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Zivile Konfliktbearbeitung und gewaltfreie Aktion statt Krieg. Ein Jahr nach den Anschlägen vom 11. September

Von Michael Schmid

Der Jahrestag der schrecklichen und verbrecherischen Terroranschläge in den USA, bei denen rund 3.000 Menschen starben, jährt sich zum ersten Mal. Kaum jemand wird die Bilder des Schreckens aus seinem Gedächtnis weg bekommen haben, die wir via Bildschirm “live” sehen konnten.

US-Präsident Bush kündigte sofort Rache und Vergeltung in einem langandauernden “Kreuzzug” gegen “eine neue Art des Bösen” an. Seine Regierung werde in einem “Krieg gegen den Terrorismus” die Welt von dem Bösen befreien.” Zur Vorbereitung auf die “Entscheidungsschlacht” wurde zunächst von Politik und Medien die eigene Seite, “das Gute”, gegen die andere Seite, wo “das Böse” steht, eingestimmt. So äußerte sich etwa Steve Dunleavy in der New York Post: “Die Antwort auf dieses unvorstellbare Pearl Harbor des 21. Jahrhunderts sollte einfach und prompt sein - tötet die Schweinehunde. … Ein Schuss zwischen die Augen, zerschlagt sie in tausend Stücke, vergiftet sie, wenn es sein muss. … Macht Städte und Länder, die diese Würmer beherbergen, dem Erdboden gleich.” Damit mit gutem Gewissen und Skrupel getötet werden kann, muss das Feindbild scharf genug sein: Jenseits der eigenen Gruppe leben dann keine Menschen mehr, sondern nur noch Unmenschen, Bestien. Dadurch ist jede eigene Unmenschlichkeit gerechtfertigt, ja, wird sogar zur Pflicht. “Wir müssen killen”, so der konservative Republikaner und Ex-Minister William Bennett. Jonathan Alter forderte in Newsweek Pazifisten auf, den Mund zu halten, da das Motto laute: “Töten oder getötet werden.” Das waren nicht nur spontane starke Worte, sondern diese Stimmung setzte sich fort, wurde und wird in Taten umgesetzt. Um ihren Feldzug möglichst ungestört führen zu können, schmiedete die Weltmacht USA eine ad hoc-Koalition von Kräften, die bereit waren, unter ihrer Führung in den Krieg zu ziehen oder diesen zu legitimieren.

Die NATO hatte zwar einen furiosen Auftakt, indem sie erstmals den Bündnisfall ausrief. Aber danach kam fast nichts. Denn die USA wollten ihre europäischen Freunde nicht ernsthaft am Krieg beteiligen. Deshalb lief auch die von Kanzler Schröder sofort beschworene “uneingeschränkte deutsche Solidarität mit den USA” von Anfang an ins Leere.

Ohne bis heute einen stichhaltigen Beweis für dessen Drahtzieherschaft vorgelegt zu haben, wurde ganz schnell verkündet, dass “Bin Laden und seine Leute die ‘Schandtat’ von New York organisiert” (Tony Blair) hätten. Weil das Taliban-Regime nicht bereit gewesen sei, Bin Laden auszuliefern, müsse nun im Zuge des “Krieg gegen den Terror” Afghanistan angegriffen werden.

Ab 7. Oktober begann das amerikanisch-britische Bombardement auf Afghanistan. Bisher gibt es keine genauen Zahlen, wie viele Opfer der seitdem andauernde Feldzug “Enduring Freedom” gefordert hat. Marc Herold, Professor an der Universität von New Hampshire, davon, sprach Anfang des Jahres in einem Dossier davon, dass allein zwischen dem 7. Oktober und dem 4. Januar mehr als 4.000 Zivilisten in Afghanistan getötet wurden. Bereits vor dem “Anti-Terror-Krieg” war Afghanistan weltweit eines der am stärksten verminten Länder mit monatlich 100 bis 150 Minenopfern. Neu verlegte Minen sowie amerikanische Streubomben, die nicht sofort explodiert sind, werden die Zahl von Minen-Opfern nochmals für lange Zeit deutlich erhöhen.

Der Bundesregierung war es zu wenig, die USA in deren Krieg “nur” politisch zu unterstützen. Deshalb hat sie mit peinlicher Bedenkenlosigkeit der US-Regierung den Einsatz der Bundeswehr so lange angedient, bis diese schließlich nicht mehr anders konnte, als deutsche Soldaten und deutsches Kriegsgerät “anzufordern”. Daraufhin presste Bundeskanzler Schröder dem Bundestag mit der Vertrauensfrage die Zustimmung zur Beteiligung der Bundeswehr am US-amerikanischen “Anti-Terror-Krieg” ab. Genehmigt wurden 3.900 Bundeswehrsoldaten ohne Ziel und Auftrag für die Dauer eines Jahres. Damit hat die rot-grüne Regierung einen wirklichen “Erfolg” aufzuweisen: mit dem Kosovo-Krieg und dem Einsatz im “Anti-Terror-Krieg” hat sie es fertig gebracht, Deutschland, das im letzten Jahrhundert zwei Weltkriege angezettelt und den Völkermord an den europäischen Juden begangen hat, wieder in die “Normalität” kriegführender Mächte zurückzuführen. Wir sind wieder wer?

“Pazifismus-Debatte”

Gegen diese Kriegspolitik gab es weltweit Widerspruch und Protest. Auch in Deutschland. Insbesondere in Erklärungsnot geratene Ex-Kriegsgegner aus den Regierungsparteien sahen sich angesichts des Protests “genötigt”, nach Begründungen zu suchen, um ihr eigenes Handeln als gerechtfertigt darzustellen. Ohne diese ausdrücklich zu erwähnen, wärmte etwa der grüne Staatsminister im Außenministerium, Ludger Volmer, Anfang dieses Jahres die Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik des Soziologen Max Weber aus dem frühen 20. Jahrhundert auf. Er meint, der “abstrakt-gesinnungsethische Pazifismus” der Kriegsgegner sei innerhalb des Politischen handlungsunfähig. Statt “Verantwortung und Risiken mitzutragen”, bedienten sich solche Pazifisten des “folgenlosen Protestes” und befänden sich im “politischen Niemandsland”. Aufgrund der eigenen Verdrängung der Realität werde dann von solchen Pazifisten “der kritische Blick auf die gerichtet, die den aktiven Kampf gegen den Terror aufnehmen. Man lehnt sich zurück und kritisiert die Strategie prangert die an, die beim Kampf gegen den Terror auch Unschuldige treffen.”

Dem setzt Volmer seinen “politischen Pazifismus” entgegen, welcher angesichts der Realitäten in der Welt “militärische Gewalt als ultima ratio, als letztes Mittel nicht leugnen” könne. Gerade weil die Grünen einmal Orientierungspunkt und Hoffnungsträger für eine friedliche Politik waren, ist diese Position so gefährlich.

Wer auf “ultima ratio”, also auf Militäreinsatz als “äußerstem Mittel” setzt, muss in der Praxis das gesamte militärische Instrumentarium bereit und stets auf modernstem Stand halten und dem potenziellen Gegner möglichst stets überlegen sein. Das ist aber alte Militärpolitik und keine Friedenspolitik!

Zu fragen ist, ob bei der Berufung auf eine “ultima ratio” überhaupt eine rationale Entscheidung vorliegt. Ich habe viel mehr den Eindruck, dass eben gerade nicht die Voraussetzungen für eine vernünftige, zweifelsfreie Entscheidung vorhanden sind, sondern dass die Rede von der “ultima ratio” ideologisch und propagandistisch eingesetzt wird.

Es war jedenfalls zunächst einmal alles andere als rational, die Welt in “gut” und “böse” einzuteilen. Bei einem Krieg, der in der Pose des obersten Gerichtsherrn der Welt geplant und geführt wird, gibt es nur noch “Gute” und “Böse”. Was “gut” und was “böse” ist, wird nicht mehr nach einem menschenrechtlichen Maßstab vermessen, sondern “gut” ist, was der eigenen Seite nützlich ist. Was einem schaden könnte, ist “böse”. Es ist immer derselbe Wahn - ob heiliger Krieg, ob gerechter Krieg, ob humanitärer Krieg - wenn gegen das “Böse” gekämpft wird, dann ist es erlaubt, teuflischer zu sein als das, was man sich unter dem Teuflischen der Gegenseite vorstellt. Deshalb stört es offensichtlich auch nicht, dass der “Anti-Terror-Koalition” jede Menge Diktatoren, Freunde des Terrors und Warlords angehören.

Es war auch alles andere als rational, nicht zuerst nach den Ursachen des Terrorismus zu fragen, sondern sofort auf Vergeltung zu setzen. Terrorismus hat aber damit zu tun, dass weltweit die Armut wächst, die Wohlstandsinseln immer mehr zu Festungen ausgebaut und durch die neoliberale Globalisierung die Kluft zwischen Arm und Reich vorangetrieben wird. Daran hat sich nach dem 11. September rein gar nichts geändert, es wird im Gegenteil immer schlimmer.

Interessenpolitik

Eine Zumutung ist Volmers Behauptung, dass der Krieg ausschließlich der Terrorbekämpfung diene. Denn jede und jeder, der Augen und Ohren nicht völlig verschließt, weiß aus den zahlreichen Äußerungen von Bush, Rumsfeld, Cheney und anderen in Washington, dass es nun auch um andere “Schurkenstaaten” geht. Ein neuer Krieg gegen den Irak wird mit Hochdruck vorbereitet. Die ohnehin schon geplante Erhöhung des horrend hohen US-Militärhaushaltes auf die astronomische Summe von 451 Milliarden US-Dollar bis im Jahr 2007 ist geplant. Allein bei den vier Branchenriesen der US-Rüstungsindustrie Lockheed Martin, Northrop Grumman, Raytheon und General Dynamics sind die Aktienwerte seit den Anschlägen zusammen um 44 Prozent gestiegen. Wir wissen also, dass neben der Terrorbekämpfung die neue Phase außenpolitischer Militarisierung durchaus anderen Zwecken dient. Auch den Wohlmeinendsten dürfte inzwischen klar sein, dass die Afghanistan-Inter-vention weniger wegen des “Terrorismus” geführt wurde. Es geht viel mehr darum, eine regionale Vormachtstellung der USA in Zentralasien durchzusetzen und zu sichern. Es gehört dazu, mittelfristig die seit Jahren geplante Öl- und Gaspipeline durch Afghanistan zu ermöglichen. Es gehört auch dazu, durch das “Exempel” an den Taliban andere “Schurkenstaaten” einzuschüchtern und die globale Führungsrolle der USA zu festigen. “Bin Laden” hat dafür nur den willkommenen Anlass geliefert.

Im Gegensatz zu Volmers rhetorischer Behauptung, es ginge ausschließlich um Terrorbekämpfung, redete der Bundeskanzler schon im letzten Oktober offen davon, dass es um die “Enttabuisierung” des Militärischen und des Krieges geht. Und er formulierte eindeutig, dass zukünftige militärische “Interventionen nicht länger wegen der Menschenrechte” erfolgen werden, sondern um “Stabilität und Sicherheit” zu gewährleisten. Krieg soll also wieder zu einem Mittel der Politik werden. “Stabilität und Sicherheit” sind Begriffe, die der Realpolitik nicht die Hände binden, die offen bleiben für fast jede Deutung. Das ist neue deutsche Außen- und Militärpolitik, die auch beabsichtigt, möglichst die Rolle einer Großmacht zu spielen.

Gewaltfreie Aktion und globale Gerechtigkeit

Die Begründung des Einsatzes militärischer Mittel mit “ultima ratio” täuscht auch darüber hinweg, dass die “vorletzten” Mittel bisher kaum genutzt wurden. Das würde voraussetzen, entschieden und mit langfristiger Planung auf den Ausbau einer Alternative zur militärgestützten Sicherheits- und Außenpolitik zu setzen. Diese Alternative würde lauten: Gewalt hinnehmen ohne zurückzuschlagen, aber gleichzeitig nicht vor der Gewalt zurückzuweichen, um sie so zu überwinden. Also kein passives Hinnehmen von Gewalt, denn Gewaltfreiheit ist eine aktive, durch und durch kämpferische Haltung, die vor der Gewalt des Gegners weder flieht noch sich ihr unterwirft. Mahatma Gandhi, Martin Luther King und andere haben bewiesen, dass die gewaltfreie Aktion als Mittel zur Konfliktlösung taugt.

Eine Politik, die auf militärische Drohmittel verzichtet und auf gewaltfreie Aktion und zivile Konfliktbearbeitung setzt, braucht erhebliche finanzielle Mittel. Diese wären aufzubringen, indem der Rüstungshaushalt fortlaufend und erheblich gekürzt wird. Gleichzeitig werden immense Finanzmittel benötigt, um global Armut und Elend zu beseitigen und Gerechtigkeit herzustellen. Ein tiefgreifender Strukturwandel für eine “Globalisierung”, mit der für ausnahmslos alle Menschen ein würdiges, friedvolles Leben möglich gemacht wird, wäre auch ein maßgeblicher Beitrag zur Überwindung des Terrors.

Die Umsetzung einer solchen Politik steht bei keiner wie auch immer zusammengesetzten Bundesregierung auf der Tagesordnung. Das wird noch längere Zeit Realität bleiben. Deshalb wird es weiter ein entschiedenes “Nein” gegenüber der “Friedenspolitik” mit kriegerischen Mitteln geben müssen. Aber dieses “Nein” alleine reicht nicht aus. Und es reicht auch nicht aus, Forderungen an die Partei- und Regierungspolitik zu erheben. Denn damit sich gewaltfreie Politik überhaupt entwickeln kann und eine Chance erhält, ist das systematische Anwenden der gewaltfreien Aktion wichtig. Die gewaltfreie Aktion hat sich in der Geschichte der Bundesrepublik durchaus als wirksames Mittel erwiesen, etwa bei der Verhinderung des Baus von Atomkraftwerken und Wiederaufbereitungsanlagen. Und nicht vergessen werden sollte auch der “gewaltfreie Aufstand” von 1989 in der DDR. Was zuvor undenkbar war, geschah: unblutig wurde von einer unbewaffneten Bevölkerung ein hochgerüstetes, diktatorisches System überwunden.

Anknüpfend an diese Erfahrungen müsste die Entwicklung der Bundesrepublik mit der Zielsetzung der Etab-lierung konstruktiver Alternativen zur Gewalt als Mittel der Konfliktaustragung auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen fortgesetzt werden. Aber wie sagte unser Mitglied, der Friedensforscher Wolfgang Sternstein in seiner Antwort auf Volmer: “Das setzt freilich gesellschaftliche Basisarbeit voraus. Ein harter und undankbarer Job. Man riskiert dabei, gesellschaftlich geächtet und bestraft zu werden, unter Umständen sogar im Gefängnis zu landen.” Liegen in der mangelnden Bereitschaft von uns, diese Härten auf uns zu nehmen, vielleicht und vor allem die Probleme, warum es Gewaltfreiheit so schwer hat, sich gesellschaftlich und politisch durchzusetzen? Jede und jeder von uns ist da gefordert. Gewaltfreie Aktion muss gewagt, eingeübt, trainiert und praktisch angewandt werden - im gesellschaftlichen ebenso wie im persönlichen Bereich. Die Alternative ist die heutige gewalttätige, kriegerische Realität. Wie sagte doch Präsident Bush? “Afghanistan ist erst der Anfang des Krieges…”

Dieser Artikel erschien im Rundbrief des Lebenshauses (Sept. 02) und in fast der gleichen Version unter dem Titel “Die falsche Reaktion” in der Zeitschrift “ZivilCourage. Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus der DFG-VK” Nr. 4, Juli/August 2002.

Veröffentlicht am

09. September 2002

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