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Dreihundert Küsse

Von Uri Avnery, 06.05.2006

SOLLEN WIR mit den guten oder schlechten Nachrichten beginnen? Als unverbesserlicher Optimist lassen Sie mich mit den guten beginnen.

Ich möchte ein altes hebräisches Sprichwort etwas verändert wiedergeben: "Schaut nicht in den Topf, sondern auf das, was nicht drin ist." Avigdor Liebermann ist nicht in der israelischen Regierung.

Er gab sich große Mühe, an Bord des Regierungsschiffes zu gelangen. Er setzte eine fast liberale Maske auf und aß zusammen mit Yossi Beilin, der ihn eine nette Person nannte, einen saftigen Hering. Nach den Wahlen erwähnte Amir Peretz nicht mehr Labors Gelöbnis, nicht neben Liebermann im Kabinett sitzen zu wollen. Es schien fast, als ob es dem brutalen Rassisten gelingen wolle, Legitimität für seine faschistischen Ansichten zu erlangen.

Aber der brutale Wolf hatte nicht mit der Schläue des Fuchses gerechnet. Ehud Olmert wickelte den rohen Hochstapler um seinen kleinen Finger. Im letzten Augenblick wurde Liebermann am Ufer gelassen, der mit sehnsuchtsvollen Augen dem Schiff nachsah, das mit lustig flatternden Fahnen ohne ihn davon segelte.

Wütend warf er seine liebenswürdige Maske weg und verlangte bei einer Rede in der Knesset, die Hinrichtung der arabischen Abgeordneten, die sich mit Mitgliedern der palästinensischen Regierung getroffen hatten. Nach dieser Szene wird sogar Beilin kein Frühstück mehr mit ihm teilen wollen

DIE ZWEITE gute Nachricht ist, dass Shaul Mofaz aus dem Verteidigungsministerium entfernt wurde. Dieser primitive Mensch, der König der "gezielten Tötungen", war vom hohen Turm der Verteidigung in den leeren Brunnen des Transportministeriums geworfen worden. Man kann sich über die Karikatur freuen, die Mofaz zeigt, wie er mit einem Panzer durch Tel Avivs Straßen fährt.

Die Freude mischt sich aber mit tiefen Ängsten. Es ist nicht ganz leicht, sich an die Benennung des "Verteidigungsministers Amir Peretz" zu gewöhnen. Nur wenige Stunden vor der Vereidigung in der Knesset töteten Soldaten einen unschuldigen palästinensischen Taxifahrer durch Schüsse in den Rücken. Am Tag zuvor wurde "versehentlich" eine palästinensische Frau in ihrer Wohnung erschossen. Von jetzt an wird Peretz die Verantwortung für solche Akte tragen, die zu einer täglichen Routine der Besatzung geworden sind. Er hat sich selbst in eine fast unmögliche Situation gebracht. Die nächste Demonstration, die wir abhalten werden, wird wahrscheinlich gegen ihn sein müssen.

DIE DRITTE gute Nachricht ist die, dass dies eine zivile Regierung ist. Die vier Schlüsselfiguren (Ministerpräsident, Verteidigungsminister, Finanzminister und der Minister für auswärtige Angelegenheiten) sind Zivilisten. Zweifellos ein Zeichen von Reife.

Unter den 25 Kabinettsministern sind "nur" zwei Generäle (Mofaz, Binyamin Ben-Eliezer). Und beide sind in rangniederen Positionen. Sogar die Zahl der Shin-Bet-Offiziere im Kabinett ist größer (Gideon Ezra, Avi Dichter, Raffi Eitan) als jene. Doch freuen wir uns nicht zu früh: eine zivile Regierung kann von der Macht der Generäle eingeschüchtert werden und sich gedrängt fühlen, ihre militärische Tüchtigkeit zu beweisen ( wie es im Lied nachklingt: Alles was du kannst, kann ich besser …). Werden diese Zivilisten es wagen, gegen den Rat des Generalstabschefs zu handeln, der an jedem Kabinettstreffen teil nimmt und die Politik im Namen der "Sicherheit" diktiert?

In dieser Regierung sind keine Löwen. Es ist eine Regierung der Füchse, die vom Führer des Rudels geleitet wird. Mit Sharon ist die letzte große Gestalt des 1948 Krieges gegangen. Die Gegenwart des kläglichen Shimon Peres unterstreicht dies. Dies ist eine Regierung von grauen Parteipferden.

In ihr gibt es zwei eklatante Lücken. Olmert machte seinen ersten größeren Fehler, als er in das neue Kabinett kein Mitglied der russisch sprechenden Gemeinde mit einschloss. Eine Million Immigranten aus der früheren Sowjetunion, viele von ihnen mit fanatischem Rassismus, den sie mit sich brachten, werden nun noch weiter in eine Ecke gedrängt. Das ist eine große Gefahr - und eine schlechte Nachricht.

Eine andere Gemeinschaft von 1,25 Millionen wird außerhalb gelassen: die arabischen Bürger. Wie alle ihre Vorgänger ist diese 31. Regierung nach 58 Jahren der Existenz des Staates Israel eine jüdische Regierung und keine israelische. Sie hat kein einziges arabisches Mitglied.

Diese große Gemeinschaft wird also wieder an den Rand gedrängt. Auch das ist eine schlechte Nachricht. Alle Worte Olmerts über Gleichheit der Bürger waren leere Phrasen - sie können dies nicht verdecken.

WAS WIRD also in der Agenda der Olmert-Regierung obenan stehen? Die plausibelste Antwort scheint recht prosaisch zu sein: ihre reine Existenz. Sie ist sich in dem brennenden Wunsche einig, die Amtsperiode von vier ein halb Jahren zu überleben. (Das halbe Jahr ist ein Rest der vorangegangenen Regierungsperiode.)

Dies wurde am lebhaftesten durch die Kussorgie in der Knesset ausgedrückt, als die neuen Minister vereidigt wurden. Solch ein Ausbruch kindischer Freude ist eher für Lotteriegewinner als für Minister typisch, die dazu aufgerufen sind, sich mit schicksalsschweren Problemen zu befassen.

Die erste Knessetvorsitzende, Dalia Itzig, die erste Frau, die diesen Posten besetzt, wurde wie eine Mesusa von allen Ministern geküsst (außer von den Orthodoxen). Danach küssten die neuen Minister sich gegenseitig, alle Knessetmitglieder, denen sie begegneten, umarmten sie herzlich und schlugen ihnen auf den Rücken. Wenn wir annehmen, dass jeder Minister durchschnittlich ein Dutzend Personen geküsst hat, dann waren es etwa 300 Küsse.

Man kann sich eine solche Szene nur schwer in einem anderen Parlament vorstellen, geschweige denn in der ersten Knesset. David Ben-Gurion war kein großer Küsser.

DIE FLAGGE, die vom Mast weht, ist natürlich die der Konvergenz ("Zusammenziehen") Das war und ist Olmerts Wahlspruch. Aber man sollte seinen Atem nicht bis zur Erfüllung anhalten.

Olmert kündigte selbst an, dass vor der Realisierung viel Zeit dem Dialog gewidmet sei. Ein Dialog mit wem? Nun, mit den Siedlern. Und mit den Vereinigten Staaten. Und mit der "Internationalen Gemeinschaft".

Fehlt jemand auf dieser Liste? Nur die Palästinenser. Mit ihnen ist es nicht möglich ( oder notwendig) zu reden - bis sie das Existenzrecht Israels als einen jüdischen Staat anerkennen, alle Verträge der Vergangenheit akzeptieren, mit der Gewalt aufhören und die Waffen der Organisationen konfiszieren. Kurz gesagt: sich bedingungslos ergeben. Und vielleicht noch Mitglied der zionistischen Organisation werden. Olmert ist geduldig. Er ist bereit, zwei Jahre zu warten.

Während dieser zwei Jahre wird von der internationalen Gemeinschaft erwartet, dass sie die "permanenten" Grenzen, wie sie Olmert "einseitig" und nach Belieben festzulegen wünscht, anerkennt - ohne Übereinkunft mit den Palästinensern und ohne mit ihnen überhaupt gesprochen zu haben.

In den zwei Jahren wird die Regierung nichts für den Frieden tun. Im Gegenteil: sie wird die Siedlungsblöcke erweitern, um die Wohnungen für die Siedler vorzubereiten, die dorthin ziehen sollen, wenn sie aus den isolierten Siedlungen weg müssen. Das heißt also: zunächst werden die großen Siedlungen annektiert und erweitert und danach - so Gott will - werden einige kleine Siedlungen aufgelöst. Laut Plan werden alle Siedler auf der andern Seite der Grünen Linie bleiben. Olmert hat schon kurzerhand den Vorschlag zurückgewiesen, dass eine Kompensation für die Siedler gezahlt wird, die jetzt bereit sind, nach Israel zurückzukommen.

UND WAS sind wirklich gute Nachrichten? Diese Regierung spricht öffentlich über die "Teilung des Landes" als eine "Rettungsleine des Zionismus". Sie spricht vom Rückzug aus dem "größten Teil von Judäa und Samaria" und der Auflösung von Siedlungen. Das zeigt eine große Veränderung der öffentlichen Meinung.

Einer der führenden Rassisten in der Knesset, Effi Eitam, schrie: "Es gibt keine jüdische Mehrheit für den Rückzug". Er sollte in die dritte Klasse zurückversetzt werden, um seine Rechenaufgaben zu lernen. Es stimmt, nach dem rassistisch-nationalen Zählen sind nur 58 jüdische Mitglieder der Knesset für den Rückzug (28 jüdische Mitglieder der Kadima, 17 von Labor, 7 Rentner, 5 von Meretz, ein jüdisches Mitglied von Hadash). Aber gegen den Rückzug sind nur 50 jüdische Mitglieder (Likud, Shas, die Orthodoxen, die Lieberman-Anhänger und die Nationale Union) Die restlichen 12 Mitglieder sind Araber, von denen man annimmt, dass sie den Rückzug befürworten (1 von Kadima, 2 von Labor, 2 von Hadash, 3 von Balad, 4 von der Vereinigten arabischen Partei).

Dem entsprechend gibt es in der Knesset nicht nur eine große Mehrheit (70 gegen 50) für die Teilung, aber eben auch eine "Jüdische Mehrheit" (58 gegen 50) das ist ein Erdrutsch in der öffentlichen Meinung - ein Zeichen eines langsamen, aber massiven und anhaltenden Prozesses.

WENIGE GLAUBEN, dass diese Regierung viereinhalb Jahre überdauern wird. Man schätzt allgemein, dass sie nach zwei Jahren zusammenbrechen wird, wenn die "Konvergenz", das Zusammenziehen der Siedler, vorgesehen ist. Zu dieser Zeit wird Shas wahrscheinlich die Regierungskoalition verlassen.

Olmert bittet uns, geduldig zu sein. In Ordnung - wir werden geduldig auf die nächsten Wahlen warten.

Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert

Veröffentlicht am

20. Mai 2006

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