar nicht hören, weil sie ahnten, dass eine pazifistische Strategie sie in große Schwierigkeiten bringen würde. Möglicherweise hätten sie auch aus der Regierung zunächst ausscheiden müssen, um mittelfristig und langfristig mit einer pazifistischen Strategie erfolgreich zu sein. Wahrscheinlich wäre die erkennbare Bereitschaft, die Koalition auch aufzukündigen, die Voraussetzung dafür gewesen, mehr Respekt und praktische Zugeständnisse bei pazifistischen Programmen abzunötigen.

Es ist das Kennzeichen des modernen, radikalen Pazifismus der Kriegsdienstverweigerung, dass er eine Politik mit gewaltfreien Mitteln anstrebt und dass er das entsprechende Instrumentarium zu entwickeln und Menschen auf diese Form der Konfliktbearbeitung vorzubereiten sucht.

Friedenspolitik, Menschenrechts- und Sicherheitspolitik ist immer auch eine Aufgabe der langfristigen Planung. Doch planen kann man nur, wenn man sich über gewisse Konstanten im politischen Entscheidungsprozess im Klaren ist. Und deswegen muss man die Strukturen der friedenspolitischen Debatte und die grundsätzlichen Alternativen kennen.

Auf diesem Gebiet der Alternativen - also auf dem Gebiet der Politik mit gewaltfreien Mitteln - halte ich Ludger Volmer für nicht ausreichend informiert oder wenn er persönlich - quasi insgeheim - Bescheid wissen sollte, dann erweisen sich zumindest seine Regierung und er in seinem Amt von zu geringer Tatkraft. Ich weiß nicht, woran Ludger Volmer dächte, wenn er auf die gewaltfreien Mittel, welche das Parteiprogramm der Grünen vorsieht, angesprochen würde. Doch es geht hier nicht allein um Informationen und das richtige Denken, sondern es geht um die entsprechenden Handlungen. Im Klartext: Es gilt, Menschen auf das gewaltfreie Handeln vorzubereiten und entsprechend auszustatten. Das gilt für die Regierungsebene, aber auch für die Ebene der nichtstaatlichen Organisationen. In dieser Hinsicht gibt es für den Pazifismus eine Parallele zur Ausbildung und Ausstattung von Soldaten. Mit Sprüchen, also mit Gandhi- oder Jesus-Zitaten oder auch mit dem Studium der Schriften von Gene Sharp oder Theodor Ebert alleine ist es nicht getan. (…)

Der Pazifismus kann dem Anspruch, über eine alternative Strategie zu verfügen, nur gerecht werden, wenn die erforderlichen Anstrengungen auf dem Gebiet der Ausbildung und Ausstattung getätigt werden. Dafür zu sorgen, wäre die eigentliche Aufgabe der Grünen gewesen. Noch bevor sie in die Regierung eingetreten sind, hätten sie sich überlegen müssen, ob sie dieser Aufgabe gerecht werden können. Da gab es schwerwiegende Versäumnisse. Diese Versäumnisse sind meines Erachtens verantwortlich für das aktuelle Versagen der Grünen in der Friedenspolitik und für die miserable Lage der Partei, die zumindest für die Pazifisten aufgehört hat, ein Hoffnungsträger zu sein.

Was wurde aus dem Konzept Ziviler Friedensdienst?
Ein paar Worte des Rückblicks. Als 1989 der Bund für Soziale Verteidigung (BSV) in Minden als Dachverband pazifistischer Organisationen gegründet wurde, waren im Vorstand des BSV Petra Kelly und Roland Vogt, zwei prominente Gründungsmitglieder der Grünen, und auch ich uns darüber im Klaren, dass wir uns auf das Zustandekommen einer rot-grünen Koalition vorbereiten müssten. Wir wiesen darauf hin, dass die Grünen sich an einer Regierung mit der SPD nur beteiligen dürfen, wenn die Pazifisten mit am Kabinettstisch sitzen würden und auf der Basis einer Koalitionsabsprache die Möglichkeit hätten, sich Schritt um Schritt das Instrumentarium für ihre Politik mit gewaltfreien Mitteln zu schaffen. Das wäre schwierig geworden. Man hätte wahrscheinlich auch einige faule Kompromisse schließen müssen. Doch es gibt auch in der SPD Pazifisten, und man hätte sehen müssen, wie weit man kommt, also welche pazifistischen Aufbauleistungen in der Regierungsverantwortung möglich geworden wären. Und die Grünen hätten auch klipp und klar sagen müssen, wozu sie auf gar keinen Fall bereit sind. Eine Partei, deren männliche Wähler zu einem großen Teil Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen sind, muss ihrem Koalitionspartner von vorn herein klar machen, dass ihre Abgeordneten einem Krieg nicht zustimmen werden.

Den Kosovo-Krieg und den Krieg in Afghanistan konnten wir bei der Gründung des Bundes für Soziale Verteidigung im Jahre 1989 nicht vorhersehen. Doch es war uns klar, dass die Bundesrepublik nicht einfach aus der Nato austreten kann und dass entsprechende programmatische Forderungen illusorisch sind, wenn man an eine Regierungsbeteiligung denkt. Um nun aber für den Fall einer solchen Regierungsbeteiligung die Richtung vorzugeben, haben Kelly, Vogt und ich damals ein neues Ministerium für Abrüstung, Konversion und Soziale Verteidigung gefordert. Einen Partner fand der BSV dann nach der Wende und zu Beginn der Diskussion um die out of area Einsätze der Bundeswehr interessanterweise in der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg, die den Aufbau eines Zivilen Friedensdienstes als staatlich getragene Großorganisation vorschlug. Ich betone ‘Großorganisation’. Es ging nicht um eine kleine Nongovernmental Organization in der Art von Aktion Sühnezeichen / Friedensdienste. Es ging um eine Alternative zur Bundeswehr. Die Kirche ging soweit, dass sie sagte: Solange es die Allgemeine Wehrpflicht gibt, sollen die Wehrpflichtigen die Möglichkeit erhalten, sich für eine Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung und für entsprechende Einsätze im In- und Ausland zu entscheiden. Das sollte als gleichwertige Option neben der militärischen Ausbildung und der Kriegsdienstverweigerung mit herkömmlichem Zivildienst stehen.

Der springende Punkt an der Sache war, dass man sich in der Evangelischen Kirche ausrechnete: Wenn eine solche Option eröffnet wird, dann werden sich jährlich wahrscheinlich zehntausend junge Männer oder auch noch mehr für diese neue Ausbildung entscheiden. Und diese neue Organisation, dieser Zivile Friedensdienst, diese Nonviolent Task Force, müsste dann auch eine entsprechende Ausstattung erhalten. Aus der schieren Zahl der Beteiligten und der Auszubildenden würde eine völlig neue Dynamik in der Friedens- und Sicherheitspolitik erwachsen.

Die Grünen haben den Zivilen Friedensdienst 1998 auch noch in ihr Wahlprogramm geschrieben. Der Aufbau des Zivilen Friedensdienstes kommt sogar noch im Koalitionsvertrag vor. Doch dann wurde der Zivile Friedensdienst - ohne eine ausreichende Debatte in den Reihen der Grünen - als ein kleiner Friedensfachdienst an das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit abgegeben. Dort geht es aber nicht mehr um die Ausbildung von Tausenden, sondern nur noch um die Entsendung von Dutzenden, die aber in der Regel auch nur als einzelne, nicht als profilierte Task Force tätig werden. Diese einzelnen Mitglieder des Zivilen Friedensdienstes machen sicher gute Arbeit, aber nach Zahl und Ausstattung können sie schwerlich zu einer Alternative zum Militär aufwachsen.

Der Zivile Friedensdienst wurde von der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und vom Bund für Soziale Verteidigung konzipiert als eine umfassende Alternative zur polizeilichen und militärischen Gewaltanwendung. Die Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktaustragung sollte beginnend bei Alltagskonflikten sich beziehen auf die Auseinandersetzung mit gewalttätigen politischen Extremisten im Innern des Staates, auf die gewaltfreie Abwehr von Staatsstreichen und Besatzungsregimen und schließlich auch auf die Unterstützung von gewaltfreien Menschenrechtsgruppen im Ausland. Davon ist beim gegenwärtigen Konzept, wie es jetzt im BMZ ressortiert, nur noch die Entsendung des Zivilen Friedensdienstes ins Ausland übrig geblieben.

Ursprünglich sollte aber auch dem Innen-, dem Außen- und dem Verteidigungsminister gewaltfrei zur Hand gegangen werden. Dies hat aber die Mehrheit der Grünen überhaupt nicht mehr im Blick. In der rot-grünen Regierung machen der Innen-, der Außen- und der Verteidigungsminister eine weitgehend traditionelle Innen-, Außen- und Verteidigungspolitik mit den herkömmlichen Instrumenten von Polizei, Militär und Diplomatie. (…)

Das erste Übungsfeld des Zivilen Friedensdienstes wäre zwar die deutsche Innenpolitik, aber mit der Zeit ließen sich auch Kräfte für den verteidigungspolitischen und außenpolitischen Einsatz heranbilden. Auf diesem Gebiet ist bislang viel zu wenig geschehen. Die Fähigkeit, OSZE-Beobachter zu entsenden, wurde etwas ausgeweitet, aber diese Anstrengungen blieben sehr bescheiden. Das spezifische Instrumentarium pazifistischer Strategie wurde nicht entwickelt. Wenn Ludger Volmer behauptet, dass die Bundesregierung ihre Möglichkeiten zur Krisenprävention und zivilen Konfliktbearbeitung “energisch ausgebaut” hätte, dann halte ich dies für übertrieben. (…)

Selbstkritik
Es geht mir nicht darum, gegen Dr. Ludger Volmer zu polemisieren und ihm alle konstruktiven Bemühungen um zivile Konfliktbearbeitung abzusprechen. Doch auf dem Felde des Pazifismus der gewaltfreien Aktion komme ich nicht umhin, ihn als das zu bezeichnen, was er ist, nämlich ein Nichtwissender, ein Ignorant. Ich kritisiere ihn, weil er sich anmaßt, über einen neuen politischen Pazifismus zu reden, ohne sich darüber im Klaren zu sein, was gewaltfreie Pazifisten in der Regierungsverantwortung tun müssen, um politikfähig zu werden. Sein Artikel ist eine ideologische Überhöhung des eigenen Versagens, ein Verdrängen der Versäumnisse der Grünen in der Vorbereitung auf die Regierungsbeteiligung. Man muss allerdings selbstkritisch hinzufügen: Nicht nur die Grünen als Partei haben einiges versäumt, auch die Pazifisten in ihren Organisationen haben nicht alles getan, was hätte getan werden können, um sich und die Grünen auf die Situation der Regierungsbeteiligung vorzubereiten. Wir haben fast zehn Jahre mit dem reinen Diskutieren über den Zivilen Friedensdienst verplempert - und ich schließe mich da nicht aus. Was habe ich zwischen 1989 und 1998 nicht alles getan, was ich auch hätte bleiben lassen und lieber an die Realisierung des Zivilen Friedensdienstes hätte wenden können! Und ich nehme an, dass es den meisten Pazifisten so geht wie mir, wenn sie sich selbstkritisch befragen. Und ich fürchte, wir werden weitere zehn Jahre verplempern. Ich fürchte, dass es mit der ökumenischen Dekade zur Überwindung der Gewalt ähnlich gehen wird wie mit den zehn Jahren nach dem Ende der Blockkonfrontation zwischen Ost und West. (…)

Was ich Joschka Fischer, Ludger Volmer und ähnlich Argumentierenden übel nehme, ist die freche Behauptung, dass sie den neuen politischen Pazifismus kreiert hätten. Mit Verlaub: Was sie uns mit dieser Vokabel kredenzen, ist die alte Scheiße!

Bei Volmer hört sich das so an: “Pazifismus heute kann militärische Gewalt als Ultima Ratio, als letztes Mittel nicht leugnen, kämpft aber für die Prima Ratio, die zivilen Mittel der Krisenprävention.” Praktisch bedeutet dies, dass das gesamte militärische Instrumentarium von Anfang an bereit gehalten und jeweils auf den neuesten Stand gebracht wird. Das ist nicht zu leugnen. Wenn man auf die Investitionen schaut, dann ist nicht zu leugnen, dass immer noch nach der alten Regel Vorsorge getroffen wird: Si vis pacem, para bellum! Wenn du den Frieden willst, dann bereite dich auf den Krieg vor! Das wird nun garniert mit dem neuen Wort Krisenprävention. Aber wie stand es denn mit der Krisenprävention im Kosovo und in Afghanistan? Und im Blick auf den Irak sind die amerikanischen Kriegsvorbereitungen in vollem Gange. Und solange eine rot-grüne Bundesregierung sich hieran beteiligt und gewaltige Lufttransportkapazitäten schafft mit dem A 400 dann ist für mich Volmers Rede vom politischen Pazifismus ein unverschämter Etikettenschwindel.

Die Kontroverse bei Pax Christi 1995/96
Ich sagte eingangs, dass die Debatte um den Einsatz militärischer Mittel auch innerhalb der pazifistischen Organisationen geführt worden sei. Dies geschah Mitte der 90er Jahre, als bei den ethnischen Konflikten im ehemaligen Jugoslawien in den deutschen Medien zumindest der Eindruck erweckt wurde, ein militärisches Eingreifen von außen könne das Blutvergießen beenden. Stellvertretend für die anderen pazifistischen Organisationen trug die katholische Friedensorganisation Pax Christi diese Kontroverse unter sich aus. Ich will diese Debatte rekapitulieren, um herauszufinden, was eine reale pazifistische Entscheidung ist und wodurch sie sich von Kalkulationen oder Spekulationen mit einer militärischen ultima ratio unterscheidet.

Ich will untersuchen, ob es sich bei der Berufung auf eine ultima ratio überhaupt eine rationale Entscheidung vorliegt, also die Voraussetzungen für eine vernünftige, zweifelsfreie Entscheidung vorhanden sind. Oder aber, ob es neben der angeblichen ultima ratio auch noch andere nicht weniger vernünftige Alternativen gibt. Meine Hypothese ist, dass die Rede von der ultima ratio einen ideologischen, propagandistischen Charakter hat. Ich vermute, dass es sich bei der Entscheidung für militärische oder gewaltfreie Methoden um keine vernünftige Kalkulation handelt, bei der mit allgemein einsehbaren Gewissheiten oder auch nur Wahrscheinlichkeiten gerechnet werden könnte. Ich nehme an: Die Entscheidung für gewaltfreie oder militärische Methoden erfolgt zwar unter Berücksichtigung von Know-how auf dem Gebiet der Kriegstechnik und der gewaltfreien Aktion, aber es handelt sich letzten Endes um eine existenzielle Entscheidung und um kein Kalkül. Man kann an Stelle von ‘existenzieller Entscheidung’ auch ‘weltanschauliche’ oder ‘religiöse Entscheidung’ sagen. Man muss nun aber nicht Anhänger einer bestimmten Religion sein, um sich für die gewaltfreie Aktion zu entscheiden.

Damit aber von denjenigen, die bislang nur das Militärische kennen, auch die gewaltfreie Aktion als eine gleichgewichtige Alternative begriffen werden kann, muss ich dann zweitens doch noch zeigen, wie gewaltfreie Strategie in schwierigen und schwierigsten Situationen funktioniert. Letzteres kann ich jedoch nur andeuten. Die Erforschung der Möglichkeiten der gewaltfreien Aktion ist eine Riesenaufgabe. Meine Lebensarbeit war ein Beitrag dazu. Ich bin glücklich, dass mir dies an einer deutschen Universität vergönnt war. Und erfreulicherweise bin ich nicht allein. Eine ganze Reihe von Forschern und Praktikern haben sich nach Gandhis Tod an der Erforschung und Erprobung der gewaltfreien Aktion beteiligt. (…) Wenn es um die Frage geht: Was können wir denn tun, um uns und andere auf die Politik mit gewaltfreien Mitteln vorzubereiten, dann traue ich mir schon zu sagen: Lernen und Trainieren! Lernen, was es an Möglichkeiten der gewaltfreien Aktion gibt. Lernen, wie diese Methoden funktionieren. Und dann Trainieren, d.h. das eigene Verhalten in Konfliktsituationen testen und üben, so lange, bis man auch in schwierigen Situationen eine gewisse Verhaltenssicherheit aufzuweisen hat. Es genügt eben nicht, sich vorzunehmen, gewaltfrei zu agieren. Man muss das üben. Es gibt auf diesem Gebiet professionelle Trainer und deren Dienste muss man dann eben in Anspruch nehmen. (…) Es geht mir aber an dieser Stelle mehr um Theorie der gewaltfreien Konfliktaustragung. Es geht strukturell um die Frage, ob es in allen Situationen grundsätzlich und immer die Möglichkeit gibt, sich auf gewaltfreie Methoden zu verlassen und damit zu bestehen, wenn nicht als Einzelperson, so doch als Gattung Mensch. Also bitte keine verkehrten Erwartungen: Die Gefahr getötet zu werden, besteht für den Soldaten, aber auch für den gewaltfreien Akteur. Die Frage ist: Was sind die Perspektiven, wenn eine Großzahl von Menschen sich auf die eine oder andere Strategie, die militärische oder die gewaltfreie, einlässt?

Mitte der 90er Jahre wurde die Grundsatzdiskussion um pazifistische Strategien ausgelöst durch die militärischen Auseinandersetzungen auf dem Balkan und die sie begleitenden sogenannten ethnischen Säuberungen und die politisch legitimierte Vergewaltigung von Frauen der bekämpften Bevölkerungsgruppe. Die herausragende Gräueltat war dann die Ermordung von etwa 8000 gefangenen Muslimen in Srebrenica. In dieser sogenannten Schutzzone der Vereinten Nationen waren niederländische UN-Soldaten stationiert. Nachdem diese schändlicherweise oder ahnungsloserweise abgezogen waren, hat serbisches Militär, das unter dem Kommando von General Mladic stand, die gefangenen Muslime ermordet.

Das ist übrigens keine ganz neue Erfahrung. Ermordung von Gefangenen hat es in der Geschichte immer wieder gegeben. Es gibt dafür Beispiele aus dem Zweiten Weltkrieg. Die deutsche Wehrmacht hat die russischen Gefangenen massenhaft verhungern lassen und gefangene kommunistische Kommissare wurden erschossen. Auf Stalins Befehl sind in Katyn eine große Zahl gefangener polnischer Offiziere erschossen worden. Auch im Krieg zwischen Japan und den USA wurden von beiden Seiten Gefangene erschossen bzw. es wurden keine Gefangenen gemacht. Also auch die Amerikaner haben dies getan. Und erst kürzlich im Krieg gegen die Taliban sind Hunderte von Gefangenen von der Nordallianz unter Beteiligung des CIA wegen eines angeblich bewaffneten Aufstands erschossen worden.

Wenn ich diese vergleichbaren Fälle erwähne, will ich damit nicht das Kriegsverbrechen von Srebrenica verharmlosen. Es ist ein ganz übles Verbrechen. Ich will nur sagen, dass es sich in Srebrenica um keine völlig neue Qualität von Kriegsverbrechen handelt, über die Pazifisten noch nie nachgedacht hätten. Es kommt leider ziemlich häufig vor, dass im Rahmen militärischer Auseinandersetzungen - entgegen den Regeln des Kriegsrechts - Gefangene erschossen werden. Von den jüngsten Kämpfen in Afghanistan hört man auch nur, dass im Rahmen der Operation Anaconda etwa 500 Angehörige der Taliban und Al Qaida getötet worden seien. Von Gefangenen oder Verwundeten hört man nichts. Ich fürchte, dass diese liquidiert werden, nein sagen wir es deutlich: dass sie in bereits wehrlosem Zustand ermordet werden. Und es ist nicht auszuschließen, dass deutsche Spezialkommandos daran beteiligt sind. Rudolf Scharping würde mir jetzt sicher mit ruhiger Stimme versichern, das sei eben aus Sicherheitsgründen alles geheim. (…)

Der geschäftsführende Vorstand von Pax Christi hat am 9. August 1995 in einer Stellungnahme mit dem Titel “Wider den kommentarlosen Pazifismus” Folgendes geschrieben: “Die Unerträglichkeit des bloßen Zuschauens lässt viele fragen, ob in bestimmten Situationen Gewaltanwendung zum Schutz von wehrlosen Menschen nicht doch das geringere Übel sei. In dieser Frage meldet sich nicht nur die heimliche Versuchung zu Wort, die eigene Ohnmacht mit Mitteln der Macht zu kompensieren. Sie ist vielmehr Ausdruck einer tiefen Verpflichtung zu Humanität und Solidarität gegenüber Menschen in Not, einer Verpflichtung, die sich nicht in der Reklamation politisch richtiger Schritte und Ziele erschöpfen darf. Zur Diskussion steht, wie wir als Friedensbewegung mit solchen Situationen umgehen sollen. Ist die Missachtung jeglichen Rechts und die zu befürchtende Verletzung der physischen und psychischen Integrität von Menschen so elementar, dass von uns verlangt ist, eine Beschädigung unserer gewaltfreien Überzeugungen als das geringere Übel in Kauf zu nehmen?”

Der geschäftsführende Vorstand von Pax Christi beantwortete diese Frage dann für sich mit der Feststellung: “Wir halten daher um der Glaubwürdigkeit unseres Friedenshandelns willen ein künftiges militärisches Eingreifen dann für gerechtfertigt, wenn - wie im Falle von Srebrenica und Zepa - Menschen in unerträglichem Maße schutzlos der Gewalt von Aggressoren ausgeliefert sind.”

Die Delegiertenversammlung von Pax Christi hat diese Legitimierung von militärischer Gewalt als ultima ratio (letztes, von Gewissen und Vernunft gebotenes Mittel) am 5. November 1995 in Essen abgelehnt und an die corporate identity einer christlichen Friedensorganisation erinnert, die laut der Feuersteiner Erklärung von 1986 darin bestehe, dass der christliche Pazifismus aus dem Gewaltverzicht des Evangeliums Jesu Christi lebe und auf die Heilkraft der Gewaltlosigkeit auch in schwierigen, scheinbar aussichtslosen Situationen vertraue und sich entsprechend engagiere. Die Sprache dieser Feuersteiner Erklärung ist noch sehr traditionell und nicht auf dem neuesten Stand der Friedens- und Konfliktforschung. Ich würde nicht von “Gewaltverzicht” sprechen, sondern von dem Ausscheiden gewaltsamen Methoden aus dem Instrumentarium der Konfliktbearbeitung. Die Rede von der “Heilkraft der Gewaltlosigkeit” oder auch von der “Gütekraft”, wie Martin Arnold vorgeschlagen hat, gefällt mir zwar auch, aber man darf darüber nicht vernachlässigen, dass gewaltfreie Methoden auch Druck ausüben und Ungerechtigkeiten verhindern können. Streik, Boykott, Ziviler Ungehorsam - das sind Methoden der Machtausübung. Ich denke nicht, dass der Sturz von Milosevic in Jugoslawien der “Heilkraft der Gewaltlosigkeit” oder der “Gütekraft” zu verdanken war. Da wurde mutig ein harter Wahlkampf geführt und anschließend wurde mit einem gewaltfreien Aufstand und einem entsprechenden, unbewaffneten Marsch auf Belgrad verhindert, dass mit einer Wahlfälschung der Diktator an der Macht gehalten wurde. Es bedarf auch einer dem gewaltfreien Kampf angemessenen Sprache. Wir dürfen nicht die Militärsprache imitieren. Doch wenn immer nur gesäuselt wird von “Gewaltverzicht”, “Heilkraft” und “Gütekraft” dann wirkt das auf mich wie eine Sacharin-Diät-Marmelade. Martin Luther King hat im Rahmen der Poor People Campaign von 1968, als es darum ging die Zentren amerikanischer Großstädte durch Sitzproteste zu blockieren, seine Waffen der nonviolent action bezeichnet als power from below, als Macht von unten. Wir dürfen den Machtaspekt bei der gewaltfreien Konfliktaustragung auf gar keinen Fall ausblenden. Der Unterschied zwischen dem gewaltfreien Kampf und dem militärischen Kampf besteht darin, dass bei der gewaltfreien Aktion der Gegner zwar unter Druck gesetzt, aber nicht verletzt oder gar getötet wird; er bekommt eine echte Chance, sich mit dem neuen, gerechteren System, das die gewaltfreien Akteure forcieren, zu arrangieren. Deswegen werden dem politischen Gegner auch keine harten Strafen, Kriegsverbrecherprozesse und dergleichen angedroht.

Zurück zur Debatte bei Pax Christi. Die Mitglieder zeigten Respekt vor den Anfragen des Vorstands, denn auch sie sahen die Herausforderung: Es scheint Situationen zu geben, in denen mit gewaltfreien Mitteln keine Soforthilfe für die Opfer von Gewalttaten möglich scheint, wohingegen - medienvermittelt - einiges für den raschen Erfolg einer militärischen Intervention spricht.

Wer sich jedoch angesichts einer solchen gegenwärtigen oder künftigen Konstellation auf eine militärische ultima ratio einlässt, rechtfertigt damit fast ohne Möglichkeit der Einschränkung den gesamten militärischen Apparat und sogar noch seine laufende Modernisierung. Soll man dies tun, weil man damit vielleicht im Moment einer bestimmten Gruppe, die Opfer ist oder (ausschließlich) sich als solches sieht, helfen kann?

Fragwürdiges Zuschauen
Eine sehr fragwürdige Formulierung in der Stellungnahme des geschäftsführenden Vorstands von Pax Christi war “Die Unerträglichkeit des bloßen Zuschauens lässt viele fragen…”. Ein Problem bei den militärischen Interventionen ist doch, dass wir Bürger in Wirklichkeit gar nicht direkt zuschauen, sondern dass uns in den Medien ein bestimmtes Bild vermittelt wird. Die Anschauung wird indirekt vermittelt über Fernsehbilder. Wir sehen gar nicht direkt zu, sondern wir bekommen eine bestimmte Auswahl von Informationen vorgesetzt. Und manche dieser Informationen sind tatsächlich schrecklich. Nur ist eben nicht sicher, dass wir vollständig informiert werden. Es könnte sein, dass die zu Gunsten der Opfer Intervenierenden auch ihrerseits Gräueltaten begehen und dass es bei der angeblich punktgenauen Intervention zu den ominösen, schrecklichen Kollateralschäden kommt. Die Zahl der Menschen, denen die Anschläge vom 11. September das Leben gekostet hat, ist bekannt - sie wird neuerdings mit etwa 3.000 beziffert -, aber wie hoch wird letzten Endes die Ziffer der Toten des Afghanistan-Krieges sein? (…)

Was ist rational?
Weil die Nachrichten, die wir zu lesen bekommen, und die Bilder, die wir zu sehen bekommen, von Geheimdiensten ausgewählt, von Medienagenturen selektiert und manipuliert sind, ist es absurd, aus diesen Nachrichten und Bildern ableiten zu wollen, ob es sich bei der militärischen Intervention um eine ultima ratio handelt. Ratio, die Vernunft, ist immer die Vernunft eines selbständig denkenden und urteilenden Menschen. Doch wie soll ich mir aufgrund von manipulierten Informationen eine selbständige Meinung bilden? Die einzig aufgeklärte Haltung kann in einer solchen Situation nur die Verweigerung der Zustimmung zu nicht revidierbaren Handlungen sein. Das Töten von Menschen und die Zerstörung von Städten und Ökotopen sind nicht revidierbare Handlungen.

Ich bin aufgewachsen in einem Deutschland, in dem der Propaganda-Minister nicht das deutsche Volk, sondern eine selektierte Zuhörerschaft gefragt hat: Wollt ihr den totalen Krieg? So werden wir heute nicht gefragt: Wollt ihr die uneingeschränkte Solidarität? Nein, heute geht es ganz demokratisch zu: Wollt ihr den Krieg als ultima ratio? Das klingt doch viel besser als “Wollt ihr den totalen Krieg?” Und der die Frage so stellt, ist der populärste deutsche Politiker. Fürwahr ein Talent!

Die Befürworter militärischer Interventionen als ultima ratio behaupten regelmäßig, dass ihr Eingreifen noch größeren Schaden abwende. Bei diesen suggestiven Kalkulationen handelt es sich aber um spekulative Aussagen. Wie sich die Kosten einer militärischen Intervention entwickeln werden, ist schwer vorhersehbar. Das militärische Eingreifen kann die Angegriffenen eventuell zu Handlungen motivieren, zu denen sie ohne diesen Eingriff nicht motiviert gewesen wären. Es kann also sein, dass das militärische Eingreifen erst die Katastrophe auslöst, welche eigentlich verhindert werden sollte. Im übrigen ist auch zu bedenken, dass auch ein erfolgreicher, relativ unblutiger militärischer Eingriff oder auch eine erfolgreiche militärische Drohung, die gar nicht wahr gemacht werden muss, die Beobachter und Beteiligten verleiten kann, auch in Zukunft auf diese Methode zu setzen bzw. sich auf ein nächstes Mal vorzubereiten. Dies könnte sich dann für alle Beteiligten als äußerst kostspielig und verhängnisvoll erweisen. Wer zur Gewalt greift, muss damit rechnen, dass auch die Beobachter diesem Beispiel folgen bzw. sich auf diese neue Situation vorbereiten werden.

Aber ist denn nicht unglaublich hartherzig, wenn man um eines pazifistischen Prinzips willen oder aus generellem Misstrauen gegenüber den Medien, Menschen in Not, die nach Auskunft dieser Medien ausnahmslos nach militärischer Hilfe schreien, nicht hilft? Da scheiden sich vielleicht auch jetzt hier im Raume die Geister.

Es gibt die Pflicht zu helfen mit allem, was in der eigenen Macht steht. Wir dürfen uns dieser Pflicht nicht entziehen, aber man muss sich zunächst einmal fragen, wie die Situation, in der wir helfen sollen, tatsächlich aussieht. Wir dürfen uns nicht von Propagandisten der militärischen Intervention manipulieren lassen.

Ich gebe zu, dass ich im Allgemeinen den Informationen der Medien auch vertraue. Warum würde ich sonst Zeitung lesen oder fernsehen. Doch wenn es um Krieg und Frieden geht, dann bin ich besonders misstrauisch. Da haben wir es mit einer anderen Qualität von Information zu tun. Bei den meisten zivilgesellschaftlichen Nachrichten aus Deutschland hätten wir die Möglichkeit, durch direkte Nachfrage zu überprüfen, ob sie stimmen. Was die Journalisten leisten, können wir bei den meisten Nachrichten auch selber tun, wenn es uns danach drängen sollte. Wir könnten an den Ort des Geschehens fahren und selbst recherchieren. Das ist bei vielen Nachrichten, bei denen es um die Entscheidung über Krieg und Frieden geht, nicht möglich. Der Konflikt ereignet sich in fernen Ländern und die Ereignisse unterliegen der Geheimhaltung. Selbst die Regierenden sind auf Geheimdienstinformationen angewiesen, die sie auch selbst nicht überprüfen können. Das macht die andere Qualität der Entscheidungen über Krieg und Frieden aus. Darum empfinde ich die Rede vom Krieg als “ultima ratio” als irreführend, denn kennzeichnend für die Situation ist, dass eine rationale Überprüfung gar nicht möglich ist. Wenn also unser evangelischer Bischof von Berlin-Brandenburg als Ethiker jetzt auf die Lehre vom gerechtfertigten Krieg, den bellum justum, zurückgreift, dann ist dies aus meiner Sicht Kokolores. In der Lehre vom bellum justum werden Kriterien genannt, deren Erfüllung gar nicht überprüft werden kann, weil die entsprechenden Informationen fehlen. (…)

Ich fasse zusammen: Fragwürdig an der Zustimmung zu einer militärischen ultima ratio ist, dass die Informationen über die Lage und die Handlungsmöglichkeiten nicht der eigenen Anschauung entstammen, sondern einer suggestiven Medienberichterstattung. (…)

Unmittelbare Anschauung
Vielleicht würden Kenner der gewaltfreien Aktion vor Ort durchaus noch Möglichkeiten der unbewaffneten Hilfeleistung und der gewaltfreien Selbsthilfe der Gefährdeten erkennen. (…) Doch Experten auf dem Gebiet des gewaltfreien Handelns wurden in der Regel von denjenigen, welche die ultima ratio im Munde führen, nicht konsultiert, sondern es wird im voraus dekretiert und suggeriert, dass die Pazifisten nichts Hilfreiches vorzuschlagen wüssten. Sie werden nicht auf Erkundungsreisen geschickt, und ihnen werden auch keine Mittel zur Verfügung gestellt, um gewaltfreie Alternativen zu entwickeln.

Unsere Politiker interessieren sich in der Regel nicht dafür, wie sich Pazifisten die Konfliktbearbeitung in Bürgerkriegssituationen vorstellen. Und warum soll man nun denjenigen, die von gewaltfreien Alternativen und den kritischen Überlegungen der Pazifisten von vornherein nichts wissen wollten, von pazifistischer Seite die Legitimation für ihre militärischen Unternehmungen liefern?

Was passiert denn tatsächlich, wenn bislang den Kriegsdienst verweigernde Pazifisten bzw. die Kriegsdienstverweigerung befürwortende Organisationen dem Impuls folgen wollen, wehrlose Menschen mit Waffengewalt zu schützen? Was bedeutet es, wenn die letzten, die sich bislang weigerten, den privilegierten Status der hochindustrialisierten Ländern mit allen Mitteln aufrechtzuerhalten, nun auch noch auf die Linie der Herrschenden einschwenken und das Militär als ultima ratio legitimieren?

Dass es sich nicht um eine tiefbewegte Solidarität mit Entrechteten handelt, wird doch schon daran deutlich, dass keiner von denjenigen, die aufgrund von Fernsehberichten den Militäreinsatz als letztes Mittel befürworten, daraufhin nun persönlich als Mitglied einer Internationalen Brigade wie im Spanischen Bürgerkrieg mit der Waffe in der Hand diese Schutzfunktion ausüben wird. Vielmehr wird von Medienkonsumenten, die sich selbst ‘Verantwortungspazifismus’ oder neuerdings ‘politischen Pazifismus’ bescheinigen, ein militärischer Kampfauftrag an eine Personengruppe delegiert, die sich im Einsatz der Kontrolle der Delegierenden weitgehend entzieht und die aufgrund dieses Auftrags ihre eigene Position im politischen System befestigt und ausbaut.

Aus der Sicht des Militärs ist ein solcher Kampfauftrag von Seiten der Pazifisten das Nonplusultra der Legitimation und die geradezu ideale Rechtfertigung der eigenen Existenz. Das ist doch traumhaft: Ausgerechnet der Vorstand einer Organisationen von Kriegsdienstverweigerern und Friedensforschern erbittet ihren Einsatz oder teilt doch der Öffentlichkeit mit, dass auch sie, die Pazifisten, die Bundeswehr und die Nato prophylaktisch als ultima ratio in petto haben wollen! Was spricht dann noch prinzipiell dagegen, auch ein Atomunterseeboot - wie in den USA geschehen - auf den Namen “Corpus Christi” zu taufen?

Das ist absurd. Aber manche werden sich dennoch fragen: gibt es nicht doch Situationen, in denen man ohne militärische Gewalt völlig hilflos ist und großes Unrecht geschehen lassen muss?

Das Dilemma der Hilflosigkeit
Ich kann nicht ausschließen, dass solche Situationen eintreten. Es gibt keine Patentrezepte der gewaltfreien Aktion, keine passe par tout Methoden, mit denen man Verbrechen aller Art verhindern könnte. Als die Fraktion der Grünen im Bundestag 1984 unter Leitung von Petra Kelly und Roland Vogt ein Hearing zur Sozialen Verteidigung durchführte, wurde diese Frage auch gestellt. Wir haben ausführlich über Völkermord und insbesondere die Judenvernichtung in Auschwitz und in anderen Konzentrationslagern gesprochen. Ich habe diese Auschwitz-Debatte dann dokumentiert und diese Dokumentation jetzt auch wieder in den ersten Band meines Pazifismus-Buches aufgenommen.

Der Völkermord an den Juden und Zigeunern zeigt, wozu bestimmte Regime fähig sind. Die Frage ist allerdings, ob das Beispiel der Verfolgung der Juden gegen den Pazifismus angeführt werden kann. Die Verfolgung der Juden hat zwar vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen, aber die fabrikmäßige Vernichtung hat erst während des Krieges stattgefunden. Dennoch könnte man argumentieren, dass die Nazis die Judenvernichtung auch dann durchgeführt hätten, wenn der Ausweitung ihres Herrschaftsgebietes nicht militärisch, sondern gewaltlos widerstanden worden wäre. Aber sicher scheint mir das nicht zu sein, und die Kosten des militärischen Sieges über die Nazis waren enorm.

Wenn ich es ganz simpel formuliere, dann würde ich bei der Abwägung zwischen den Risiken eines Krieges und den Risiken des gewaltlosen Widerstands oder auch der zeitweisen Unterwerfung und des Widerstandsverzichts, es für vernünftiger halten, keine militärischen Mittel anzuwenden. Man hat während des Kalten Krieges im Westen eine Zeit lang Stimmen gehört, die befürchteten, dass bei einer weltweiten Ausbreitung totalitärer Herrschaft die Idee der Freiheit selbst verloren gehen könne und es dann zu einer immerwährenden Diktatur käme.

George Orwell hat dies in dem utopischen Roman “1984” ausgemalt und ist dabei von einer totalen Kontrolle des Einzelnen und der Manipulation aller Informationen - inklusive der historischen - ausgegangen. Er hat eine völlige Veränderung der Sprache angenommen, die es den Menschen unmöglich machen würde, selbständig kritisch zu denken, weil ihnen die offizielle, kontrollierte Sprache dafür keine Worte bieten würde. Ich habe mich mit diesen Vorstellungen in Seminaren immer wieder kritisch befasst. Zusammen mit Ossip Flechtheim erörterten wir “Zukunftsentwürfe im Rückblick”. Die Gegenutopie Orwells ist faszinierend. Das ist ein Buch, das man gelesen haben muss. Doch diese totale Manipulation aller Informationen und auch der Sprache kann nicht funktionieren. Das Freiheits-, das Informations- und das Recherche- und Ausdrucksbedürfnis des Menschen ist etwas dermaßen Elementares und Spontanes, dass es sich überhaupt nicht unterdrücken lässt und früher oder später wieder zum Ausbruch kommt. Die Ausdrucksmöglichkeiten, welche die Sprache dem Menschen bietet, ist dermaßen vielfältig, dass es unmöglich ist, die gesprochene Sprache zu kontrollieren, selbst wenn man die Zensur der geschriebenen Sprache immer weiter entwickeln würde. Das Spiel mit mehrdeutigen Worten und Wortkombinationen würde die Zensoren letztlich zur Verzweiflung treiben und sie wüssten am Schluss selbst nicht mehr, wie sie sich noch verständigen sollten.

Man kann die Menschheit mit dooms day Maschinen insgesamt vernichten. Das ist möglich. Doch man kann die Menschheit in lebendem Zustand nicht insgesamt kontrollieren und manipulieren. Jedes totalitäre Regime bricht früher oder später an seiner Steuerungsunfähigkeit zusammen. Man kann nicht steuern ohne Informationen über die Realitäten. Wenn man sich aber über diese informieren will, dann bedarf es dazu einer realitätstüchtigen Sprache und damit ist bereits Orwells Doublethink beim Teufel. Die Sprache ist ein in sich widerständiges Instrument.

Wenn viele Menschen es erst mal gelernt haben, sich mit gewaltfreiem Widerstand gegen die Errichtung totalitärer Systeme zu wehren - also die gewaltfreie Aktion von klein auf kennen gelernt haben -, dann haben diese totalitären Regime von vornherein nur eine geringe Chance, sich punktuell zu etablieren.

Doch es ist nicht zu bestreiten, dass die Menschenrechte immer wieder von neuem bedroht sein können. So wie sich totalitäre Regime nicht endgültig stabilisieren lassen, so lässt sich auch das, was wir eine freiheitlich demokratische Grundordnung nennen, nicht ein für alle Mal etablieren. Jede Generation muss sie für sich selbst wieder erringen und sich damit identifizieren. Die Versuchung, durch Anhäufung von Macht und Reichtum sich über andere zu erheben und eine solche Stellung durch Androhung von Gewalt zu gewinnen und gegen Kritik zu sichern, wird es immer geben und darum besteht auch die Notwendigkeit, für die demokratischen Rechte zu kämpfen.

Pazifismus aus christlicher Sicht
Pazifismus wird auch in Zukunft bedeuten, dass man sich auf gewaltfreie Methoden festlegt und sich darum bemüht, mit diesen Methoden so tüchtig wie möglich zu werden. Dies ist auch eine persönliche Entscheidung jedes einzelnen, der allerdings in dieser Entscheidung durch familiäre oder nationale und religiöse Traditionen gestärkt werden kann. Nach meiner Erfahrung bietet die biblische und insbesondere die jesuanische Tradition eine wichtige Entscheidungshilfe.

Ich möchte dies noch verdeutlichen. Weder bei militärischen, noch bei gewaltfreien Methoden lässt sich der Erfolg genau kalkulieren. Jesuanisch gesprochen lässt sich jedoch sagen: Auf der militärischen Gewalt liegt kein Segen, während die gewaltfreien Methoden aus der Sicht der Bergpredigt die Seligpreisungen auf ihrer Seite haben. Es gibt die Zusage Gottes, dass er der gewaltfreien Aktion immer eine Chance gibt. Der Mensch ist nicht dazu verdammt, seine Feinde zu töten, um sich in dieser Welt zu behaupten. Das ist die tiefste Überzeugung der christlichen Religion. Es gibt immer eine Chance für die Liebe. Und wenn derjenige, der sich darauf einlässt, beim Versuch dies zu praktizieren, getötet wird - so wie Jesus das Opfer eines Justizmordes wurde -, so war der Einsatz dann doch nicht vergebens, weil er zur Versöhnung der Verfeindeten beiträgt.

Man kann dies schwer beweisen. Es bleibt ein Risiko. Doch das Gegenteil, nämlich, dass gewaltfreies Handeln mit Sicherheit vergeblich sein und nichts bewirken wird, wohingegen militärische Gewalt etwas Konstruktives erzwingen kann, lässt sich auch nicht beweisen. Man kann im voraus nie sagen, welche Möglichkeiten der gewaltfreien Aktion man in der konkreten Situation entdecken wird und wie diese Aktionen dann auf den Gegner wirken werden.

Ist Bonhoeffer der Kronzeuge der Gewalt als ultima ratio?
Wir haben uns hier im Dietrich Bonhoeffer Haus versammelt. Dietrich Bonhoeffer hat zu seiner Zeit relativ viel über gewaltfreie Aktion gewusst, zumindest hatte er sich vorgenommen, noch mehr darüber zu erfahren. Er wollte nach Indien zu Gandhi fahren, um diese Methoden zu studieren. Zu dieser bereits vereinbarten Reise ist es nicht mehr gekommen, weil Bonhoeffer dann die Leitung des Predigerseminars, also die Vikarsausbildung, der Bekennenden Kirche in Finkenwalde übernommen hat. Vor diesen Vikaren hat er dann seine Vorlesung über die Bergpredigt unter dem Titel “Nachfolge” gehalten.

Das hat mir alles eingeleuchtet. Ich wäre an seiner Stelle auch nicht mehr nach Indien gefahren. In seiner Vorlesung “Nachfolge” hat mir das erste Kapitel mit seiner Kritik an der billigen Gnade am besten gefallen. Die Auslegung der Bergpredigt selbst empfand ich als zu abgehoben. Da fehlte mir das Praktische, die Anwendung auf die Gegenwart. Ich weiß nicht, wieweit dies im Gespräch mit den Vikaren noch erfolgte.

Besonders fragwürdig ist aber aus meiner Sicht Bonhoeffers Entscheidung, sich an der Verschwörung zur gewaltsamen Beseitigung des Hitler-Regimes zu beteiligen. Er gilt heute als eine Art Heiliger unserer Kirche und da ist jedermann geneigt, seine Handlungsweise zu rechtfertigen mit dem Argument, dass er keine andere Wahl hatte, wenn er etwas Wirksames zur Kriegsverkürzung tun wollte. Bonhoeffer ist der Märtyrer, der Kronzeuge für die Gewalt als ultima ratio.

Was hätte er denn tun können, wenn er auf dem gewaltfreien Kurs seines Freundes Jean Lasserre, der ihn mit dem Pazifismus bekannt gemacht hatte, geblieben wäre? Diese Frage ist in der Literatur über Bonhoeffer meines Wissens bisher nie gestellt worden. Ich fange mit einer ganz praktischen Überlegung an. Wenn man die Methoden der gewaltfreien Aktion studieren wollte, dann musste man dazu nicht nach Indien fahren. Die wichtigsten Schriften Gandhis waren in den 20er Jahren nicht nur auf Englisch, sondern sogar in deutscher Sprache erschienen. Bonhoeffer hätte sich diese Schriften beschaffen können, falls er dies nicht bereits getan hatte, und in Finkenwalde mit den Vikaren studieren können. Möglicherweise wäre es ihm und anderen Mitgliedern der Bekennenden Kirche dann gelungen, die Satyagraha-Strategie Gandhis auf die deutsche Situation zu übertragen. Es hat in den von Deutschland im Zweiten Weltkrieg besetzten Gebieten immer wieder gewaltlosen Widerstand gegeben und es gab auch in Deutschland selbst einige wenige, doch bedeutende Fälle von gewaltlosem Widerstand und Widerspruch gegen die nationalsozialistische Verfolgung. Die Bischöfe Galen und Wurm widersprachen dem Euthanasieprogramm. In Berlin haben in der Rosenstraße im Februar 1943 die Ehefrauen aus Mischehen für die Freilassung ihrer jüdischen Männer eine Woche lang demonstriert und damit auch Erfolg gehabt. Das war noch vor Bonhoeffers Inhaftierung. Das war eine Aktion im Sinne Gandhis. Doch diese dramatische öffentliche Aktion wird von Bonhoeffer selbst nirgends erwähnt. Seine politische Phantasie scheint absorbiert gewesen zu sein von den Bemühungen der militärischen Verschwörer, die das NS-Regime durch Tyrannenmord und Staatsstreich beseitigen wollten.

Was wäre möglich gewesen, wenn jemand von der Energie und Intelligenz, den vielfältigen Verbindungen und nicht zuletzt dem theologischen Charisma eines Bonhoeffer sich nach 1933 auf die Entwicklung des gewaltfreien Widerstands konzentriert hätte? Zyniker können jetzt einwenden: Er wäre wie viele andere - man denke nur an Martin Niemöller - von der Gestapo in ein KZ verbracht und dort vielleicht ermordet worden. Das ist möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich. Doch es ist nicht sicher kalkulierbar. Es hätte auch sein können, dass er eine Möglichkeit entdeckt hätte, mit gewaltfreien Mitteln etwas Wirksames gegen die nationalsozialistische Kriegführung und die Judenverfolgung zu unternehmen. Diese Möglichkeit lässt sich nicht ausschließen - und diese schiere Möglichkeit hat zumindest das Wort Jesu auf ihrer Seite. Und das sollte der entscheidende Punkt für einen Christen sein.

Die Kalkulation mit militärischen Mitteln ist in der Verlegenheit, dass sie sich einzig und allein auf die analytische und praktische Intelligenz ihrer Protagonisten berufen kann. Das theologische Problem bei dieser Entscheidung für die militärische ultima ratio auf der einen Seite und die gewaltfreie Strategie auf der anderen Seite ist, dass sich die einen nur auf ihren hohen Intelligenzquotienten, ihr entsprechendes Kalkulationsvermögen und ihr militärisches Know-how berufen können, während die anderen bei allem Bemühen um das Nutzen der Erfahrung auf dem Gebiet der gewaltfreien Aktion sich nicht auf ihre persönliche Intelligenz und ihr Kalkulationsvermögen verlassen müssen, sondern als “geistlich Arme” auf Gottes Zusage vertrauen dürfen.

Die Rede von der militärischen Gewalt als ultima ratio erinnert mich an die Versuchung Jesu, in der ihm weltliche Feldherreneigenschaften angeboten werden. (Mat.4,8-11) Der Gegensatz ist aus meiner Sicht die Seligpreisung der geistlich Armen, verbunden mit der Warnung sich vor allem auf die eigene Intelligenz zu verlassen. “Selig sind, die geistlich arm sind; denn ihnen gehört das Himmelreich” (Mat.5,4) wird in der “Guten Nachricht” interpretierend übersetzt mit “Freuen dürfen sich alle, die nur von Gott etwas erwarten und nichts von sich selbst; denn sie werden mit ihm in der neuen Welt leben.”

Es mag sein, dass ich diese Seligpreisung aus der Sicht von Neutestamentlern nicht korrekt auslege, aber ich verstehe sie als Erinnerung an Luthers “mit eurer Macht ist nichts getan, ihr seid gar bald verloren, es streit für euch der rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren”. Das heißt nicht, dass wir uns nicht um passende gewaltfreie Aktionsformen, gute Organisation und zünftiges Training bemühen sollten, wohl aber, dass wir uns nicht einbilden sollen, wir hätten kraft persönlicher Intelligenz - unserem fabelhaften IQ - die Situation im Griff. Bonhoeffer beschreibt diese Eigenmächtigen als “die Vertreter und Prediger der Volksreligion, diese Mächtigen, Angesehenen, die fest gegründet auf der Erde stehen in Volkstum, Zeitgeist, Volksfrömmigkeit unlösbar verwurzelt”. Der Sinn der ersten Seligpreisung in der Bergpredigt ist meines Erachtens: Es geht bei der Konfliktbearbeitung letzten Endes nicht ohne das einfältige Vertrauen auf Gottes Wort, wie es uns aus dem Munde Jesu überliefert ist. Und diese Worte in der Bergpredigt sind eindeutig; sie sind für die Einfältigen. Eine militärische ultima ratio ist in der Bergpredigt nicht vorgesehen. Das ist so.

Ich habe als 24-jähriger Student in Stuttgart Martin Niemöller im Gustav Siegle Haus - also in einer Art Volkshochschule, nicht in einer Kirche - über Christ und Krieg sprechen hören und ich habe danach seine Reden ganz sorgfältig studiert. Er sagte, er hätte das Neue Testament unter der Fragestellung: Was sagt es direkt und indirekt zur militärischen Gewaltanwendung? mehrfach von vorne bis hinten durchgelesen. Und er sei bei dieser Prüfung zu dem Ergebnis gelangt: Es sei eindeutig, dass Jesus den Krieg und die militärischen Mittel ablehnt und auf eine Liebes-Strategie setzt. Ich bin Niemöllers Anregung gefolgt und ich kam zum selben Ergebnis.

Begrenzte Präventivkriege?
Nun wird man mir vielleicht beschwichtigend entgegenhalten: Hänge doch alles ein bisschen tiefer. Es geht doch gar nicht mehr um Weltkriege, sondern es geht um den begrenzten Krieg gegen Terroristen; eigentlich ist das Ganze doch nur noch eine Polizeiaktion. Die Regierung der USA will doch nur verhindern, dass die Terroristen Massenvernichtungsmittel in die Hände bekommen. Doch da lasse ich mich nicht beschwichtigen. Die Lage ist ernst. Es geht um die Rechtfertigung für einen Präventivkrieg gegen den Irak oder wer auch immer dann noch auf Georg W. Bushs Liste der Bösen und der Schurkenstaaten steht.

Ich fürchte, dass aus der Eigendynamik der militärischen Maßnahmen, die mit dem Kampf gegen den Terror gerechtfertigt werden, immer noch ein Krieg und weitere Interventionen entstehen werden und dass uns darüber die Mittel und die Menschen für die Beseitigung des enormen Gerechtigkeitsdefizits auf der Erde fehlen werden. Und es besteht meines Erachtens eine erhebliche Gefahr, dass die Eskalation von militärischer Gewalt und Terror außer Kontrolle gerät und es dann erst recht zum Einsatz von Massenvernichtungsmitteln kommt. Diese Eigendynamik des Militärischen bei der Bekämpfung des Terrors ist in Israel beispielhaft zu beobachten.

Ratlosigkeit und Hoffnung
Wenn man jedoch statt auf militärische Gewalt auf die gewaltfreie Aktion setzt, dann muss man dies konsequent tun. Man kann sich nicht auf den Standpunkt stellen: Gewalt im Kosovo ja, in Afghanistan ja, aber im Irak nein, aber dann da in Afrika wieder ja und dort in Südostasien wieder nein. Damit kommt man auf keinen grünen Zweig. Man muss eine gewaltfreie Strategie konsequent verfolgen und die entsprechenden Vorbereitungsmaßnahmen treffen. Das habe ich eigentlich von den Grünen erwartet, nachdem sie sich im Parteiprogramm auf gewaltfreie Mittel festgelegt hatten. Wie es aussieht, haben sie das Zeug dazu nicht gehabt. Es wird den Pazifisten wahrscheinlich nichts anderes übrig bleiben, als es in einem neuen Anlauf zu versuchen. Im Moment fehlen uns dafür die Ansätze, weil wir es uns noch nicht so ganz eingestehen wollen, dass das grüne Experiment auf dem Gebiet der alternativen Sicherheitspolitik fast vollständig gescheitert ist.

Ich muss zugeben, dass ich ratlos bin. Wenn man die PDS wählt, kann man den Grünen dadurch signalisieren, dass man von ihnen enttäuscht ist. Das haben in West-Berlin viele getan. Das erklärt den Stimmenzuwachs der PDS in West-Berlin bei den letzten Landtagswahlen. Doch ich sehe keine gewaltfreie Strategie bei der PDS. Und ich weiß nicht, ob es bei den Grünen - nach einer Niederlage bei der Bundestagswahl im September dieses Jahres - noch einmal eine Besinnung auf den gewaltfreien Ansatz bei der Parteigründung geben kann.

Was mir Hoffnung macht, ist der Umstand, dass in den letzten Jahrzehnten das Wissen um die Strategie der gewaltfreien Aktion und auch das Know-how in der Anwendung - dank Training - erheblich zugenommen hat. Das wird sich früher oder später auch einen passenden institutionellen Ausdruck verschaffen.

Ich habe mich am Otto Suhr Institut dreißig Jahre lang mit der Erforschung sozialer Bewegungen befasst. In der gegenwärtigen Situation ist für mich tröstlich, dass es noch nie gelungen ist, eine soziale Bewegung vorherzusagen, weder die APO der Studenten, noch die Ökologiebegung, noch die Friedensbewegung, und auch der gewaltfreie Aufstand in der DDR kam als Überraschung. Das Potenzial ist da. Ich sehe die nächste soziale Bewegung nicht, aber sie kommt bestimmt. Nur - und das ist mein letzter Satz: Es genügt nicht, auf die nächste soziale Bewegung zu warten. Es muss dann auch gelingen, die Bewegungsenergie auf die parteipolitische Ebene zu übertragen. Das bedeutet, dass die Bewegung eine ausreichende Zahl von Parlamentariern und Regierungsmitgliedern verpflichten muss, Politik mit ausschließlich gewaltfreien Mitteln zu machen.

Veröffentlicht am

08. März 2002

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