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Tschernobyl - 20 Years After: Wo steht die Anti-Atom-Bewegung?

Von Matthias Eickhoff

1986: Am 26. April explodiert der Reaktorblock 4 im AKW Tschernobyl; Hunderttausende gehen in Westdeutschland auf die Straße; Brokdorf, Wackersdorf, Hamm-Uentrop heißen die Brennpunkte.

2006: CDU-PolitikerInnen fordern im Chor längere Laufzeiten für AKWs, NRW-Wirtschaftsministerin Thoben fordert den Neubau von Hochtemperatur-Reaktoren, das OVG Lüneburg genehmigt das Endlager Schacht Konrad, Siemens baut in Finnland ein neues AKW - Tausende gehen auf die Straße? Das wäre zu hoffen.

20 Jahre seit der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind eine lange Zeit, auch für die Anti-Atom-Bewegung.

1986 erlebte der Kampf gegen die Atomindustrie im Schatten der radioaktiven Wolke eine Renaissance. Überall in der Republik schossen Initiativen wie Pilze aus dem Boden und das Spektrum war vielfältig: radikal-autonome Aktionsgruppen, (Eltern und) Mütter gegen Atomkraft, radikal-gewaltfreie Widerstandsgruppen, Landwirte, bürgerliche Initiativen, …

Gerade diese Heterogenität machte - trotz manch heftiger interner Debatten - die Stärke der sozialen Bewegung aus.

Bundeskonferenzen der Anti-Atom-Bewegung wurden von mehreren Hundert TeilnehmerInnen besucht, eine Konferenz gar vom Freistaat Bayern verboten. Genauso vielfältig wie das Spektrum der Initiativen waren die Aktionsformen: Von der Messung radioaktiver Belastungen auf Spielplätzen und bei Nahrungsmitteln über Büchertische, Infoveranstaltungen und Treckerblockaden bis zum Absägen von Strommasten reichte das Widerstandspotenzial.

Die Systemfrage wurde laut gestellt. Der Staat reagierte zum Teil extrem hart, so dass am Bauzaun von Wackersdorf seitens der Polizei oft mit CS-Gas gegen die Bevölkerung vorgegangen wurde; die Polizeieinsätze forderten sogar Todesopfer unter den DemonstrantInnen. In Hanau rief Robert Jungk auf einer Demo deshalb dazu auf: "Macht kaputt, was euch kaputt macht!"

Im Rückblick mutet all dies an wie der Blick in einen fernen Spiegel, wie Nachrichten aus einer anderen Welt. 20 Jahre später, so scheint es gelegentlich, bestimmen SPD- und CDU-PolitikerInnen die Schlagzeilen und diskutieren "zivilisiert" über die Zukunft der Atomenergie - eine Zukunft, die es nach Tschernobyl eigentlich gar nicht mehr geben dürfte!

Was also hat die Anti-Atom-Bewegung in den letzten 20 Jahren erreicht? Wo hat sie versagt? Was sind die Aufgaben für die Zukunft? Wo liegen die Perspektiven?

Atomindustrie kommt ins Stocken

Zunächst einmal schien die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl kaum Auswirkungen auf die Zukunft der Atomkraft in Deutschland zu haben. Alle AKWs, die im April 1986 noch im Bau waren, wurden auch in Betrieb genommen, sei es Brokdorf, Lingen, Neckarwestheim II oder Isar II. Auch in der DDR setzte die Führung weiter auf Atomkraft. Geplant war der Bau eines AKWs bei Stendal an der Elbe.

Und so stand zu dieser Zeit unmittelbar nach Tschernobyl der Kampf an den Bauplätzen gegen die Inbetriebnahme neuer Anlagen im Vordergrund. Brokdorf und der Bauzaun der Wiederaufbereitungsanlage (WAA) in Wackersdorf wurden zu Kristallisationspunkten. Auch gegen den Versuchsbetrieb des Thoriumhochtemperaturreaktors (THTR) in Hamm-Uentrop gab es größere Proteste (siehe Artikel 20 Jahre nach Tschernobyl von Horst Blume). Doch angesichts der enorm harten staatlichen Repression setzte in der radikalen Anti-Atom-Bewegung schon bald eine Ernüchterung über die begrenzten Möglichkeiten des "Zaunkampfes" ein.

Für eine neue Richtung wurde von dem leider viel zu früh verstorbenen Jens Scheer geworben: "Ran an die laufenden Anlagen - Stade zuerst". Scheer sollte mit seinem Motto leider auf unbeabsichtigte Weise Recht behalten. Stade wurde in der Tat als erstes AKW im Rahmen des "Atomkonsenses" 2003 abgeschaltet - 16 Jahre, nachdem er das AKW in den Blickpunkt rückte. Wenn es in diesem Tempo weiterginge, würde das letzte AKW nicht vor 2100 abgeschaltet …

Aber im Rückblick lässt sich erkennen, dass Tschernobyl auch für die Atomindustrie einen Einschnitt bedeutete. Zwar konnte man die im Bau befindlichen AKWs noch ans Netz bringen, doch längst nicht alles lief nach Plan. So mussten schon in den 1980ern der THTR, die WAA und das AKW Mülheim-Kärlich begraben werden. Es folgten der Schnelle Brüter in Kalkar, die Plutoniumfabrik Hanau und das AKW Würgassen. Ein standortunabhängiges Genehmigungsverfahren für HTR-Module wurde niemals eingeleitet. Und im Westen der Republik wird oft das Ende der acht Reaktoren von Greifswald sowie der Baustopp in Stendal vergessen.

Faktisch bedeutete Tschernobyl in Deutschland den Abschied von den Blütenträumen der Atomindustrie. Vielleicht kam der Industrie Tschernobyl sogar ganz gelegen, denn schon in den Jahren zuvor hatte man auf viele Projekte ganz verzichtet. Niemand sprach mehr von 500 AKWs in Deutschland. Selbst 1986 werden im Heyne-Report "Der Atom-Atlas" aber noch die Standorte Hamm (Druckwasserreaktor), Wyhl, Biblis C, Neupotz, Vahnum, Pfaffenhofen und Borken genannt.

Tschernobyl bewirkte immerhin, dass die Atomindustrie für Neubauten die Vision des "inhärent sicheren" Reaktors erschuf, ein Wunschtraum, der nie umzusetzen ist. Aber selbst den Strategen der Atomgemeinde war klar, dass der Bevölkerung zumindest verbal mehr geboten werden musste.

Und hier erkennen wir in den letzten Jahren eine deutliche Trendwende. Die Diskussion dreht sich nicht mehr um die Sicherheit, sondern nur noch um "billige" Energie, alles andere wird verdrängt. Das heißt, der Tschernobyl-Effekt verblasst langsam. Das kollektive Gedächtnis des global spürbaren Super-GAUs beginnt auch hierzulande seine abschreckende Wirkung zu verlieren.

Atomtransporte statt Zaunkampf

Wie stellte sich die Anti-Atom-Bewegung auf die neuen Gegebenheiten Ende der 80er Jahre ein? Mit dem Aus der WAA und der Inbetriebnahme von Brokdorf waren die zwei großen Bezugspunkte verloren gegangen. An den Standorten begann sich angesichts der Hartnäckigkeit der Atomindustrie Ermattung breit zu machen. Das "Ran an die laufenden Anlagen" war nicht so leicht umzusetzen und versprach definitiv keine schnellen Widerstandserfolge. Zudem lösten sich viele Eltern-Initiativen auf, viele atomkritische Wissenschaftler wurden zu rot-grünen Auftragsgutachtern und die Anti-Atom-Bewegung begann - zahlenmäßig wie in der gesellschaftlichen Breite - wieder zu schrumpfen.

Als Alternative begannen sich immer mehr Initiativen den "weichen Zielen" der Atomindustrie zuzuwenden, vor allem den Atomtransporten. Diese wurden als Schwachstelle erkannt und dementsprechend ins Visier genommen. 1987/88 wurde eine Serie von sechs Autobahntransporten vom Versuchsreaktor Kahl bei Hanau nach Lübeck erstmals von Demonstrationen begleitet. Die Proteste gipfelten in der mehrtägigen Blockade einer Kaserne in Lübeck, wo der Atommüll zwischengeparkt worden war. 1988 gab es in Emden ähnliche Szenen. 1989 wurde eine Neckarbrücke bei Neckarwestheim blockiert.

Ermuntert von den anfänglichen Erfolgen und angespornt durch den notorischen Transnuklearskandal, der 1988 für Schlagzeilen sorgte, wurden die 90er Jahre vom Kampf gegen die Atommüll-Transporte dominiert. Das Wort CASTOR wurde zu einem bundesweit bekannten Begriff - Gorleben und Ahaus wurden als Zwischenlager die Kristallisationspunkte des Widerstandes.

Dieser Kurswechsel kann im Rückblick auf unterschiedliche Weise gedeutet werden.

Zum einen war er sicher Zeichen der Schwäche, weil der eigentliche Betrieb der AKWs nicht mehr in Frage gestellt wurde. Die Bewegung verengte sich thematisch immer stärker. Gleichzeitig kann man aber auch von einem ökonomischen Umgehen mit den geringer gewordenen Kräften sprechen, um durch die gezielten Aktivitäten die Notwendigkeit des Atomausstiegs im öffentlichen Bewusstsein zu halten.

Den größten Erfolg der 90er erzielte die Anti-Atom-Bewegung 1998, als sich die damalige Bundesumweltministerin Merkel unter dem Eindruck stetig wachsender Proteste in Gorleben und Ahaus gezwungen sah, einen Transportstopp für Castor-Behälter zu verhängen. Die Transporte hatten sogar militante Aktionen (Hakenkrallen) wieder populärer gemacht, die den Bahnverkehr teilweise empfindlich störten. Verunreinigungen an den Castoren kamen da als Begründung für den Stopp gerade recht.

Es ist geschichtlich mehr als nur ein Zufall, dass ausgerechnet der erste grüne Bundesumweltminister, Jürgen Trittin, diesen Transportestopp 2001 wieder aufhob. Waren die Grünen aus dem Kampf gegen die Atomindustrie hervorgegangen, so besiegelten sie mit dem "Atomkonsens" deren Fortbestand mindestens für die nächsten 20 Jahre. In den Landesregierungen wirkten sie direkt wie indirekt an der Zementierung der Atomindustrie mit. Zentrale Anlagen wie die Urananreicherungsanlage (UAA) Gronau wurden ignoriert.

Das Verhältnis zu den Grünen war für Teile der Anti-Atom-Bewegung schon immer gespalten. Distanzierte sich der radikale Teil komplett von den Parteien, so setzten manche weiterhin auf das Prinzip Hoffnung.

Im Nachhinein muss es als Fehler angesehen werden, dass wir uns zuwenig in die Verhandlungen zum "Atomkonsens" eingemischt haben. Die Auswirkungen des Deals zwischen Rot-Grün und Atomlobby sind zu groß, als dass wir sie ignorieren könnten. Als "kleineres Übel" sollten wir ihn aber auf keinen Fall sehen.

Perspektiven und Ziele

Und damit sind wir in der Gegenwart angelangt. Mit dem im März 2006 gefällten OVG-Urteil zum Schacht Konrad hat die Auseinandersetzung um die Zukunft der Atomenergie eine neue Dimension erreicht. Nach dem Kampf an den Bauzäunen, dem Ausbeißen an den laufenden Anlagen, dem "Trainstopping" der letzten Jahre und dem Kampf gegen die Zwischenlager sind wir nun bei den Endlagern angelangt.

Für die Zukunft ergeben sich deshalb mehrere Ansatzpunkte, um der "Renaissance der Atomenergie in Deutschland" einen Riegel vorzuschieben. Der sofortige Atomausstieg muss dabei als oberstes Ziel bestehen bleiben:

Die Anti-Atom-Bewegung darf sich nicht allein auf Gorleben konzentrieren. Die Atomanlagen müssen in ihrer gesamten Breite landauf, landab thematisiert werden. Ist die Anti-Atom-Bewegung nur an einem Ort wirklich erfahrbar, spielt dies der Atomindustrie in die Hände, die dann den Atomkonflikt örtlich eingrenzen und somit besser befrieden kann.

Das Endlager Schacht Konrad muss verhindert werden. Hier muss in kürzester Zeit Widerstand spürbar werden. Wie wäre es mit einer Großdemo im Herbst?

Vielleicht sollte Jens Scheers altes Motto noch einmal neu aufgelegt werden, und zwar: "Ran an die laufenden Anlagen - Biblis A und B zuerst!" Die Auseinandersetzung um Biblis wird bis zu den nächsten Bundestagswahlen zum symbolischen und realen Schauplatz für die Zukunftsfähigkeit der Atomindustrie werden. Bleibt Biblis A am Netz, wäre dies eine klare Niederlage der Anti-Atom-Bewegung.

Die erfolgreiche CASTOR-Kampagne der Anti-Atom-Bewegung sollte auf Urantransporte von und nach Gronau ausgeweitet werden. Dazu ist eine stärkere internationale Kooperation nötig als bisher. Die Zusammenarbeit mit französischen, niederländischen, russischen und anderen internationalen Gruppen muss insgesamt ausgebaut werden, will die deutsche Anti-Atom-Bewegung nicht im Provinzialismus erstarren.

Die Anti-Atom-Bewegung braucht neue BündnispartnerInnen. Wo schon das Netzwerk der "Kinder von Tschernobyl" vielen Initiativen gar nicht mehr bekannt ist, bleiben Kooperationsmöglichkeiten über den eigenen Tellerrand hinaus zu oft unausgelotet. Eine Bewegung, für die, zugespitzt gesagt, der Wald der Göhrde zur Nabelschnur des politischen Kampfes geworden ist, isoliert sich selbst, und sie gibt ihren gesellschaftsverändernden Charakter auf. Die Anti-Atom-Bewegung braucht dringend wieder eine größere gesellschaftliche Breite.

Um dies zu erreichen, müsste sie auch ihre derzeitige Zersplitterung überwinden. Dass es nicht gelang, für den 20. Tschernobyl-Jahrestag ein bundesweites Widerstandskonzept zu verabschieden, ist ein schlechtes Zeichen.

Dies ist umso fataler als der politische und gesellschaftliche Spielraum für die Anti-Atom-Bewegung eigentlich größer ist, als es auf den ersten Blick scheinen mag.

Der Spielraum der Anti-Atom-Bewegung ist größer, als es derzeit aussieht. Im Münsterland konnten die Initiativen anlässlich der Dresden-Ahaus-Castoren und der Urantransporte nach Russland die Erfahrung machen, dass sich eine Bewegung auch wieder neu aufbauen lässt. Das gilt es auch an anderen Standorten umzusetzen.

Startpunkt für eine neue Offensive der Anti-Atom-Bewegung sollte der 20. Tschernobyl-Jahrestag werden. Wir werden in der Öffentlichkeit daran gemessen werden, wie viele Menschen wir rund um den 26. April auf die Straße bringen. Das breite Spektrum an angekündigten Kundgebungen und Demos ist ermutigend. Jetzt kann das Motto nur sein:

"Raus auf die Straße - sofortige Stilllegung aller Atomanlagen weltweit!"

Quelle: graswurzelrevolution 308 april 2006.

Veröffentlicht am

24. April 2006

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